Die industrielle Stadt. Lokale Repräsentationen von Industriekultur im urbanen Raum seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert

Die industrielle Stadt. Lokale Repräsentationen von Industriekultur im urbanen Raum seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert

Organisatoren
Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., Dresden; Sächsischen Staatsarchiv – Staatsarchiv, Dresden
Ort
Chemnitz
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.06.2017 - 16.06.2017
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Von
Merve Lühr, Bereich Volkskunde, Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde

Für die Entwicklung von Industriekultur im Sinne eines industriell bedingten Transformationsprozesses von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sind die wechselseitigen Verflechtungen von Industrie und Stadt, von Industrialisierung und Verstädterung bzw. Urbanisierung von zentraler Bedeutung. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Bedeutung dieses Themenfeldes in der regionalen Kulturforschung Sachsens und Mitteldeutschlands sollte das Kolloquium zur industriellen Stadt die Beziehungen zwischen Stadt und Industrie ebenso wie die Wahrnehmungsweisen der unterschiedlichen Akteure im 19. und 20. Jahrhundert in den Blick nehmen. Auch Ansätze eines überregionalen Vergleichs und eine Auffächerung verschiedener disziplinärer Perspektiven waren in den insgesamt elf Vorträgen des Kolloquiums vorgesehen.

Nach den Grußworten von RAYMOND PLACHE (Chemnitz) und WINFRIED MÜLLER (Dresden), die als Vertreter des Staatsarchivs Chemnitz und des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. die Bedeutung des Themas für die Arbeit der beiden Institutionen hervorhoben und auf die bewährte Zusammenarbeit von Archiv und Forschungsinstitut hinwiesen, eröffnete CLEMENS ZIMMERMANN (Saarbrücken) die Veranstaltung mit einem Überblicksbeitrag zu Konzepten historischer Industriestadtforschung. Er skizzierte die Forschungslandschaft mit ihren inzwischen höchst differenzierten Themenfeldern, hinterfragte das herkömmliche Narrativ von Aufstieg, Niedergang und „Wiedergeburt“ von Industriestädten und betonte den globalen Charakter industrieller Vernetzung, der auch in historischer Perspektive zu beachten sei. Das Konzept der Pfadabhängigkeit bezeichnete der Referent als vielversprechenden Ansatz und jenseits einer ökonomischen Sichtweise auf die Stadt. Ein wichtiges Aufgabenfeld, so Zimmermann, sei zudem die Repräsentation der Stadt in den zeitgenössischen Medien, wobei insbesondere die private Überlieferung wie z. B. Fotografien und Amateurfilme künftig eine stärkere Beachtung verdienten. ANDREA HAUSER (Bremen) befasste sich im Anschluss mit der Gewerbe- und Industrieausstellung des Jahres 1881 in Halle an der Saale, die für die regionale Repräsentation von Industriekultur, aber auch für den Blick auf die Stadt als Industriestandort eine große Bedeutung hatte. Der außerordentlich hohe Aufwand, mit dem die Ausstellung vorbereitet wurde, sollte sowohl die Werbewirksamkeit erhöhen wie auch ihre Rolle als „Vertrautheitsgenerator des Neuen“ erfüllen helfen. Zugleich spiegelte die Ausstellung sehr genau die sozialen Scheidelinien der städtischen Gesellschaft des Kaiserreiches wider, sodass sie weit über technisch-ökonomische Zusammenhänge hinauswies. Mit Anmerkungen zur Wahrnehmung der Industriestadt durch bürgerliche Eliten schloss der Vortrag von SANDRA SCHÜRMANN (Hamburg) an. Die Referentin zeigte eindrucksvoll am Beispiel der Stadt Recklinghausen, welche langfristigen Prozesse die „kulturelle Urbanisierung“ peripherer Städte kennzeichnen können. So sei Recklinghausen trotz der unzweifelhaften Entwicklung als Industriestadt seit den 1930er-Jahren in ihrem Selbstbild gespalten geblieben, da sich weite Teile der bürgerlichen Eliten von dem Etikett und dem Image der Industrie distanzierten. Bis heute sei das Verhältnis zum Ruhrgebiet von diesen Abgrenzungsbemühungen gekennzeichnet, die auch den postindustriellen Strukturwandel überdauert hätten.

