Acting Together: Political and Economic Spaces of Collective Action in Modern Rural Europe, ca. 1850-2000

Acting Together: Political and Economic Spaces of Collective Action in Modern Rural Europe, ca. 1850-2000

Organisatoren
Anette Schlimm, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.02.2017 - 24.02.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Timo Luks, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die von Anette Schlimm organisierte Tagung „Acting Together: Political and Economic Spaces of Collective Action in Modern Rural Europe, ca. 1850-2000“ widmete sich einem Problemfeld, das für eine Erforschung der Geschichte ländlicher Räume von zentraler Bedeutung ist: der Historisierung der Idee des ländlichen Raums als einer ‚harmonisch-gemeinschaftlichen‘ Ordnung sowie der Analyse und Kritik des Konzepts der Ländlichkeit („rurality“). Der Fokus auf verschiedene Formen kollektiven Handelns diente dabei als Hebel, um Konflikthaftigkeit, konkrete Konfliktlinien sowie Prozesse der Inklusion und Exklusion herauszuarbeiten, die darüber entscheiden, wer jeweils unter welchen Voraussetzungen zu politischem Handeln befähigt ist. Daneben zielte die Frage nach einer ‚Politisierung des ländlichen Raums‘ explizit darauf, politische und ökonomische Praktiken systematisch aufeinander zu beziehen. Die kollektive Bewirtschaftung agrarischer Nutzflächen als wichtiger Teil ländlicher Subsistenzweisen lässt sich nicht trennen von Fragen etwa der politischen Teilhabe.

Im ersten Panel stand die konflikthafte Nutzung der „commons“ zur Diskussion. NADINE VIVIER (Le Mans) präsentierte zwei französische Fallstudien aus dem 19. Jahrhundert und fokussierte dabei vor allem auf die Spannungen, die sich aus dem hegemonialen Konzept individuellen Privateigentums für die Bewirtschaftung der „commons“ ergaben. Vivier skizzierte vielschichtige Konfliktlagen: einerseits zwischen Gemeinderäten und den Präfekturen als Vertreter des Zentralstaats vor Ort, aber auch als Vermittler zwischen zentralstaatlichen und kommunalen Interessen; andererseits zwischen verschiedenen sozialen Gruppen in den Gemeinden. Die Verwandlung der „commons“ in Privateigentum war selbst angesichts massiver administrativer Bemühungen, in denen Modernisierung des ländlichen Raums oft Privatisierung des Gemeineigentums hieß, kein zwangsläufiges Schicksal. Ihr Gelingen oder Misslingen hing ab von ökologischen Gegebenheiten, der Art der ökonomischen Nutzung, aber auch dem Ausmaß sozialer Spannungen vor Ort (etwa dem Grad der Monopolisierung der Nutzung durch wenige Familien). JEREMY BURCHARDT (Reading) diskutierte anhand einer exemplarischen Auseinandersetzung im südenglischen Parish Bucklebury in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Aufstieg der Idee der „rural preservation“. Burchardt lenkte die Aufmerksamkeit, etwas zugespitzt, auf einen Fall früher Gentrifizierung, in dem unterschiedliche Vorstellungen von Bewahrung, Bewirtschaftung und Nutzung des weitläufigen „Bucklebury Common“ aufeinanderstießen. Die kollektiven Bemühungen von Angehörigen des wohlhabenden Bürgertums, die Bucklebury entweder als Ausflugsziel entdeckten oder sich gleich dort niederließen, zielten unter dem Schlagwort der Bewahrung der Landschaft und entlang einer bestimmten Vorstellung der English Countryside darauf, den ländlichen Raum zu einem „residential and recreational disctrict“ der oberen Mittelschicht umzugestalten – und diese Bemühungen, stießen mit etablierten Formen der Nutzung zusammen, die eher pragmatisch waren und für die der ökonomische Nutzen der Wiesen, Felder und Wälder eben nicht primär darin lag, den Wert von Immobilien zu steigern.

