Die Historiographie über den Zionismus in Deutschland hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. War die Literatur lange von Fragen und Auseinandersetzungen geprägt, die bis in die Entstehungszeit des Zionismus zurückreichen und im Grunde alte ideologische Grabenkämpfe fortschrieben, so hat sich die Forschung inzwischen erheblich ausdifferenziert und den Blick auf ein heterogenes Feld freigegeben. Diesem Sachverhalt trug ein von Lisa Sophie Gebhard, David Hamann und Ivonne Meybohm in Zusammenarbeit mit Ina Ulrike Paul organisiertes Colloquium, das Ende Oktober 2017 am „Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg“ stattfand, bereits durch den Plural im Titel Rechnung. Unter dem Stichwort „Deutschsprachige Zionismen“ diskutierten 18 Referent/innen aus verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen nicht nur über Autor/innen, die sich selbst dem Zionismus zurechneten, sondern auch über deren Kritiker/innen.
In einem „Prolog“ nahm JAN RYBAK (Florenz) die beiden zentralen Ereignisse des Herbstes 1917, die russische Revolution und die Balfour-Deklaration, aus der Perspektive der jüdischen Geschichte in den Blick. Beide Ereignisse standen für zentrale, wenn auch sehr unterschiedliche Emanzipationshoffnungen für die europäischen Jüdinnen und Juden im 20. Jahrhundert. Rybak plädierte jedoch für eine stärkere Historisierung und diskutierte die Rezeption der Ereignisse im zeitgenössischen zentral- und osteuropäischen Judentum. Vor dem lokalem Hintergrund, so führte er aus, erweise sich in diesem Sinne vor allem die wirkungsgeschichtliche Dimension der Balfour-Deklaration als begrenzt.
In einer ersten Sektion ging es um Strömungen und Spannungen innerhalb der deutschsprachigen Zionismen. Zum Auftakt skizzierte LISA SOPHIE GEBHARD (Berlin) die Heterogenität der zionistischen Bewegung. Im Zentrum standen Selbstverortungen und strategische Oppositionsbildungen, die Gebhard auf der Grundlage publizistischer Debatten des frühen 20. Jahrhunderts rekonstruierte. Hierzu gehörte auch die Gegenüberstellung zwischen den sogenannten Kulturzionisten auf der einen Seite und den politischen Zionisten auf der anderen Seite, die, gleichwohl bereits von Zeitgenossen problematisiert und hinterfragt, von der Forschung jedoch teilweise bis heute fortgeschrieben wird.
Daran konnte MANJA HERRMANN (Berlin) mit ihren Ausführungen über Authentizitätsstrategien der beiden zionistischen Gründungsfiguren Theodor Herzl und Achad Ha‘am anknüpfen, gelten diese doch als zentrale Repräsentanten der genannten Strömungen. Im Rückgriff auf den ontologischen Begriff der Authentizität, wie er von dem kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor entwickelt wurde, versuchte Herrmann jedoch zu zeigen, dass beide nicht zwingend konträr gelesen werden müssen, insofern sie durchaus analoge Konzepte von jüdischer Selbstverwirklichung vertraten.
Im Abendvortrag gab CHRISTIAN WIESE (Frankfurt am Main) Einblicke in seine im Entstehen begriffene Biographie über Robert Weltsch. Zwar hatte der langjährige Herausgeber und Chefredakteur der „Jüdischen Rundschau“ die Ambivalenzen des Nationalismus – und damit auch des Zionismus – bereits in den 1920er-Jahren reflektiert, teilte jedoch zeitweise essentialistische Positionen. Von der israelischen Politik nach der Staatsgründung enttäuscht, näherte er sich indes schließlich den Zionismus-kritischen Positionen Hannah Arendts an. In diesem Sinne beschrieb Wiese Weltschs Verhältnis zum Zionismus als einen langen Weg der Desillusionierung und Ernüchterung.
Der zweite Block widmete sich den Zionismen in ihrer Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Gesellschaft. Eröffnet wurde die Sektion von DAVID HAMANN (Berlin) mit einem Beitrag über das ambivalente Verhältnis zwischen dem „Hilfsverein der deutschen Juden“ und den Zionisten. Auch hier hat die Forschung bisher einen tiefen Gegensatz behauptet. Demgegenüber verwies Hamann auf die Aktivitäten des Hilfsvereins in Palästina zur Erleichterung der Emigration notleidender Jüdinnen und Juden aus Osteuropa. Ohne die politischen Ziele der Zionisten zu teilen, so Hamann, leistete der Hilfsverein in diesem Sinne sehr wohl einen Beitrag zur zionistischen Praxis.
