Verschmäht, vergessen oder glorifiziert? Blicke auf 100 Jahre Revolution 1918/19

Verschmäht, vergessen oder glorifiziert? Blicke auf 100 Jahre Revolution 1918/19

Organisatoren
Rosa-Luxemburg-Stiftung; Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Gedenkort „Friedhof der Märzgefallenen“; August-Bebel-Institut Berlin; Münzenberg-Forum Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.02.2018 -
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Von
Stefan Jehne, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Verschiedene Perspektiven auf „100 Jahre Revolution 1918/19“ boten die Vorträge der Veranstaltung im Februar 2018: Die Ereignisse 1918/19 bzw. die Rezeption dieser Revolution zu verschiedenen für die deutsche Geschichte äußerst relevanten Zeitpunkten wie 1933, 1968 oder 1989 standen im Zentrum des Interesses; vor allem sollte ein Austausch darüber stattfinden, wie sich der retrospektive Blick durch den Nationalsozialismus veränderte, wie die Rezeption sich in Bundesrepublik und DDR gestaltete und welches Rezeptionspotenzial die Revolution heute auch für aktuelle Fragestellungen bietet, so SUSANNE KITSCHUN (Berlin) in ihrer Eröffnungsrede. Dieser Fokus sei von immenser Bedeutung, da einerseits eine Lücke in der Erinnerungskultur und Forschung bestünde, wonach Revolutionen oft nicht als Teil von Demokratiegeschichte betrachtet werden würden, und andererseits die Auseinandersetzung mit der sog. Novemberrevolution in der jetzigen Zeit, in der die Demokratie in einer fundamentalen Krise stecke, von immenser Bedeutung sei.

Die Einzelbeiträge eröffnete PETER BRANDT (Hagen) mit seinem Impulsreferat über die unmittelbaren Ereignisse im November 1918 und deren Folgen. Brandt betonte, dass die revolutionären Erhebungen mit einem Aufstand von Soldaten gegen die Fortsetzung des Krieges begannen. Die neuere Forschung gebrauche daher den Terminus des verdeckten Militärstreiks, um diese ersten Unruhen zu charakterisieren. Aber auch im Zivilbereich des Deutschen Kaiserreiches habe keinerlei Interesse an der der Fortführung des Krieges bestanden, vielmehr sei das gesamte System der Monarchie von großen Teilen der Bevölkerung in Frage gestellt und abgelehnt worden. Die tatsächliche Umsturzbewegung zwischen dem 3. und dem 9. November 1918 wurde dann von Soldaten des Heimatheeres geführt. Die zivile Arbeiterschaft schloss sich diesen in großer Zahl an. Der Umsturz erfolgte insgesamt fast ohne Gegenwehr. Reichskanzler Max von Baden erkannte die Irreversibilität der Ereignisse und verfügte eigenmächtig die Abdankung des Kaisers sowie die Übergabe der Regierungsgewalt an Friedrich Ebert. An mehr als zehn Orten im gesamten Reichsgebiet wurde in der Folge die Republik ausgerufen. Die MSPD bot der USPD an, sich an einer Regierung zu beteiligen, was von der Mehrheit der Arbeiterschaft zu diesem Zeitpunkt unterstützt wurde. So bildete sich der Rat der Volksbeauftragten. In der Folge kam es allerdings zu den ersten Spannungen. Der erste Reichsrätekongress hatte sich für eine Verfassung ausgesprochen, Ebert und die MSPD-Führung wollten die Revolution nun schnellstmöglich in ein parlamentarisches System überleiten, was von dem gemäßigten Teil der USPD mitgetragen wurde. Der andere Teil der USPD und der bis Ende 1920 zahlenmäßig relativ schwache Spartakusbund bzw. die KPD wollten die Revolution allerdings weitertreiben. So bildeten sich erste Keime einer radikaleren zweiten Revolutionswelle und es kam zu General- und Massenstreiks, insbesondere in Industrieregionen. Die Gewalt eskalierte und die MSPD unter Führung von Gustav Noske ging militärisch gegen Aufständische, streikende ArbeiterInnen sowie gegen Räterepubliken unter Zuhilfenahme von rechtsradikalen Freikorps vor. Die Weimarer Verfassung, die dennoch Mitte 1919 verabschiedet wurde, war – so die These von Brandt – ein Resultat der demokratischen Revolution im November 1918 und ihrer Eindämmung bzw. gewaltsamen Niederschlagung im Frühjahr 1919. Gleichwohl hätte sich darin das Grunddilemma der Weimarer Republik offenbart. Den meisten ArbeiterInnen ging die Revolution nicht weit genug, einem Großteil des Bürgertums bzw. der reaktionären Kräfte war das parlamentarische System dagegen zu demokratisch.

