Neue Forschungen zu hagiographischen Fragen

Neue Forschungen zu hagiographischen Fragen

Organisatoren
Arbeitskreis für hagiographische Fragen, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.03.2017 - 01.04.2017
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Von
Stephan Bruhn / Fiona Fritz, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Vom 30. März bis 1. April 2017 fand eine Tagung des Arbeitskreises für hagiographische Fragen in Kooperation mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart statt, auf welcher laufende Projekte und Qualifikationsarbeiten, die sich mit hagiographischen Themenstellungen in einem weiten Sinne befassen, vorgestellt und diskutiert wurden. Diese regelmäßig stattfindenden Tagungen sind bewusst als niederschwellige und thematisch offen gehaltene Plattform konzipiert, welche dem interdisziplinären Austausch und der Vernetzung von Nachwuchswissenschaftler/innen und etablierten Forscher/innen gleichermaßen dient und so die Vielfalt der aktuellen Forschung aufzeigt.

DANIELA BLUM (Tübingen) eröffnete die Tagung mit der Vorstellung ihres Post-Doc-Projekts, in dem sie sich mit der Repräsentation theologischer Konzepte in der lateinischen Hagiographie aus dem Bistum Lüttich sowie der Region von Südfrankreich bis Zentralitalien um 1200 befasst. Für diese Untersuchung zog sie die Heiligen Ida von Nivelles, Maria von Oignies sowie Arnulf von Villers heran und bearbeitete vier Fragekomplexe: Zunächst ging sie den Fragen nach, inwieweit Viten erstens scholastische Impulse zu theologisch umstrittenen Themen wie Beichte und Kommunion verbreiten konnten oder zweitens Positionierungen zu zeitgenössischen Häresien beinhalteten. In den Beschreibungen des Verhältnisses von Gott zu Mensch erkannte Blum drittens anthropologische Fragen, die in den Viten thematisiert werden. In einem letzten Schritt untersuchte sie anhand der Darstellung religiöser Selbstpraktiken die Praxeologie christlicher Lebensformen. Ihre Auswertung der ausgewählten Heiligenviten machte deutlich, wie stark die Darstellungsweisen und Bewertungen von Askese sowie Selbstkasteiung zu dieser Zeit variieren konnten.

CLAUDIA ALRAUM (Erlangen-Nürnberg) eröffnete den zweiten Tagungstag mit der Vorstellung ihres laufenden Post-Doc-Projektes zur Wahrnehmung und Verehrung von Aposteln im Frühmittelalter. Ausgehend von dem Befund, dass Apostelkulte in der Forschung bisher vor allem regional oder lediglich in Bezug auf einen einzelnen Heiligen untersucht worden sind, sprach sich Alraum für eine „apostelübergreifende“ Perspektive aus, wobei sie den Fokus zugleich von der Kultforschung im engeren Sinne auf die weiterzufassende Wahrnehmung der Apostel verschob. Anhand unterschiedlicher Quellenbeispiele aus Rom, auf dessen Raum Alraums Untersuchungen fokussiert sind, stellte die Vortragende die wachsende Bedeutung einzelner Apostelfiguren zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert heraus. Dieser Umstand ließe sich eventuell als Ausdruck einer ersten „Apostolisierung“ werten, die in der Forschung eigentlich erst für das 8. und 9. Jahrhundert angenommen wird.

Mit ihrem Vortrag zur Multifunktionalität zweier lateinischer Viten aus dem Skandinavien des 12. Jahrhunderts gab FIONA FRITZ (Kiel) einen Einblick in ihr Dissertationsprojekt. Sie untersuchte die Viten des norwegischen Königsheiligen Olaf, die Passio Olavi, und des dänischen Königsheiligen Knut, die Gesta et Passio, und zeigte, welche Funktionen diese Viten in verschiedenen Kontexten haben konnten. So konnten sie neben der Konstruktion der Heiligen auch der Dynastieetablierung, der Stärkung kirchlicher Strukturen, der Erbauung sowie der Unterhaltung dienen. Mit einem methodischen Ansatz, der auch Erkenntnisse aus der linguistischen Genreanalyse, der Erzähltheorie und der Rhetorik umfasst, machte sie deutlich, wie diese Multifunktionalität auf textlicher Ebene realisiert wurde.

STEFAN ALBRECHT (Mainz) stellte anhand des sogenannten „eigentlichen Synaxars“ von Konstantinopel sein Projekt vor, welches sich der Kartierung der spirituellen Raumbezüge im byzantinischen Reich in Form einer digitalen Datenbank widmet. Albrecht konstatierte dabei, dass es sich beim Synaxar um eine sehr facettenreiche Quelle handle, die in der Byzantinistik zwar durchaus häufig zu ganz unterschiedlichen Themenstellungen konsultiert, aber nie zur Gänze gewürdigt worden sei. Diesem selektiven Interesse stellte der Vortragende seinen eigenen Zugang gegenüber, der das Synaxar als Träger der Hagiotopographie des byzantinischen Reiches wertet und die dort vermittelten Informationen einerseits in Form einer Datenbank zugänglich machen, anderseits hinsichtlich der in ihnen greifbaren Raumbeziehungen und Identitätkonstruktionen auswerten will.