Der Vortrag TILMANN GEMPP-FRIEDRICHS (Frankfurt am Main) behandelte mit dem „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ eine weitere zentrale jüdische Organisation des frühen 20. Jahrhunderts. Im Fokus standen jene Entwicklungen, die 1913 zum Bruch des Central-Vereins mit dem Zionismus und zur „Zionistenresolution“ führten. Gempp-Friedrich skizzierte Gemeinsamkeiten und Differenzen beider Strömungen und zeigte, wie unterschiedliche Bezugnahmen auf Geschichte und Traditionen zur Basis unterschiedlicher Identitätsangebote avancierten.
Um das Verhältnis des Central-Vereins zu den Zionisten ging es auch im Beitrag ANNA ULLRICHs (München). Die Referentin behandelte jedoch mit der Endphase der Weimarer Republik eine spätere Epoche. Nachdem die „Zionistische Vereinigung für Deutschland“ lange eine aktive Beteiligung an dieser Auseinandersetzung aus politischen Gründen abgelehnt hatte, begann man Ende der 1920er-Jahre mit dem Central-Verein zu kooperieren. Dass die praktische Arbeit dennoch weiterhin von Differenzen und Vorbehalten geprägt war, zeigte Ullrich am Beispiel der Debatten innerhalb des „Jüdischen Frauenbundes“, dessen Mitgliedschaft sich aus beiden Lagern zusammensetzte.
In dieser Hinsicht leitete der Beitrag zur Sektion über die Frauenorganisationen und die Rolle von Frauen in den Zionismen über. Denn auch im Beitrag von REBEKKA DENZ (Bamberg) ging es um zwei Vertreterinnen des Central-Vereins. Behandelt wurden die Funktionärinnen Eva Reichmann-Jung und Margarete Edelheim, die in den 1930er-Jahren organisatorisch und journalistisch für den Central-Verein tätig waren und sich offen für die zionistischen Tätigkeiten in Palästina engagierten. Auch hier erweise sich mithin eine Gegenüberstellung zwischen Central-Verein und Zionismus als vorschnell.
In einem weiteren biographischen Beitrag beschäftigte sich INES SONDER (Potsdam) mit den drei Schwestern Lotte, Helene und Rosa Cohn aus Berlin, die zu den ersten deutschen Einwanderinnen nach Palästina nach dem Ersten Weltkrieg gehörten. Alle drei taten sich in verschiedenen zionistischen Organisationen und beim Aufbau einer jüdischen Infrastruktur in Palästina hervor, wobei der Fokus des Beitrages auf Lotte Cohn lag, die später zu einer der bekanntesten israelischen Architektinnen avancierte.
In einer vierten Sektion ging es um die Rolle des Zionismus in zeitgenössischen politischen Diskursen. FABIAN WEBER (München) behandelte in diesem Zusammenhang zunächst Debatten über den Zionismus im deutschen Kolonialdiskurs des Ersten Weltkriegs. Dabei stellte er verschiedene Motive heraus, warum deutsche Propagandisten den Zionismus durchaus positiv einschätzten. Eingebettet war der Beitrag in eine konzise Diskussion der Orientalismus-Theorie Edward Saids, die sich nicht nur hier als unzureichend erweist, die Komplexität gerade der zeitgenössischen Orientdebatten im deutschsprachigen Raum zu fassen.
Anschließend nahm sich CHRISTIAN DIETRICH (Frankfurt an der Oder) mit dem österreichischen Arbeitersozialismus nach dem Ersten Weltkrieg eines anderen politischen Spektrums an. Im Zentrum stand die österreichische jüdisch-sozialistische Arbeiterpartei Poale Zion, die sich 1920 in einen kommunistischen und einen zionistisch-sozialdemokratischen Flügel spaltete. Anhand des Partei-Organs, der „Freien Presse“, zeigte Dietrich hingegen, dass diese Unterscheidung keineswegs eindeutig war und auch nach der Ausrichtung des kommunistischen Flügels auf die Dritte Internationale weiterhin prozionistische Positionen vertreten werden konnten.