Im Anschluss folgte ein Referat von RÜDIGER HACHTMANN (Potsdam), der sich in seinen Ausführungen der Rezeption der Ereignisse 1918/19 in der Weimarer Republik und nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 widmete. Bezüglich der Rezeption in der Weimarer Republik konstatierte Hachtmann, dass die Bedingungen hierfür von einem grundsätzlichen Widerspruch geprägt waren. Einerseits waren die Ereignisse von 1918/19 omnipräsent, andererseits aber ein „Unthema“, welches bis weit in die akademische Welt hinein Ressentiments und Ablehnung evozierte. Eine akademische Revolutionsforschung war auf Grund der politischen Emotionen, die die sog. Novemberrevolution hervorbrachte, daher kaum professionell möglich. Hachtmann bescheinigte daher nur ganz wenigen Abhandlungen zur Revolution bis 1945 einen wissenschaftlichen Charakter. Eine dieser Ausnahmen bildete Arthur Rosenbergs „Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik“ von 1928. Rosenbergs zentrale These hierin war es, dass der Rat der Volksbeauftragten nur dem Namen nach eine sozialistische Regierung war, in Wahrheit aber im Hintergrund als Fachleute getarnte bürgerliche Minister die Fäden zogen und die MSPD sich nicht getraut habe, die tatsächliche Macht des Rats der Volksbeauftragen zu nutzen. In der zweiten Auflage seines Werkes 1935 änderte Rosenberg seine Ansichten vor dem Hintergrund der „Machtergreifung“ von 1933. Nun äußerte er starke Kritik am Parlamentarismus, der den Nationalsozialisten den Weg zur Macht geebnet habe. In diese Kerbe schlugen nach 1933 weitere Linke wie der Sozialdemokrat Julius Leber, der 1933 aus der Haft heraus der die Ereignisse von 1918 als unmittelbar kausal für die nationalsozialistische Machtübernahme ansah, da die MSPD seinerzeit auf eine wirkliche Revolution verzichtet hatte, sodass die Weimarer Republik schon tot gewesen sei, bevor sie überhaupt geboren wurde. Von der nationalsozialistischen Führung wurde die sog. Novemberrevolution freilich aus ganz anderen Gründen ebenfalls als Katastrophe stigmatisiert. Begrifflichkeiten wie „Dolchstoßlegende“, „Novemberverbrecher“ usw. wurden zu nicht hinterfragbaren Dogmen. Insbesondere hinter dem Wort „Novemberverbrecher“ sah Hachtmann bewusstes Kalkül der Nationalsozialisten, da dieses sämtliche rechten Ressentiments bündelte und zudem antisemitisch konnotiert war. Zum Abschluss seiner Ausführungen postulierte Hachtmann noch zwei Thesen: Die Perspektive der Linken von 1933 habe vor dem Hintergrund des Aufkommens rechtspopulistischer Bewegungen in ganz Europa ungeahnte Aktualität. Hinzu träte, dass sich der globale Kapitalismus seit 2008 möglicherweise in einer finalen Krise befinde, sodass eine Auseinandersetzung mit den alternativen politischen und wirtschaftlichen (Räte-)Konzepten 1918/19 ebenfalls für die heutige Zeit gewinnbringend sein könnte.

Das dritte Impulsreferat wurde von DIETMAR LANGE (Berlin) gehalten. Die zentrale Fragestellung, der sich Lange darin widmete, war die Frage nach der Rezeption der Revolution 1918/19 in Folge der Ereignisse rund um das Jahr 1968 in der Bundesrepublik. Er konnte dabei zunächst feststellen, dass das verbindende Element zwischen 1918 und 1968 Diskussionen rund um die Funktion und Relevanz von Räten gewesen war. Der Grund für den Fokus führender ProtagonistInnen der 1968er-Bewegung auf die Räterepubliken in der Folge von 1918 war es, dass Räte als eine konkrete für die eigene Zeit relevante Organisationsform, die in Betrieben existent war, wahrgenommen wurden. Von Seiten gewichtiger Gewerkschaften wie der IG-Metall wurde daher ein Dokumentenband zu den Arbeiterräten in der Revolution 1918/19 herausgegeben, verbunden mit der Frage, ob das dort entwickelte Rätesystem als aktuelle Alternative zum Kapitalismus dienen könne. Auch aus der Studierendenbewegung gingen Impulse aus, die aktivierende Funktion und die Möglichkeit der Teilnahme aller in Räten als Alternativmodell zur repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik bzw. der Sowjetdiktatur als eine Art „Dritten Weg“ in Erwägung zu ziehen. So entwickelten sich erste lokale Basisgruppen von Studierendenräten, die den Zusammenschluss mit ArbeiterInnen in den Betrieben suchten.