UTA BRETSCHNEIDER (Veßra) und LEEN VAN MOLLE (Leuven) lenkten die Aufmerksamkeit im zweiten Panel auf Formen kollektiver Produktion bzw. die aus der Position agrarischer Produzenten resultierenden Protestformen. Uta Bretschneider resümierte die Geschichte der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR und hob dabei vor allem auf die Bedeutung des bäuerlichen Ideals ab, das als Kollektivierungshindernis wirkte. Einerseits war das Effekt unterschiedlicher Produktionsformen, andererseits aber auch des Selbstverständnisses der Akteure und dessen Nachwirkungen im kollektiven Gedächtnis. Leen van Molle kontrastierte die erstaunliche und signifikante Abwesenheit von Bauernunruhen in Belgien gegenüber nahezu allen anderen europäischen Ländern. Der Vortrag präsentierte zum einen ein Inventar der spärlichen Zeichen bäuerlichen Protests in Belgien, zum anderen einen Erklärung für diesen Befund. Verantwortlich dafür seien die kurze Spanne, in der der Übergang zur Industrialisierung bewältigt wurde, sowie die im europäischen Vergleich sehr frühe und umfangreiche Suburbanisierung, vor allem aber die relativ frühe Herausbildung einer Art ‚Verbändedemokratie‘, das heißt in diesem Fall: die erfolgreiche Monopolisierung kollektiver Interessenvertretung durch den Bauernverband. Das ermöglichte zwar eine Geltendmachung bestimmter Anliegen in der politischen Arena, ging aber einher mit einem engmaschigen, disziplinarischen ‚Monitoring‘ der Bauern durch den Verband, das jedwede Chance auf Protest jenseits der ‚verbändedemokratischen‘ Bahnen im Keim erstickte.

Das dritte Panel beschäftigte sich mit Formen der Wissensproduktion im und über den ländlichen Raum. DIETLIND HÜCHTKER (Leipzig) diskutierte, entlang der Interpretationslinie der ‚Verwissenschaftlichung des Sozialen‘, die Problematisierung der ‚ländlichen Jugend‘ in der polnischen Sozialforschung nach dem Zweiten Weltkrieg. Zentraler Fluchtpunkt der im Vortrag analysierten empirischen Studien war die Frage nach dem Verhältnis Jugendlicher aus ländlichen Umgebungen zur modernen Gesellschaft, die wesentlich mit Urbanität identifiziert wurde. Hüchtker zeigte unter anderem auf, dass und wie bestimmte Formen (abweichenden) jugendlichen Verhaltens in den 1950er- und 1960er-Jahren in unterschiedlicher Weise als Ausdruck einer Migrationsbewegung vom ländlichen Raum in die Städte gefasst wurden – mithin nicht (mehr) als eine jugendliche Subkultur, sondern als eine Modernisierungsfolge und -begleiterscheinung. ANETTE SCHLIMM (München) ging der Frage nach, wie administratives und politisches Wissen über ‚Landgemeinden‘ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Wahrnehmung und den Umgang mit dem ländlichen Raum beeinflusste. Schlimm arbeitete zwei Modi des Wissens heraus: Die im 19. Jahrhundert hegemoniale Konzeption der Gemeinde adressierte diese als ökonomische Korporation, das heißt: als ‚sozialen Körper‘, dessen wesentliche Funktion in der Versorgung seiner Angehörigen bestand und der sich aus Wirtschafts- bzw. wirtschaftenden Subjekten zusammensetze. Mit dem beginnenden 20.Jahrhundert gewannen dagegen politische Konzepte an Bedeutung. Demokratisierung und ‚Gouvernementalisierung‘ der ländlichen Gemeinden veränderten die Vorstellungen von Bürgerschaft, Partizipation usw. nachhaltig. Freilich verschwand die traditionelle Idee der Gemeinde als einer Versorgungseinrichtung, die vor allem mit den ökonomischen Interessen der bäuerlichen Schichten identifiziert wurde, nicht, sondern wurde in politisierter Fassung zum Schlagwort zunehmend konservativer Vorstellungen vom ländlichen Raum.

