Colloquium aus Anlass des 90. Geburtstages von Prof. Dr. Dietrich Kurze (1. Januar 1928–15. Juni 2016)

Colloquium aus Anlass des 90. Geburtstages von Prof. Dr. Dietrich Kurze (1. Januar 1928–15. Juni 2016)

Organisatoren
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.01.2018 -
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Von
Matthias Thumser, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Aus Anlass des 90. Geburtstags von Prof. Dr. Dietrich Kurze, der am 15. Juni 2016 verstorben ist, fand an der Freien Universität Berlin ein Colloquium statt. Kurze war über lange Zeit hin Angehöriger der Freien Universität. 1955 wurde er im Fach Mittelalterliche Geschichte promoviert, habilitierte sich 1964, hatte Assistenten- und Ratsstellen inne, bis er im Jahr 1975 nach einem kurzen Intermezzo in Tübingen eine Universitätsprofessur am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität antrat, auf der er 20 Jahre lang sein Fach mit großem Engagement in allen akademischen Bereichen vertrat. Das Programm des Colloquiums orientierte sich an Kurzes wissenschaftlichen Schwerpunkten, die Vortragenden waren Schüler und ihm verbundene Kollegen.

In einem einführenden Vortrag bot MATTHIAS THUMSER (Berlin) einen Überblick über das wissenschaftliche Werk Dietrich Kurzes und benannte vier Schwerpunkte, auf die sich die große Mehrheit seiner Publikationen bezieht: Prophetien, Niederkirchenwesen, Häresien und brandenburgische Landesgeschichte. Am meisten Anerkennung erhielt er für seine Habilitationsschrift „Pfarrerwahlen im Mittelalter“, deren Aussagen gerade in jüngerer Zeit aufgenommen und weiterentwickelt wurden. In vielen seiner Arbeiten wollte Kurze „Macht und Ohnmacht des angeblich geschichtslosen Volkes verdeutlichen und damit das Interesse an seiner Geschichte wachhalten und vertiefen“, womit er als ein früher Wegbereiter der Sozialgeschichte betrachtet werden kann.

Der mittelalterliche Niederklerus und die Pfarrei gehören zu den Forschungsgebieten, die Dietrich Kurze durch systematische Fragestellungen vorangebracht hat. Daran knüpften die Überlegungen und Beobachtungen von ENNO BÜNZ (Leipzig) zur Stellvertretung in der spätmittelalterlichen Pfarrseelsorge an. Die Nichtresidenz von Pfarrern und ihre Vertretung durch andere Geistliche war kirchenrechtlich möglich, wurde aber von Kirchenreformern des 15. Jahrhunderts, noch stärker von den Reformatoren kritisiert. Statistische Erhebungen zeigen, dass die Nichtresidenz von Pfarrern weit verbreitet war (10-70 Prozent in manchen Diözesen). Trotz der Klagen über diesen notorischen Missstand ist bislang kaum untersucht worden, wie die Stellvertretung organisiert wurde. Fallstudien zeigen, dass dies nicht generell zur Vernachlässigung der Seelsorge geführt hat und die „viceplebane“ vor Ort vielfach als die eigentlichen Pfarrer wahrgenommen wurden. Hier müssen weitere regionale und lokale Untersuchungen ansetzen.

Bei den seit 1250/1300 in Norddeutschland neu entstehenden „Kalanden“ handelt es sich um Bruderschaften, zum Teil auch Gilden genannte Vereinigungen von Pfarrklerikern und oft auch Laien. Zentrales Anliegen waren sowohl die Sorge um das Seelenheil („Fürbitte“) als auch die Pflege der Freundschaft und der Geselligkeit auf den Viertel- oder Halbjahrestreffen. KNUT SCHULZ (Berlin) untersuchte die Entwicklung vor allem am Beispiel der Städte Berlin-Cölln, Alt- und Neustadt Brandenburg und Prenzlau: (1.) In der Zeit bis 1400 machten schwere kirchenpolitische Konflikte und Interdikte Hilfsmaßnahmen für den notleidenden Klerus erforderlich. (2.) Der Aufstieg der Hohenzollern in der Mark mit dem Schlossbau und der Residenzgründung in Berlin-Cölln um 1450/70 ging mit einem Bedeutungszuwachs der Kalande einher. (3.) Durch intensivierte wirtschaftliche Aktivitäten vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zur Reformation (1539) durch Kreditvergabe und das Bemühen um Altar- und Memorienstiftungen wuchs zwar der Einfluss der Kalande, doch zunehmende Kritik („Käuflichkeit des Himmelreichs“; Wuchervorwurf) und die vordringende Reformation entzogen ihnen letztlich die Grundlage ihrer Existenz.

Aufgrund einer Erkrankung von REIMER HANSEN (Berlin) wurde sein Vortrag über den monumentalen Totentanz in der Berliner Stadtkirche St. Marien in einer Kurzfassung verlesen. Das Fresko gehört in den historischen Zusammenhang des ebenfalls monumentalen Totentanzes des niederdeutsch-hansischen Kulturraums in St. Marien zu Lübeck und seines fragmentarischen Pendants in St. Nikolai zu Reval sowie der Dodendanz-Buchdrucke der Lübecker Mohnkopf-Offizin, unterscheidet sich von ihnen jedoch in seinem Bild- und Textprogramm grundlegend durch seine theologische Orientierung an der paulinisch-augustinischen Tradition der christlichen Glaubenslehre und seines daraus resultierenden vorreformatorischen Gehalts. Dieser lässt sich aus dem Kontext des schrittweisen Übergangs des – der Marienkirche nahestehenden – Berliner Grauen Klosters zur Observanzbewegung erklären, an dessen Vorbereitung der Generalvikar der deutschen Reformkongregation des Augustinereremitenordens Johann von Staupitz beteiligt war, dem der junge Luther die entscheidende Inspiration seines „reformatorischen Durchbruchs" verdankte.