In ihrem Vortrag zu Darstellungen früherer Geburten in der jainistischen Hagiographie weitete ANNA AURELIA ESPOSITO (Würzburg) die Perspektive auf nichtchristliche Traditionen aus. Nach einer Kurzvorstellung des Jainismus, der ungefähr im 5. Jahrhundert nach Christus im heutigen Nordindien entstand, erläuterte sie die jainistischen Vorstellungen von Reinkarnation. Reinkarnationen waren jeweils durch positives wie negatives Karma beeinflusst. Diese Ideen ließen sich auch in hagiographischen Texten zu bedeutenden Mönchen des Jainismus ab dem 12. Jahrhundert fassen. Am Beispiel der Texte zu Rashaba und Mahāvira zeigte Esposito, welche Bedeutung der Darstellung früherer Geburten bzw. Leben zukam. Neben der Funktion der moralischen Erziehung sollten die nicht-teleologische Darstellung und Verflechtung früherer Leben der Protagonisten durch ihre chaotische Struktur das Chaos des Seins reflektieren. Durch diese Dekonstruktion der Welt solle die Wertlosigkeit materieller und persönlicher Bindungen betont werden.

KATHARINA GAHBLER (Bonn) stellte einen Ausschnitt aus ihrem Dissertationsprojekt zu Darstellungsweisen von Sarazenen in hagiographischen Quellen des 10. Jahrhunderts vor. Hierfür zog Gahbler Quellen aus dem Umfeld Ottos des Großen heran. Anhand der Vita Johannes Gorziensis von Johannes von St. Arnulf sowie der Pelagius-Vita der Hrotsvit von Gandersheim zeigte sie Prozesse des Othering in der Darstellung der Sarazenen. Die Darstellung der Sarazenen bei Hrotsvit sei statisch und von deutlicher Abgrenzung geprägt, was es argumentativ ermöglichte, den Tod des Pelagius als Martyrium darzustellen. Im Unterschied dazu zeigte Gahbler, wie im Verlauf der Erzählung der Gesandtschaftsreise des Johannes von Gorze nach Córdoba die Bewertung von Sarazenen dynamischer angelegt war: Der Kalif von Córdoba Abd ar-Rahman III. wurde zunächst als ungläubiger Tyrann gezeichnet. Diese Darstellung wird allerdings später zunehmend von positiven Eigenschaften des Herrschers überlappt. Darin sah Gahbler den Versuch, den Kalifen als Gesprächspartner zu etablieren.

Mit einer exemplarischen Quellenanalyse stellte FABIAN SIEBER (Erfurt) einen Teil seines Post-Doc-Projekts vor. Als Quellengrundlage diente die Vita der Maria von Ägypten, in der beschrieben wurde, wie Maria ihr Leben als Prostituierte aufgab, in der Wüste als Eremitin jahrelang Buße tat und nach ihrem Tod als Heilige verehrt wurde. Der Fokus Siebers lag dabei weniger auf hagiographischen Vorlagen als auf der Verarbeitung von biblischen Anklängen, vor allem in Form des Bildes der heiligen Sünderin. Die Erzählung von Rahab von Jericho, einer alttestamentlichen Prostituierten, die den Israeliten bei der Einnahme Jerichos half, wurde so zum Sinnbild der reuigen Sünderin. Die Wirkmacht dieses Bildes zeigte Sieber in den Parallelen der Geschichte Rahabs von Jericho zur Legende der Maria von Ägypten: Aus unreinen Prostituierten wurden heilige Sünderinnen, also reine Glieder des auserwählten Volkes.

SABRINA SPÄTH (Nürnberg) gab einen ersten Einblick in ihr jüngst begonnenes Dissertationsprojekt, in welchem sie die Hagiographie und Heiligenverehrung auf der iberischen Halbinsel im Mittelalter untersucht. Anhand zweier Beispiele – dem Dossier um den Heiligen Isidor von Sevilla einerseits und den Berichten zur Arca Santa andererseits – problematisierte Späth im Rekurs auf den Ansatz der réécriture die Meistererzählungen der bestehenden Forschung, welche von einer zu starken Dichotomie zwischen einem christlichen Norden und einem muslimischen Süden geprägt seien. Insbesondere mit Blick auf die Interpretationsansätze des Neogotismus und der wachsenden Europäisierung der Halbinsel schlug Späth anhand der Hagiographie eine neue Einordnung der Befunde in Form eines Phasenmodells vor, welches sowohl durch das Aufgreifen (kontinental-)europäischer Traditionen als auch durch interne Ausdifferenzierungsprozesse gekennzeichnet sei.