In der zweiten Sektion des Tages befasste sich SÖNKE FRIEDREICH (Dresden) mit dem Verhältnis von Stadtentwicklung und städtischem Selbstbild der Textilindustriestadt Plauen im Vogtland. Er skizzierte zunächst knapp den rasanten Transformationsprozess der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und beschrieb die damit einhergehende Lagerbildung von Stadtbürgertum und Arbeiter/innenschaft. Sodann stellte er den Begriff der „Sauberkeit“ als möglichen Schlüssel für das Selbstverständnis des städtischen Bürgertums vor. So seien sowohl die geringe Umweltverschmutzung der Industrie und der behauptete hochstehende sittlich-moralische Standard der weiblichen Industriebeschäftigten wie auch das geringe Niveau politisch-sozialer Konflikte in der Stadt unter der Vorstellung von Sauberkeit zusammengefasst worden. ULRICH HEß (Wurzen) gab anschließend einen Überblick über die vielfältige industrielle Entwicklung der sächsischen Kleinstadt Wurzen, die er als Beispiel für eine vielfältig gebrochene und nicht unproblematische städtische Entwicklung ansah. In seinen Ausführungen zu gegenwärtigen Entwicklungen wurde deutlich, welch große Potenziale zur weiteren industriellen Entwicklung in den kleineren und mittleren Unternehmen der Stadt stecken, wie jedoch das Verhältnis der Einwohnerschaft zur Industrie weiterhin gespalten ist. Seitens des Staatsarchivs Chemnitz schlossen sich Ausführungen zu den Archivbeständen durch TOBIAS CRABUS (Chemnitz) an, der an zahlreichen Quellenbeispielen verdeutlichen konnte, dass für die Erforschung der industriellen Stadt die staatlichen Archive eine große Vielfalt an Unterlagen bereithalten.

Den zweiten Veranstaltungstag eröffnete SWEN STEINBERG (Dresden) mit einem Blick auf das Industriedorf als moderne Siedlungsform. Am Beispiel Kriebethal in Sachsen diskutierte er Konfliktlinien, die mit dem Wachstum der örtlichen Papierfabrik und damit dem Aufstieg der Unternehmerfamilie in der dörflichen Gesellschaft einhergingen: Zum einen versuchten die Fabrikbesitzer, ihr religiös geprägtes betriebliches Werteverständnis auf das Freizeitverhalten der Arbeiter zu übertragen. Sie stellten eine entsprechende Infrastruktur bereit und machten sich darüber hinaus die Kleinräumlichkeit und die damit einhergehenden Kontrollmöglichkeiten zu Nutze. Die Arbeiter, insbesondere die jungen, suchten indes sich durch Abwanderung der Überwachung zu entziehen, so dass die Unternehmer beständig gegen Arbeitermangel zu kämpfen hatten. Zum anderen stand die Unternehmerfamilie im Konflikt mit dem örtlichen Adel um den sozialen Status in der Dorfgesellschaft. Im Folgenden zeigte ANTJE REPPE (Dresden) am Beispiel von Heimatfesten im Kaiserreich den Umgang von Kleinstädten mit der Industrialisierung. Sie beschrieb die Heimatfeste als Ausdruck von und Umgang mit einem Krisenbewusstsein zugleich. Anhand von Fallbeispielen wurde deutlich, dass das konservative bürgerliche Milieu als Träger der Feste zwischen Traditionssicherung – die sich in geringer Industriepräsenz und einer starken regionalen Einbettung ausgedrückt habe – und Akzeptanz der Veränderungen schwankte. In letzterem Fall sei die industrialisierte Heimat als Chance für die Gemeinde, für wachsenden Wohlstand, präsentiert worden. FLORIAN SCHWEMIN (Regensburg) schließlich wandte sich der ländlichen Industrialisierung in Ostbayern zu. Anhand von Pastoralberichten von 1930 beschrieb er die Reaktionen katholischer Pfarrer auf den wachsenden Einfluss der Industrie und damit den schwindenden der Religion auf das Alltagsleben. Signifikant sei die Gegenüberstellung von gottesfürchtigen Bauern auf der einen und gottlosen Arbeitern auf der anderen Seite. Die Pfarrer fürchteten um den Verlust ihres Status als lokale Deutungseliten im Zeitenwandel und versuchten dies durch die Ablehnung der Neuankömmlinge, der Arbeiter, zu verhindern.