IRINA MARIN (Wien) und PETER MOSER (Bern) gingen im vierten Panel verschiedenen Formen kollektiven Handelns und den jeweiligen Akteuren nach. Marins Vortrag zum Bauernaufstand in Rumänien im Jahr 1907 zeichnete die Dynamik einer gewaltsamen Erhebung im ländlichen Raum nach und fokussierte dabei auf die Bedeutung von Kommunikationskanälen für kollektives Handeln. Die ‚Gerüchteküche‘, also eine für vornehmlich ‚mündliche Gesellschaften‘ charakteristische und bedeutsame Form der Kommunikation, erwies sich dabei nicht nur als entscheidender Motor der Mobilisierung, sondern zudem als plausibles Erklärungsmuster für die Transformation von Beschwerden und Unzufriedenheit in eine offene Rebellion sowie deren Ausbreitung. Marin rekonstruierte zu diesem Zweck die Orte des Informationsaustauschs und der Begegnung der Bewohner verstreuter Güter und Dörfer (Viehmärkte, Messen, ironischerweise aber auch Begegnungsmöglichkeiten, die der Staat im Bemühen um Modernisierung und Zentralisierung geschaffen hatte: das Militär, überregionale Gerichte und Behörden usw.). Im Zusammenspiel dieser Kommunikationskanäle kursierten nicht nur Informationen über die Ereignisse andernorts, sondern auch Gerüchte und Mythen (zum Beispiel über revolutionäre Studenten als Unterstützer und heldenhafte Anführer), die Marin nicht als Zeichen von Irrationalismus, Leichtgläubigkeit und Aberglaube seitens der bäuerlichen Akteure, sondern als effektive Strategie der Selbstermächtigung und Mobilisierung deutete. Peter Moser rückte dagegen anhand dreier biographischer Skizzen die Frage individueller Handlungsspielräume und Handlungsstrategien von Frauen im ländlichen Raum in den Blick. Am Beispiel von Augusta Gillabert-Randin, Elizabeth Bobbett und Mina Hofstetter diskutierte er einerseits die Gründe und andererseits die konkreten Formen individuellen Engagements für Agrarreformen oder Frauenwahlrecht. Mosers Vortrag unterstrich die Notwendigkeit, sehr genau nicht nur individuelle Motive, sondern vor allem die jeweils verfügbaren Ressourcen herauszuarbeiten, die über Gelingen oder Scheitern einer Karriere als Aktivist/in entscheiden.

Im fünften Panel widmeten sich JULIA VAN LESSEN (Mainz) aus sozialgeographischer und MANUEL TRUMMER (Regensburg) aus kulturanthropologischer Perspektive der „Produktion des Raums“ (Henri Lefebvre), konkret: der Wahrnehmung und Erschließung des ländlichen Raums. Beiden Vorträgen ging es um die Frage, wie bestimmte Vorstellungen von Ländlichkeit erzeugt und adaptiert werden. Julia van Lessen präsentierte einige Ergebnisse ihrer qualitativen Studie zu ‚Zugezogenen‘ in der Uckermark und konnte zeigen, wie ‚Landleben‘ mit Vorstellungen von ‚Gemeinschaft‘ (und eben nicht landwirtschaftlicher Produktion o.ä.) identifiziert und so zur Verkörperung der eigenen Vorstellungen vom ‚Guten Leben‘ wurde, die dann vor Ort in verschiedene, vermeintlich gemeinschaftsstiftende Projekte (z.B. Kindergärten und Kirchenchöre) übersetzt werden konnten. Manuel Trummers Beitrag diskutierte verschiedene Heimatprogramme des Bayerischen Fernsehens, befragte diese aber nicht nur hinsichtlich ihrer jeweiligen Repräsentation ländlicher Räume, sondern analysierte sie als Form von „visual governance“. Die mediale Vermittlung ganz bestimmter Bilder von Ländlichkeit kann so als eine Strategie der Umgestaltung ländlicher Räume interpretiert werden, die sich von administrativen und politischen Zugriffen unterscheidet, sie unterstützt oder – teilweise – ersetzt.

In zahlreichen Beiträgen wie auch der Abschlussdiskussion wurde erstens sehr deutlich gemacht, dass eine Erforschung des ländlichen Raums gut beraten ist, vorsichtig mit der Kategorie der Ländlichkeit umzugehen. Einerseits wurde bemerkt, dass der darin implizite Verweis auf die Kategorie der Urbanität eine Dichotomie eröffne, die analytisch nur wenig produktiv sei. Andererseits, und das zeigten zahlreiche Fallstudien, suggeriere der Begriff eine Abgeschlossenheit und Homogenität des ländlichen Raums, die so zu keiner Zeit existierte. Demgegenüber wurde im Verlauf der Tagung eine Perspektive entwickelt, die Ländlichkeit als zeitgenössisches Wahrnehmungsmuster analysiert, dessen Effekt darin besteht, den ländlichen Raum auf unterschiedliche Weise mit Bedeutung aufzuladen. In dieser Perspektive ist dann – vor allem für das 20. Jahrhundert – auffällig, dass landwirtschaftliche Produktion in jüngeren Vorstellungen von Ländlichkeit immer weniger eine Rolle spielt und der ländliche Raum stattdessen zu einem ‚Sehnsuchtsort‘ gemacht wird. Die Art und Weise, wie gestaltend und verändernd auf den ländlichen Raum eingewirkt wird, verschiebt sich mit diesem Wahrnehmungswandel erheblich.