Einen Teilaspekt seines Habilitationsprojektes stellte BENJAMIN MÜSEGADES (Heidelberg) vor, welches sich mit den Formen und Funktionen von Heiligenkulten in städtischen Kontexten in vergleichender Perspektive zwischen Lincoln und Speyer auseinandersetzt. Er betonte dabei die starke Fokussierung der bisherigen Heiligenforschung, die sich dem Phänomen vor allem in regionalen Untersuchungen und Studien zu einzelnen Heiligenfiguren genähert hätte. Dem stellte Müsegades seinen eigenen Ansatz gegenüber, welcher das Zusammenspiel unterschiedlicher Kulte im klar abgrenzbaren städtischen Raum in einem deutsch-englischen Vergleich in den Blick nimmt. Anhand der Beispiele von Annen- und Nikolauskult zeigte der Vortragende dabei die Entwicklungen und Konjunkturen in der Kultpraxis auf, beleuchtete die unterschiedlichen Akteursgruppen, von denen die Verehrung getragen und genutzt wurde, und konturierte so die unterschiedlichen Funktionalisierungen der Kulte in den betrachteten Städten.

Im letzten Vortrag der Tagung widmete sich EVA-MARIA BUTZ (Dortmund) den möglichen Funktionen von christlichen Namengraffiti, wobei sie den Fokus auf Rom mit einigen ergänzenden Perspektiven auf das fränkische Reich legte. Butz hinterfragte dabei gängige Theorien zum Einsatz von Graffiti, welche diese vor allem als kommunikative Akte zwischen Personen werten. Gerade mit Blick auf Kultstätten von Heiligen sei dieser monokausale Erklärungsansatz zu modifizieren, da Namenritzungen hier auch dazu dienen konnten, körperliche Abwesenheit durch die Nennung des Namens zu überwinden. Die Graffiti würden ganz unterschiedliche Aspekte der Verehrungspraxis widerspiegeln und so die Multifunktionalität von Räumen unterstreichen. In Anlehnung an die Memoria-Forschung betonte Butz dabei zugleich, dass der kommunikative Aspekt vor allem auf die transzendente Ebene des Gedenkens bei Gott und den Heiligen fokussiert war. Im Mittelpunkt stand somit nicht die Kommunikation mit der Gemeinde und dem Diesseits, sondern vielmehr die Anrufung Gottes zur Sicherung des Seelenheils.

Die Veranstaltung wurde durch eine Diskussion abgeschlossen, in der über die zukünftige Ausrichtung der Tagung beraten wurde. Dabei stellten die Referentinnen und Referenten vor allem die Offenheit der Zugänge und den Facettenreichtum der Beiträge heraus, welche das Format in besonderer Weise auszeichnen würden. Eine thematische Engführung sei vor diesem Hintergrund nicht erstrebenswert. Zukünftig sollen noch stärker andere Präsentationsformate jenseits klassischer Vorträge in das Repertoire der Tagung aufgenommen werden, um die thematische Vielfalt um eine mediale Komponente zu ergänzen.

Den Ergebnissen der Schlussdiskussion ist hinsichtlich der methodischen und inhaltlichen Vielfalt der Beiträge unumschränkt zuzustimmen. Gerade durch das breite Spektrum der Vorträge verdeutlichte die Tagung, wie ertragreich Untersuchungen zu hagiographischen Fragen sind und wie fruchtbar dieses Arbeitsfeld trotz einer langen Forschungstradition weiterhin ist. Der rege Austausch und die Diskussion der Forschungsfragen soll 2018 auf einer größeren Tagung des Arbeitskreises vom 26.–28.4.2018 in Weingarten mit dem Thema "Der Wert des Heiligen zwischen materiellen und spirituellen Vorstellungen" fortgesetzt werden.

Konferenzübersicht:

Klaus Herbers (Erlangen) / Petra Kurz (Stuttgart / Rottenburg): Begrüßung

Daniela Blum (Tübingen): Heil und Lebensform. Theologische Konzepte in Viten um 1200

Claudia Alraum (Erlangen-Nürnberg): Apostelverehrung im frühmittelalterlichen Rom. Kultmanifestationen und Funktionen

Fiona Fritz (Kiel): Von Erbauung bis Dynastieetablierung. Zur Multifunktionalität der Passio Olavi und Gesta et Passio

Stefan Albrecht (Mainz): Hagiotopographie und das Synaxar von Konstantinopel

Anna Esposito (Würzburg): Und was geschah davor? Frühere Geburten als Teil der jainistischen Hagiographie

Katharina Gahbler (Bonn): Das Bild der Anderen. Darstellungsweisen von Sarazenen in hagiographischen Quellen des 10. Jahrhunderts

Fabian Sieber (Erfurt): Heilige Sünderinnen in biblischer Perspektive. Maria von Ägypten und Rahab von Jericho

Sabrina Späth (Nürnberg): Heiligenverehrung auf der mittelalterlichen iberischen Halbinsel. Verehrung und Schriften

Benjamin Müsegades (Heidelberg): Konjunkturen der Heiligenverehrung im städtischen Raum des Mittelalters im Spiegel von Hagiographie, Patrozinien und Liturgie

Eva-Maria Butz (Dortmund): Kommunikation mit den Heiligen. Überlegungen zur Funktion christlicher Namensgraffiti

Schlussdiskussion


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