Bei der Abhandlung ‚De miseria conditionis humanae‘ Lothars von Segni, die Gegenstand des Vortrags von MARIE-LUISE HECKMANN (Potsdam) war, handelt es sich weniger um einen Beichtspiegel oder eine Zeitklage als vielmehr um die pessimistische Selbstvergewisserung eines jungen Adligen, der nicht nur seine Aufstiegschancen in der Welt, sondern auch die dauernde Gegenwart seines Schöpfergottes und die einmalige Erlösungstat Jesu Christi am Kreuz bezweifelte. Der Traktat wirkt damit konzeptionell wie ein Gegenentwurf zu den ‚Confessiones‘ des Augustinus. In der Erstlingsschrift des Kardinals schwingt daher ein skeptischer, ja zynischer Unterton mit, obwohl er auch durch die Normen der Kanoniker des „ordo antiquus“ - Einfachheit, Demut, Enthaltsamkeit - geprägt ist. Gegenüber den Kanonikern des Lateran („ordo novus“), denen Bildung und Papstnähe die Aufnahme ins Kardinalskolleg ermöglichten, versuchte der Kardinaldiakon von Santi Sergio e Bacco, die eigene Adelsclique um den Kardinalbischof Octavian an den unter Papst Clemens III. eingeschlagenen Kurs zu erinnern.

Das Interdikt, behandelt von JOHANNES HELMRATH (Berlin), ist eine Kollektivstrafe, neben der Exkommunikation die wichtigste und exzessiv verhängte Kirchenstrafe des „forum externum“. Als flächendeckender Boykott von Sakralhandlungen durch die Geistlichkeit konstituierte es Raum. Das Ende des Gesangs in der Messe und des Glockenläutens markieren eine akustische Komponente. Vor allem für die Städte und ihre Einwohner bedeutete das Interdikt eine häufige, oft Jahre andauernde Lebensrealität. Der Beitrag versuchte, im wesentlichen anhand städtischer Quellen, eine ‚Phänomenologie des Interdikts‘, indem er Praktiken der Verhängung und Befolgung des Interdikts ebenso untersuchte wie verschiedene Formen des Ertragens oder aber von Gegenmaßnahmen gewaltsamer und kompensatorischer Art. Der von Dietrich Kurze erforschte Berliner Propstmord (1324) stellt dabei ein signifikantes Ereignis dar.

Die Reformatoren entwickelten aufgrund von Überlegungen Luthers und in Abgrenzung zur katholischen Kirche die Vorstellung, in einer eigenen Tradition von Kirchenlehrern zu stehen, wie es im „Katalog der Zeugen der Wahrheit“ des Matthias Flacius Illyricus deutlich wird. Jan Hus erhält hier als Vorläufer Luthers einen zentralen Artikel, wird aber auch als Fortsetzer der Waldenser gesehen, der ebenso die Lehren John Wyclifs übernommen habe. Der Vortrag von JÜRGEN SARNOWSKY (Hamburg) analysierte vor diesem Hintergrund die Reformvorstellungen der Waldenser, Lollarden und Hussiten. Die Orientierung an der Heiligen Schrift, das Priestertum der Laien oder das Abendmahl in beiderlei Gestalt, die Ablehnung des weltlichen Kirchenbesitzes, der Heiligenverehrung oder der Transsubstantationslehre waren zwar grundlegend, hätten aber wie in den Prager Kompaktaten von 1434 entschärft werden können. Die Verfolgung durch die Autoritäten ließ sie aber zu „Repräsentanten der wahren Kirche“ und zu „Zeugen der Wahrheit“ werden.

Das Colloquium stellte die Fruchtbarkeit der wissenschaftlichen Arbeiten Dietrich Kurzes, die in den substantiellen Vorträgen und den lebhaften Diskussionen stets präsent waren, unter Beweis. Die Beiträge sollen geschlossen in den "Blättern für deutsche Landesgeschichte" publiziert werden.

Konferenzübersicht:

Matthias Thumser (Berlin): Dietrich Kurze als Wissenschaftler

Enno Bünz (Leipzig): „viceplebanus“, „vicerector“, „vicecuratus“ – Stellvertretung als Problem der spätmittelalterlichen Pfarrseelsorge

Knut Schulz (Berlin): Beobachtungen zu Kalanden in der Mark Brandenburg

Reimer Hansen (Berlin): Der Berliner Totentanz und sein vorreformatorischer Gehalt

Marie-Luise Heckmann (Potsdam): Lebensentwurf, Mahnschrift oder Zeitklage? Die Abhandlung ‚De miseria conditionis humanae‘ Lothars von Segni (Innozenz’ III.)

Johannes Helmrath (Berlin): Das Interdikt als städtisches Ereignis im Spätmittelalter

Jürgen Sarnowsky (Hamburg): „Zeugen der Wahrheit“. Häretische Bewegungen und Kirchenreform am Ausgang des Mittelalters


Redaktion
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