Zweitens lenkten nahezu alle Vorträge und Diskussionsbeiträge die Aufmerksamkeit auf Zwischeninstanzen, Mediatoren, Übersetzungsleistungen usw. Damit verbunden war die Aufforderung, konkret herauszuarbeiten, welche Räume und Situationen jeweils als empirisch ‚dicht‘ zu beschreibende ‚Kontaktzonen‘ fungierten, in denen sich Akteure begegnen, die in ganz unterschiedliche Beziehungsgeflechte eingebunden sind und deren Rationalitäten nicht deckungsgleich sein müssen. Diese Perspektive, und das scheint entscheidend zu sein, ermöglicht es, sich von nur bedingt produktiven Dichotomien (Zentralstaat vs. Gemeinde; global bzw. national vs. lokal usw. zu verabschieden).

Drittens wurde immer wieder problematisiert, was in historischer Perspektive überhaupt unter kollektivem Handeln verstanden wird. Die einzelnen Vorträge präsentierten mitunter sehr unterschiedliche Praktiken, die sich nicht ohne weiteres auf einen einheitlichen Begriff bringen lassen. Das Spektrum umfasste ‚klassische‘ Formen der Interessenpolitik (Petitionen, Lobbyarbeit, Pressekampagnen usw.), Widerstand und Protest (von alltäglichem Eigensinn bis zur offenen Revolte), aber auch reformerischen Aktivismus. Wenn „collective action“ freilich einen spezifischen Handlungsmodus bezeichnen und dem Konzept eine gewisse analytische Schärfe eignen soll, dann sollte damit nicht jeder Vorgang bezeichnet werden, an dem mehr als nur ein Akteur beteiligt ist. Nötig ist vor allem eine Abgrenzung von Formen der Kooperation, die unter den Bedingungen einer modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft der Normalfall sind. In einem strikten Sinn ist kein Handeln – als soziales Handeln – eine individuelle Angelegenheit. Eine Möglichkeit, einen kohärenten Begriff kollektiven Handelns zu entwickeln, bietet der Rückgriff auf die sozialhistorische Protestforschung, etwa in der Tradition von Edward P. Thompson oder Eric. J. Hobsbawm (einige der Vorträge bewegten sich, freilich eher implizit, innerhalb dieses Rahmens). Eine andere Möglichkeit wäre die Auseinandersetzung mit jüngeren Ansätzen, etwa aus dem Bereich der politischen Theorie, die – wie unlängst Judith Butler1 – das Augenmerk auf die Bildung eines politisch handelnden (Kollektiv-)Subjekts „durch Akte der Selbstbezeichnung und Selbstversammlung“ (Butler) lenken. Die Forschungsperspektive könnte dann lauten, nicht ausschließlich danach zu fragen, wie vorab definierte und identifizierte Gruppen (gemeinsam) handeln, sondern die beobachteten Praktiken dahingehend zu analysieren, ob und wie sie Erfahrungen von Kollektivität erzeugen.

Konferenzübersicht:

Einführung
Moritz Baumstark; Anette Schlimm

Panel I: The Commons: Conflicts and Collectivity

Nadine Vivier: Common Property in 19th Century France: Local Resistances to Governmental Decisions
Jeremy Burchardt: Preservation, Class and Community: A Case Study of the 'Battle of Bucklebury Common', 1925-1947

Panel II: Producing Collectivity

Uta Bretschneider: Agricultural Cooperatives. Collective Work in Rural Areas of the GDR, 1952–1989
Leen van Molle: “Un pays si tranquille”. Spaces and Faces of Rural Protest in Belgium, 1911-1971

Panel III: Knowledge of (Rural) Collectivities

Dietlind Hüchtker: Rural Youth in Empirical Social Research. The Example of the Polish People’s Republic
Anette Schlimm: The Economy of Rural Municipalities. Political and Administrative Knowledge since the Second Half of the 19th Century

Panel IV: Collective Action and Its Activists

Irina Marin: Explosive Grievances: Rumour Mills, Communication Channels and Collective Action during the 1907 Peasant Uprising in Romania
Peter Moser: The Female Individual in Rural Collective Actions (20th Century)

Panel V: Collectivity and Rurality

Julia van Lessen: Community as a Dimension of Good Rural Life
Manuel Trummer: Visions of Bavaria. The Current Visual Governance of the Rural Space by the Bayerisches Fernsehen (BR)

Anmerkung:
1 Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016.