In der nächsten Sektion standen die religiösen Impulse und Einflüsse auf die Zionismen im Vordergrund. Zunächst beschäftigte sich DANIEL MAHLA (München) mit der im damals zaristischen Vilnius gegründeten religiös-zionistischen Misrachi-Bewegung, die sich aufgrund zunehmender Repression gezwungen sah, ihre Zentrale nach Frankfurt am Main zu verlegen. Hier geriet sie in erbitterte Konflikte mit der sich am gleichen Ort und zu gleicher Zeit organisierenden antizionistischen Orthodoxie, die langanhaltende Folgen für beide Strömungen haben sollten.
Die folgenden Beiträge näherten sich der Thematik biographisch. FELIX SCHÖLCH (München) beschäftigte sich zunächst mit dem auch in Deutschland weithin publizistisch bekannten Schalom Ben-Chorin. Während Ben-Chorin hierzulande aber vornehmlich durch seine Beiträge zum jüdisch-christlichen und zum jüdisch-deutschen Verhältnis nach der Shoah bekannt ist, ging es Schölch um dessen religiöse Reformbestrebungen in Palästina respektive Israel in Anlehnung an die Traditionen des deutschen liberalen Judentums des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Im Zentrum des anschließenden Beitrags von MARCO KIßLING (Berlin) stand die Verschränkung von Religion und Zionismus in den Schriften des aus Berlin stammenden israelischen Religionsphilosophen Ernst Akiba Simon. Dabei ging es vornehmlich um Simons Prägung in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, seine publizistischen Tätigkeiten im Rahmen der zionistischen Jugendbewegung und sein Engagement im Brit Schalom. Kissling stellte hier insbesondere Simons Reflexionen über den entstehenden Konflikt mit den arabischen Landesbewohnern Palästinas und die Möglichkeiten eines Zusammenlebens heraus.
Die letzte Sektion behandelte Kultur- und Wissenstransfers zwischen Deutschland und Palästina. Den Anfang machte REBEKKA GROSSMANN (Jerusalem) mit einem Vortag über die zionistische Palästina-Fotografie der 1920er-Jahre. Am Beispiel eines populären Fotobuchs des deutschen Zionisten Georg Landauer zeigte sie, wie versucht wurde, in Abgrenzung zur klassischen, auf das biblische Palästina fokussierten Ikonographie das Bild eines gegenwärtigen und dynamischen Landes zu zeigen, gleichwohl man dabei vielfach ästhetischen Praktiken aus der Tradition des deutschen und europäischen Orientalismus verhaftet blieb.
Im Beitrag ALBRECHT SPRANGERs (Berlin) ging es um den deutsch-jüdischen Arzt Theodor Zlocisti, der als einer der ersten Zionisten aus Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nach Palästina auswanderte. Spranger schilderte einen von zunehmender Enttäuschung und Desillusionierung gezeichneten Lebensweg eines zutiefst bürgerlichen deutschen Zionisten, dessen persönliche und gesellschaftliche Zielvorstellungen und Ideale von Beginn an kaum mit den Realitäten im Jischuw zu vereinbaren waren.
DANA VON SUFFRIN (München) behandelte mit der Geschichte der Naturwissenschaften in Palästina einen bisher kaum beachteten Gegenstand. Am Beispiel des botanischen Zionismus um den deutsch-jüdischen Kolonialbotaniker Otto Warburg zeigte sie die ebenso ideologische wie praktische Bedeutung der Wissenschaften für den Zionismus auf. Pflanzenforschung, Zucht und Anbau hatten dabei nicht nur einen unmittelbaren ernährungspolitischen Wert, sondern, wie die Erforschung des sogenannten Urweizens verdeutlicht, auch einen ideologischen, insofern das Land auf diese Weise zu einem zivilisatorischen Ursprungsraum stilisiert werden konnte.
