Vom 21. bis 22. Februar 2017 fand am Deutschen Historischen Institut Paris eine internationale Tagung zur Sprache des Rechts statt, die das Akademieprojekt „Edition der fränkischen Herrschererlasse“ in Kooperation mit dem Leibniz-Projekt „Computational Historical Semantics“ (CompHistSem) und dem DHI Paris veranstaltete.
Ziel des Kolloquiums war es, Mittelalterforscher/innen mit unterschiedlicher Spezialisierung zusammenzubringen, um einen Austausch über die in den Kapitularien verwendete Sprache anzustoßen. Stammen die in den Kapitularien begegnenden Begriffe aus dem Bereich einer zeitgenössischen Sprache des Rechts? Lassen sich Einflüsse anderer Quellenarten erkennen? Inwiefern ist das in den Kapitularien verwendete Vokabular spezifisch für diese Textsorte? Diese und andere Fragen standen im Fokus der Beiträge.
BERNHARD JUSSEN (Frankfurt am Main) eröffnete die Tagung, indem er die in Köln und Frankfurt gemeinsam erarbeitete lemmatisierte Datenbank aller Kapitularientexte vorstellte, die den Teilnehmer/innen im Vorfeld als Rechercheinstrument zur Verfügung gestellt worden war. Sie ermöglicht Untersuchungen zu ausgewählten Wortverwendungen und Wortclustern in den Kapitularien selbst sowie das Auffinden von Parallelstellen in allen von CompHistSem bereits lemmatisierten Texten anderer Quellengattungen, so dass die heterogenen Verwendungskontexte in den Kapitularien und die diachrone Dynamik in dieser Textsorte analysiert werden können.
Die Suche von HELMUT REIMITZ (Princeton) nach „Historischen Horizonten“ in den Kapitularien blieb in Bezug auf einschlägige Begriffe wie memoria, historia oder traditio weitgehend erfolglos; lediglich die oft begegnenden Kombinationen von lex oder consuetudo antiqua als Bezugnahme auf die Rechtsetzungen der Amtsvorgänger eröffnen eine historische Dimension. Hinzu treten biblische Bezüge, bei denen sich ein interessanter Zusammenhang zur zeitgenössischen exegetischen Tradition zeigt: In den Kapitularien Karls des Großen finden sich vor allem Bezüge zu alttestamentarischen Traditionen und Vorbildern, während sein Nachfolger Ludwig der Fromme – z.B. in seinem programmatischen Prooemium generale zur Gesetzgebung von 818/19 – zunehmend Verweise auf das Neue Testament bevorzugte. Reimitz sah hierin Indizien für eine Neuausrichtung der politischen Sprache seit dem Anfang des 9. Jahrhunderts.
MAGALI COUMERT (Brest) untersuchte die innerhalb der Kapitularien stark vertretene Gruppe der Ergänzungen zum älteren Recht (Capitula legibus addenda). Obwohl eigentlich alle Kapitularien als Zusätze zur lex im weitgefassten Sinne einer ‚loi générale‘ aufzufassen sind, lassen sich in einigen Kapitularien konkrete Bezüge auf Schriftfassungen der zu ergänzenden Leges finden, etwa durch Zitate und Referenzen auf Titelnummern. Diese variierten allerdings bei der Lex Ribuaria in den verschiedenen Fassungen der mittelalterlichen Kopien und scheinen daher für den praktischen Gebrauch ineffizient gewesen zu sein. Der durchaus bemerkenswerte Versuch einzelner mittelalterlicher Schreiber, ein System von intertextuellen Referenzen zwischen Leges und Kapitularien herzustellen, müsse daher als gescheitert bewertet werden. Nur die Lex Salica Karolina, die in einer relativ stabilen Textfassung überliefert ist, hätte einen Ansatzpunkt für funktionierende Referenzierungen bieten können.