In der abschließenden Sektion befasste sich NADINE KULBE (Dresden) mit der Sichtweise der proletarischen Naturheilbewegung auf die industrielle Stadt, wobei sie den im sächsischen Freital wirkenden Lehrer Hermann Wolf in den Mittelpunkt stellte. Als einflussreicher Verfechter einer ‚natürlichen‘ Lebensweise sahen Wolf wie auch andere Vertreter der Lebensreform die industrielle Großstadt als Ort der Gefährdung von körperlichem und geistigem Wohl der Arbeiterschaft an und kämpften vehement für eine individuelle Vorbeugung gegen die schlechten Lebens- und Wohnbedingungen der Industrialisierung. Der Verband Volksgesundheit, dem Wolf lange Jahre vorstand, repräsentierte in seinen Bemühungen den Zwiespalt zwischen Eigenverantwortung der Arbeiter/innen und sozialer Verantwortung des Gemeinwesens, was sich in Freital als einer Musterstadt der Naturheilbewegung besonders eindrucksvoll rekonstruieren lässt. Den abschließenden Beitrag bestritt ANNE SCHEINHRDT (Rom), die aus architekturhistorischer Perspektive die Frage der Entstehung und Entwicklung von Industriekultur in Rom diskutierte. Die Referentin beschrieb die Einfügung industrieller Bauten in die Großstadt im frühen 20. Jahrhundert als planerische und ästhetische Mammutaufgabe, bei der die Repräsentation von Größe und Dekorum des imperialen Rom zu berücksichtigen war. Bei den seit den 1990er-Jahren einsetzenden Umbauten von Industriegebäuden wurden insbesondere solche Umnutzungskonzepte verwirklicht, die auf eine Neuorientierung auf die Kreativwirtschaft zielten. Somit hätten ‚kulturindustrielle‘ Zwecke die Neubestimmung der Industriekultur geprägt.

Anhand vieler Fallbeispiele gelang es dem Kolloquium, ein Kaleidoskop industrieller Prägungen zu entwerfen. Dabei wurden Parallelen und Unterschiede im Stadt-Land-Vergleich deutlich. Insbesondere der Anspruch der bürgerlichen Eliten, das Bild der eigenen Stadt bzw. des eigenen Dorfes zu bestimmen und die industrielle Entwicklung gestaltend zu begleiten, wurde immer wieder hervorgehoben. Indem viele Beiträge einen Bogen bis in das 21. Jahrhundert zogen, kreiste die Diskussion immer wieder um den Begriff der Industriekultur, um gegenwärtige Perspektiven und Möglichkeiten der Gemeinden, das Erbe der Industriekultur für sich nutzbar zu machen und zu transformieren. Das Kolloquium leistete dadurch einen Beitrag dazu, diesem derzeit vielfach verwendeten Begriff mehr Kontur zu verleihen.

Konferenzübersicht:

Clemens Zimmermann (Saarbrücken): Konzepte historischer Industriestadtforschung: Pfadentwicklungen, Medialität und Vergleich
Andrea Hauser (Bremen): Die Gewerbe- und Industrieausstellung Halle/Saale 1891 – Kulminationspunkt von Urbanisierung und Industrialisierung
Sandra Schürmann (Hamburg): Bürgerliche Eliten und die Wahrnehmung der Industriestadt – das Beispiel Recklinghausen

Sönke Friedreich (Dresden): Sauber bleiben. Zum historischen Verhältnis von Stadt und Industrie in Plauen
Ulrich Heß (Wurzen): Fallstudie Wurzen. Prägungen, Kontinuitäten und Umbrüche in der industriellen Entwicklung einer Stadt im Ballungsraum Leipzig-Halle
Tobias Crabus (Chemnitz): Stadt- und Industrieentwicklung im Spiegel der Überlieferung des Staatsarchivs Chemnitz

Swen Steinberg (Dresden): Das Industriedorf. Konstitution und Konflikte einer modernen Siedlungsform – das Beispiel Kriebethal in Sachsen
Antje Reppe (Dresden): Die Integration industriellen Fortschritts in lokale Heimatinszenierungen. Zur Präsenz städtischer Industrie in den frühen Heimatfesten der mitteldeutschen Industrieregion (1898 bis 1914)
Florian Schwemin (Regensburg): „Die Pfarrei ist stark industrialisiert und damit kulturell überfremdet“ – Katholische Blicke auf Industriekultur in Ostbayern um 1930

Nadine Kulbe (Dresden): „Ist Freikörperkultur wirklich eine unpolitische Angelegenheit?“ Hermann Wolf, der Verband Volksgesundheit und die sächsische Industriestadt Freital
Anne Scheinhardt (Rom): Industriekultur gestern – Kulturindustrie morgen? Der Wandel moderner Stadträume in Rom aus architekturhistorischer Perspektive