Auch BJÖRN SIEGEL (Hamburg) nahm sich im abschließenden Beitrag der Tagung eines selten beachteten Themas an, nämlich der Rolle der Reeder und Schifffahrtsgesellschaften bei der zionistischen Emigration. Im Zentrum stand die Gründung der „Palestine Shipping Company“ durch den deutsch-jüdischen Reeder Arnold Bernstein in den 1930er-Jahren. Dabei zeigte Siegel, dass die sich selbst als „einzig jüdische Schiffslinie“ bezeichnende Gesellschaft zwar dezidiert auf die Auswanderung und Rettung der europäischen Juden zielte, aber keine Ausgeburt zionistischer Überzeugung war, sondern aus wirtschaftlichen, politischen und persönlichen Motiven Bernsteins resultierte.
Die zweieinhalb Konferenztage boten spannende Perspektiven auf ein heterogenes Feld, und wenngleich das Programm durchaus Potpourricharakter – im positiven Sinne – hatte, wurden immer wieder Verbindungen zwischen Personen, Gruppierungen und Diskursen deutlich. Hier eröffnen sich schließlich Möglichkeiten zukünftiger Forschung. Denn während sich die Beiträger/innen oft an überkommenen Narrativen abarbeiteten und sich dem Themenfeld mit neuen Fragen und Ansätzen näherten, bieten die zu Tage tretenden Parallelen und Verbindungen wiederum Möglichkeiten, neue synthetisierende Perspektiven zu entwickeln.
Konferenzübersicht:
Prolog
Jan Rybak (Florenz): Die Balfour-Deklaration und die Russische Revolution: Zur Gleichzeitigkeit widersprüchlicher jüdischer Emanzipationsperspektiven in Zentral-/Osteuropa
I. Deutschsprachige Zionismen – Strömungen und Spannungen
Lisa Sophie Gebhard (Berlin): „Judenstaatler, Praktiker und Kulturzionisten“ Die frühen Richtungskämpfe und Selbstverortungen deutschsprachiger Zionisten
Manja Herrmann (Berlin): Authentizitätspolitik im konstruierten Antagonismus zwischen Theodor Herzl und Achad Haam
Abendvortrag
Christian Wiese (Frankfurt am Main): „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“: Robert Weltschs Deutung des Zionismus im Angesicht von Nationalsozialismus und Shoah
II. Zionismen in Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Gesellschaft
David Hamann (Berlin): Der Hilfsverein der deutschen Juden und die osteuropäische jüdische Auswanderung nach Palästina
Tilmann Gempp-Friedrich (Frankfurt am Main): Auf der Suche nach den jüdischen Deutschen: Der Centralverein und der Zionismus
Anna Ullrich (München): Alte Auseinandersetzungen und neue Allianzen – CV und ZVfD im Kampf gegen den Antisemitismus 1928–1933
III Die Organisation und Rolle von Frauen
Rebekka Denz (Bamberg): „Treue Freundin[nen] des Palästina-Aufbaus?“ Positionen von CVerinnen gegenüber der zionistischen Idee in der Zwischenkriegszeit
Ines Sonder (Potsdam): Ein Überblick über die Rolle der Zionistinnen am Beispiel von Lotte Cohn und ihren Schwestern
IV Der Zionismus im politischen Diskurs
Fabian Weber (München): Der Zionismus in den politischen Debatten des Deutschen Reiches. Nichtjüdische Palästina-Diskurse zwischen 1897 und 1933
Christian Dietrich (Frankfurt an der Oder): „Pioniere der Weltrevolution im Vorderen Orient“. Die Radikalisierung des österreichischen Arbeiterzionismus zwischen 1918 bis 1920
V Religiöse Impulse in den deutschsprachigen Zionismen
Daniel Mahla (München): Der religiöse Zionismus und die jüdische Orthodoxie
Felix Schölch (München): Religiöse Erneuerung in Israel: Schalom Ben-Chorins Beitrag zum progressiven Judentum
Marco Kißling (Berlin): Religion und Zionismus bei Ernst Simon – Denken in der „zweiten Naivität“
VI Kultur- und Wissenstransfers zwischen Deutschland und Palästina
Rebekka Grossmann (Jerusalem): Locating Palestine in 1925. Georg Landauer’s Photobook "Palästina. 300 Bilder"
Albrecht Spranger (Berlin): Theodor Zlocisti – Ein Zionist in Deutschland und Palästina
Dana von Suffrin (München): Pflanzen für Palästina! Naturwissenschaften im Jischuw, 1900–1930
Björn Siegel (Hamburg): Arnold Bernstein und die Palestine Shipping Company zwischen zionistischer Vision und ökonomischer Realität