STEFFEN PATZOLD (Tübingen) stellte die Frage, ob die unter dem Kunsttitel Capitulare monasticum in drei unterschiedlichen Fassungen von Josef Semmler im Corpus consuetudinum monasticarum 1 edierten Bestimmungen für monastische Gemeinschaften tatsächlich als ‚Reichsgesetze‘ zu bewerten seien. Nachdem er Semmlers Argumente für diese These einer kritischen Prüfung unterzogen hatte, kam er zu dem Schluss, dass diese mehrheitlich nicht überzeugend sind. Lediglich die Einordnung der betreffenden Texte in die thematische Sektion der Kapitularien in zwei Bücherverzeichnissen des 9. Jahrhunderts sind starke Argumente für eine Bewertung als Erlasse Ludwigs des Frommen schon durch die Zeitgenossen. Gegen die Zuordnung zum Genre der Herrscherkapitularien sprechen hingegen nach Patzold sowohl der Adressatenkreis, der auf monastische Gemeinschaften begrenzt ist, der Überlieferungskontext in Sammlungen mit Gebrauchstexten für Mönche und unabhängig von anderen Kapitularien sowie das monastische Spezialvokabular, das für die Kapitularien untypisch ist und dort sogar teilweise mit abweichender Semantik gebraucht wird.
NICOLAS PERREAUX (Paris / Frankfurt am Main) stellte seine vergleichenden Untersuchungen zur lexikalischen und semantischen Sprachverwendung in Urkunden und Kapitularien vor. Grundlage des Vergleichs bildete neben dem in CompHistSem zur Verfügung stehenden Kapitularienkorpus die von ihm selbst erstellte Datenbank CEMA (Chartae Europeae Medii Aevi) mit ca. 140. 000 mittelalterlichen Urkunden, die sich aus 900 zumeist online verfügbaren Editionen speist. Seine mit Methoden des Text Mining gewonnenen Ergebnisse lassen Rückschlüsse sowohl auf geographische und chronologische Spezifika in der Verwendung des Vokabulars als auch auf die gegenseitige Beeinflussung der Sprache von Urkunden und Kapitularien zu. So konnte Perreaux z.B. ein in chronologischer Perspektive wachsendes Vokabular beobachten und viele lexikalische Übereinstimmungen zwischen italienischen/langobardischen Urkunden und den für Italien bestimmten Kapitularien feststellen. Abschließend stellte er die Frage zur Diskussion, ob ein Zusammenhang bestehe zwischen der mit dem Ende des 9. Jahrhunderts stark ansteigenden Urkundenproduktion und dem seit etwa der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts zu beobachtenden Rückgang der Kapitularienausstellung.
MAXIMILIAN DIESENBERGER (Wien) nahm das bekannte Diktum vom „predigtartigen Charakter“ 2 (Th. M. Buck) mancher Kapitularien zum Ausgang für eine Untersuchung der Überschneidungen der Textgenres Kapitularien und Predigten. In vielen Fällen sind entsprechende Kapitularien (z.B. die Admonitio generalis) gemeinsam mit Predigttexten überliefert. Obwohl in beiden Textarten kaum Zitate aus dem jeweils anderen Genre verwendet werden, greifen beide auf einen gemeinsamen Pool von Bibelzitaten zurück. Dabei schneiden die Kapitularien predigtrelevante Themen (wie Habsucht, Geiz etc.) nur kurz an, führen diese aber nicht weiter aus. Offenbar war ein Ineinandergreifen beider Textsorten intendiert: Die Bestimmungen der Kapitularien forderten zum Predigen im Sinne der ‚Correctio‘ auf und gaben die Themen vor, während die Predigten diese argumentativ ausführen und so an der Basis ein moralisches Fundament für die Herrschaft der Karolinger legen sollten.
JENNIFER R. DAVIS (Washington, D.C.) untersuchte die Verwendung der Begriffe capitulare/capitulum in den Kapitularien und kam zu dem Ergebnis, dass sie im Sinne einer spezifischen, textimmanenten Verweispraxis eingesetzt und oft im Zusammenhang mit Verben des Befehlens gebraucht wurden. Die Verbindung der beiden Begriffe mit ‚Herrscher‘ und ‚Befehl‘, die sich seit Karl dem Großen beobachten lässt, spiegele das Verständnis der Zeitgenossen von Kapitularien als Texten, die vom Herrscher ausgingen. Die Funktion der Verweise auf die Erlasse der Vorgänger sieht Davis nicht in einem archivalischen Interesse, sondern als Ausdruck einer Rechtskultur der Diskussion und Kommunikation, die die fränkischen Herrscher auch über das Medium der Kapitularien pflegen wollten.