Anschließend widmete sich JÖRN SCHÜTRUMPF (Berlin) in seinem Vortrag der ostdeutschen Perspektive auf die sog. Novemberrevolution, mit Schwerpunkt auf deren Zusammenhang rund um die Friedliche Revolution 1989. Schütrumpf hob zunächst hervor, dass die Revolution 1918/19 bei den ProtagonistInnen der Revolution 1989 keinerlei Rolle gespielt hatte, im Gegenteil: Andere vorangegangene Ereignisse wie die Ereignisse 1956 in Budapest oder 1968 in Prag bildeten im positiven wie im negativen Sinne relevante Vergleichsfolien und Anknüpfungspunkte. Auch war die sog. Novemberrevolution durch die SED, gegen deren Herrschaft sich die Friedliche Revolution 1989 gerichtet hatte, bereits ideologisch besetzt. Dennoch, so betonte Schütrumpf, gab es einige Parallelen zwischen 1918 und 1989. Zum Beispiel hatte es zu beiden Zeitpunkten Schutzräume für die radikale Opposition gegeben. So konnten sich die Spartakisten vor 1918 der USPD anschließen, während die DDR-Opposition in den Kirchen Zuflucht gefunden hatte. Letztere waren nach Schütrumpfs Auffassung der effektivere Schutzraum. Eine weitere Parallele sah er in der Rätebildung nach 1918 und den sog. Runden Tischen 1989/90, denen jeweils parlamentarische Demokratien folgten, mit dem Unterschied, dass nach 1918 eine Welle der konterrevolutionären Gewalt folgte, die 1989 ausgeblieben war. Auf Grund dieser verschiedenen Gemeinsamkeiten plädierte Schütrumpf abschließend für die Durchführung eines breiten wissenschaftlichen Vergleiches beider historischer Ereignisse, der eine Reihe spannender, neuer Erkenntnisse bringen könnte.

Den letzten Einzelvortrag hielt ANJA THUNS (Berlin), in welchem sie sich dem aktuellen Rezeptionspotential der sog. Novemberrevolution widmete. Insbesondere eine Geschichte weiblicher AkteurInnen jener Zeit sei aus heutiger Sicht sinnvoll und notwendig. Thuns sah diese Notwendigkeit durch dreierlei Umstände begründet. Zum einen sei die Geschichte der weiblichen Novemberrevolution von 1918 noch ein erhebliches Desiderat innerhalb der Forschung, zum zweiten gäbe es vor allem in Form von in der DDR in Auftrag gegebenen retrospektiven Erinnerungsberichten auch von weiblichen Protagonistinnen eine breite empirische Grundlage für etwaige Forschungen diesbezüglich, und zum dritten könnte so das vorherrschende Bild, die Revolution sei im Wesentlichen „Männersache“ gewesen, korrigiert und empirisch fundiert widerlegt werden. Diese Forschungen hätten zudem eine tagesaktuelle Tragweite, denn schließlich seien Debatten um Frauenrechte heute immer noch sehr virulent und der Gleichstellungsprozess noch keineswegs abgeschlossen. Ein Beispiel hierfür sei in der Zusammensetzung des Deutschen Bundestages zu finden, im welchem aktuell nur noch 31 Prozent weibliche Abgeordnete seien.

In der anschließenden Diskussion richtete die Moderatorin Susanne Kitschun zunächst das Augenmerk auf den Vortrag von Anja Thuns und stellte die Frage, warum die weibliche Perspektive bezüglich der sog. Novemberrevolution bisher in der Forschung so wenig berücksichtigt worden sei. Thuns sah den Grund hierfür vor allem in der deutschen Teilung, während der es kaum möglich war, an das relevante Material in den Archiven zu gelangen. Mit der Öffnung der ostdeutschen Archive 1990 seien die Erinnerungsberichte allerdings nun vollumfänglich einsehbar. Die Frage an Jörn Schütrumpf, warum seine Forderung nach einer vergleichenden Revolutionsforschung für ihn so wichtig sei, beantwortete dieser unter anderem damit, dass es in der DDR bereits vor 30 Jahren eine sehr ertragreiche vergleichende Revolutionsforschung gegeben habe, an der man sich heute orientieren könne. Auch erscheine eine solche Forschung vor dem Hintergrund der sich aktuell deutlich verschlechternden politischen Situation notwendig. An Rüdiger Hachtmann richtete sich die Bitte, seine im Vortrag postulierten Thesen nochmals genauer zu erläutern, warum er fände, dass die Konstellationen 1918/19 und das Rätesystem von damals heute noch oder wieder relevant sei. Hachtmann führte in seiner Antwort zwei Punkte dazu aus. Zu einem sei es wichtig sich die Frage zu stellen, warum die Weimarer Republik 1933 weitgehend ohne Gegenwehr untergehen konnte; offenbar war sie nur oberflächlich in der deutschen Gesellschaft verwurzelt gewesen, sodass die Frage nach der Verankerung, aber auch nach der Struktur der Demokratie bis 1930/33 für die heutige Zeit enorm relevant sei, weil derzeit ebenfalls viele parlamentarische Demokratien zu erodieren drohen. Zum anderen sei angesichts der möglicherweise finalen Krise des Kapitalismus, die 2008 eingesetzt habe, eine Diskussion über mögliche Formen alternativen und kollektiven Wirtschaftens unabdingbar.

Konferenzübersicht:

Einführungsvortrag

Peter Brandt (Fernuniversität Hagen): Forschungsstand

Impulsvorträge zur Revolutionsrezeption
Moderation: Susanne Kitschun (Gedenkort Der Friedhof der Märzgefallenen Berlin)

Rüdiger Hachtmann (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam): 1933

Dietmar Lange (Freie Universität Berlin): 1968

Jörn Schütrumpf (Rosa-Luxemburg-Stiftung): 1989

Anja Thuns (Humboldt-Universität zu Berlin): 2018


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