JEAN MEYERS (Montpellier) analysierte das syntaktische Umfeld des Verbes iubere in den Kapitularien. Im Unterschied zu dem fast nicht vorkommenden imperare, mit dem ein autoritativ angeordneter, unbedingt zu befolgender herrscherlicher Befehl gemeint ist, sei iubere exhortativ zu verstehen – eine Aufforderung an die Adressaten der Kapitularien, das vom Herrscher Angeordnete zum Wohle der utilitas regni umzusetzen. Diesem Befund entspricht die für die Kapitularien typische Praxis, die einzelnen Bestimmungen mit dem Verb volumus (atque iubemus) einzuleiten.
STEFAN ESDERS (Berlin) verfolgte die Verfestigung des von ihm als Zeugma klassifizierten Begriffspaares fideles Dei et regis zu einer normierten Begrifflichkeit, die im Sinne einer ‚gepflegten Semantik‘ bewusst durch die karolingischen Könige in spezifischen Verwendungskontexten eingesetzt wurde. Zum ersten Mal begegnet es in einer Urkunde Pippins des Jüngeren von 755 für die Abtei St. Denis und geht möglicherweise auf den Abt Fulrad zurück. Unter Ludwig dem Frommen wurde es in den Herrscherurkunden zu einer stehenden Wendung, wenn auch hier auf die fideles sanctae Dei ecclesiae bezogen. Die Formel spiegele die enge Verbindung von Glauben an Gott und Treue gegenüber dem Herrscher im Selbstverständnis der Karolinger und sei eingesetzt worden, um die Verbindlichkeit ihrer Anordnungen zu erhöhen.
In ihrem Vortrag begab sich ELS ROSE (Utrecht) auf die Spuren von Pilgern und Fremden in den karolingischen Kapitularien und stieß auf eine Vielzahl von Begriffen, die sehr differenziert und kontextabhängig verwendet wurden. Sie lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen, nämlich in Fremde inner- und außerhalb des Regnum. Mit advena oder adventicius wurden etwa Einwanderer bezeichnet, die z.B. vor Wikingerüberfällen aus anderen Regionen fliehen mussten und deren Schutz und rechtlicher Status ein häufiges Thema der Kapitularien darstellt. Ein hospes oder peregrinus konnte, je nach Kontext, ein einfacher ‚Gast‘, ein ‚Fremder‘ oder auch ein mit negativen Konnotationen belegter ‚flüchtiger Kleriker‘ sein (der auch mit dem Begriff fugitivus clericus bezeichnet werden konnte). Gerade bei den letzten beiden Gruppen ist in den Verfügungen eine starke Orientierung an biblischen Normen zum Umgang mit Fremden zu konstatieren.
ÉTIENNE RENARD (Namur) nahm das auf Bauern und ihr Land bezogene Vokabular in den Kapitularien in den Blick und skizzierte Tendenzen der Verwendung. In chronologischer Perspektive konnte er eine Entwicklung beobachten, bei der einschlägige Begriffe für ‚Land‘ und ‚Leute‘ (mancipium und franci) in den Kapitularien Karls des Großen und Ludwigs des Frommen noch mit relativ statischer Bedeutung verwendet wurden, die unter Karl dem Kahlen aber eine zunehmende Differenzierung und Erweiterung erfuhr. Im Vergleich zu Polyptychen und Urbaren, die sich hauptsächlich dem Themenfeld ‚Land und Leute‘ widmen, ist in den Kapitularien nur eine vereinfachende und pauschalisierende Begriffsverwendung zu konstatieren, die die vielgestaltige Praxis nicht angemessen wiedergibt. Allerdings hatten die Kapitularien auch eine andere Zielsetzung als jene zum Verwaltungsschriftgut zählenden Quellenarten: Sie sollten der Umsetzung von biblisch-moralischen Forderungen dienen wie dem Schutz der pauperes, zu denen die Landbevölkerung gehörte, vor den potentes; in diesem Kontext dienten die Bezeichnungen eher als pragmatische Chiffre für einen Sachverhalt denn als trennscharfe Definition.
In vielen der Vorträge wurde das Problem der Korpuszusammenstellung thematisiert: Die über CompHistSem zur Verfügung gestellten Texte entsprachen der Auswahl von Mordek im ‚Verzeichnis der Kapitularien und kapitulariennahen Texte‘ der Bibliotheca capitularium 3, zuzüglich der neuentdeckten, von Mordek herausgegebenen Stücke. Da sich darunter auch solche Texte befinden, die nach den Kriterien moderner Forschung gar keine Kapitularien sind und in die künftige Edition keinen Eingang mehr finden werden, konnten die auf der Basis dieses Materials angestellten Untersuchungen in vielen Fällen nur Tendenzen aufzeigen. Eine Differenzierung und Bewertung der Einzeltexte, die für aussagekräftige Untersuchungen herangezogen werden können, bleibt ein Desiderat.
Die Beiträge des Kolloquiums haben daher als ein gemeinsames Ergebnis die Notwendigkeit einer Neuedition der Kapitularien erneut hervortreten lassen, aber zugleich auch die Grundlage, auf der Entscheidungen im Rahmen der Editionsarbeiten getroffen werden können, um wertvolle neue Erkenntnisse erweitert.
Konferenzübersicht:
THOMAS MAISSEN (Paris)/KARL UBL (Köln): Begrüßung
BERNHARD JUSSEN (Frankfurt am Main): Zur Erforschung fränkischer Rechtstexte zwischen Zählen und Lesen
Sektion 1: Kapitularien und andere Textsorten/Capitulaires et d’autres types de texte
HELMUT REIMITZ (Princeton): Historische Horizonte in den Kapitularien der Karolingerzeit
MAGALI COUMERT (Brest): Écrire des ajouts aux lois. La langue des différents capitula legibus addenda
STEFFEN PATZOLD (Tübingen): Die Aachener Texte von 816/17: Concilia oder Capitularia?
NICOLAS PERREAUX (Frankfurt am Main / Paris): Langue des capitulaires et langue des chartes: richesses, circulations, spécificités
MAXIMILIAN DIESENBERGER (Wien): Die moralische Sprache der Kapitularien und der Predigten
Sektion 2: Wortfelder in Kapitularien/Champs sémantiques dans les capitulaires
PHILIPPE DEPREUX (Hamburg): Autour du ban: le vocabulaire de la protection et de la domination (ausgefallen)
JENNIFER R. DAVIS (Washington, D.C.): The Vocabulary of Power in Charlemagne’s Capitularies
JEAN MEYERS (Montpellier): L‘environnement syntaxique du verbe iubere dans les capitulaires carolingiens
STEFAN ESDERS (Berlin): Fideles Dei et regis. Ein Zeugma in der 'gepflegten Semantik' des Karolingerreiches
ELS ROSE (Utrecht): Peregrinus and alienus in Carolingian Capitularies
ETIENNE RENARD (Namur): Le vocabulaire relatif aux paysans et à leurs terres dans les capitulaires carolingiens
KARL UBL (Köln): Zusammenfassung
Anmerkungen:
1 Josef Semmler (Hrsg.), Legislatio Aquisgranensis, in: Kassius Hallinger (Hrsg.), Initia consuetudinis Benedictinae 1. Consuetudines saeculi octavi et noni, Siegburg 1963, S. 423–481, 501–582.
2 Thomas Martin Buck, Admonitio und Praedicatio. Zur religiös-pastoralen Dimension von Kapitularien und kapitulariennahen Texten (507–814) (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte 9), Frankfurt am Main 1997.
3 Hubert Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse (MGH Hilfsmittel 15), München 1995.