Vom 9. bis 10. April 2018 fand in Berlin die internationale Tagung „Capital in Classical Antiquity“ im Rahmen des Excellence Clusters Topoi statt. Die Organisatoren Max Koedijk (Freie Universität Berlin), Neville Morley (Exeter) und Christian Wendt (Bochum) zielten darauf, das Potential von Thomas Pikettys viel beachtetem Buch „Capital in the Twenty-First Century“ (2014) für die Wirtschaftsgeschichte der griechisch-römischen Antike zu erkunden. Pikettys Thesen wurden dabei nicht als neue Universaltheorie behandelt, deren Richtigkeit nun auch für die Antike zu beweisen sei. Vielmehr dienten sie als theoretischer und thematischer Fluchtpunkt für eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. Im Sinne Pikettys ging es dabei besonders um die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen wirtschaftlicher Konjunktur, politischer Ordnung und sozialer Ungleichheit.
Zur Einstimmung rekapitulierte der Neuzeithistoriker HARTMUT KAELBLE (Humboldt-Universität Berlin) die Hauptthese Pikettys. Sie lautet, dass sich das Verhältnis von Kapital und Einkommen umgekehrt proportional zum wirtschaftlichen Wachstum verhalte. In Zeiten wirtschaftlichen Wachstums (wie im Europa der Nachkriegsjahre) verringere sich die Ungleichheit, weil gespartem Arbeitseinkommen ein vergleichsweise größerer Anteil am nationalen Vermögen zukomme. Sinke die Wachstumsrate hingegen, steige die Kapitalertragsrate und damit die Ungleichheit zwischen Besitzenden und Arbeitenden. Kaelble formulierte vier kritische Überlegungen zu Pikettys Thesen als potentielle Anknüpfungspunkte für Althistoriker. Erstens müsse man weitere Dimensionen der Ungleichheit neben der Vermögensverteilung berücksichtigen (Bildung, Ansehen etc.). Zweitens müsse man fragen, ob die Entwicklung der Ungleichheit auf lange Sicht nicht eher wellenförmig als linear verlaufe. Drittens sei die Rolle von Kriegen bei der Verringerung von Ungleichheit zu prüfen, wie sie Piketty betont. Viertens und letztens sei nach der Rolle von Regierungen bei der Abschwächung oder Verschärfung von Ungleichheit zu fragen.
BEATE WAGNER-HASEL (Hannover) und MYLES LAVAN (St. Andrews) boten konzeptionelle Ergänzungen zu Piketty. Wagner-Hasel fragte nach dem Kapitalbegriff zu Beginn der theoretischen Debatte über den Charakter der antiken Wirtschaft. Der Nationalökonom Karl Bücher habe in zwei Publikationen zur Antike zwar widersprüchliche, aber für sich jeweils anregende Positionen zu Kapital und Ungleichheit formuliert. Gemeinsam sei beiden Konzepten trotz ihrer handfesten Unterschiede die ihnen zugrundeliegende Ablehnung der Vorstellung, dass die kapitalistische Marktwirtschaft eine quasi-natürliche Form des Wirtschaftens sei, die, wenn von allen Fesseln befreit, den Wohlstand aller Menschen erhöhe. Lavan wiederum stellte Pikettys Modell dasjenige von Walter Scheidel gegenüber, laut dem die zunehmende Ungleichheit eine Folge der über Zeit zunehmenden Fähigkeit von „state elites“ gewesen sei, sich mit Hilfe des Staatsapparats zu bereichern. Lavan wies außerdem darauf hin, dass zumindest in der römischen Kaiserzeit die Ungleichheit der Vermögen nicht grenzenlos gestiegen sei, sondern ein Plateau erreicht habe, das sich mit Pikettys Modell allein nicht erklären lasse.
Die drei folgenden Beiträge von SVEN GÜNTHER (Changchun), MICHAEL LEESE (New Hampshire) und DOROTHEA ROHDE (Bielefeld) widmeten sich der Akkumulation von Kapital und den Grenzen dieser Akkumulation im klassischen Griechenland. Günther analysierte, wie Xenophon auch Nah- und Treuverhältnisse und öffentliches Ansehen als akkumuliertes Kapital konzipierte. Leese betonte die inhärenten Akkumulationshindernisse der athenischen Wirtschaftsweise, die auf dem familialen Haushalt (oikos) als basaler Organisationseinheit beruhten. Zu „natürlichen“ Faktoren wie einer im Vergleich zur Gegenwart hohen Sterblichkeitsrate kamen institutionelle Faktoren wie die Realteilung der Vermögen, hohe Mitgiften, und die Begrenzung der möglichen Akkumulation von Grundbesitz durch die geringe Größe der städtischen Territorien hinzu. Rohde wiederum betonte, wie die öffentlichen Abgaben (die sog. Liturgien), welche der Stadtstaat (polis) Athen forderte, die Akkumulation begrenzten und zugleich der Diversifizierung der Vermögen Vorschub leisteten.
Anschließend widmeten sich COLIN ELLIOTT (Indiana) und PAUL KELLY (King’s College London) in Fallstudien dem Verhältnis von Kapital und Ungleichheit an der Schnittstelle von Geldwirtschaft und Landbesitz. Elliott merkte an, dass Piketty, orientiert am modernen Geldumlauf, von einer Theorie des “neutralen Geldes“ ausgehe. Gerade für die Antike müsse man jedoch im Anschluss an Max Weber darauf achten, durch welche spezifischen Kanäle neues Geld in die Zirkulation eingeschleust wurde. So habe Kaiser Augustus durch seine Geldgeschenke gezielt einige Gruppen gefördert (und andere nicht), darunter besonders die Elite der italischen Landbesitzer, um so die gesellschaftliche Hierarchie nach seinen Vorstellungen zu bestätigen oder neu zu erfinden. Kelly wiederum argumentierte auf der Grundlage ägyptischer Papyrusurkunden, dass im Sinne Pikettys die Kapitalertragsrate dauerhaft und deutlich über der Wachstumsrate lag. Das hatte eine ausgeprägte und stabile Ungleichheit zwischen Landbesitzern und Pächtern zur Folge.
Der zweite Tag der Tagung wurde von einer Sektion zum spätrepublikanischen Rom eröffnet. MAX KOEDIJK argumentierte mit dem Beispiel Ciceros, dass die Mitglieder der römischen Oberschicht nicht per se an der Akkumulation ökonomischen Kapitals interessiert waren. Sie konvertierten dieses Kapital vielmehr in symbolisches, um ihren Status innerhalb der Senatsaristokratie zu verbessern. Insofern eine Hebung des Status zugleich die Aussicht auf materielle Einkünfte verbesserte, schloss sich auf längere Sicht der Kreislauf von Kapitalakkumulation und -konvertierung allerdings wieder. Es folgte BERTRAND AUGIER (École Française de Rome) mit weiteren prosopographischen Fallstudien zu den Vermögensstrategien neuer Senatoren aus den italischen Gebieten. Auch Augier befasste sich mit den Wechselverhältnissen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. So hätten etwa die italischen Grundbesitzer auch deshalb das römische Bürgerrecht begehrt, um ihren Grundbesitz vor der Konfiskation zugunsten von Landverteilungen zu schützen. CRISTINA ROSILLO-LÓPEZ (Sevilla) wiederum thematisierte die politische Ökonomie der späten Republik von der anderen Richtung her am Beispiel der Mieteinkünfte. In den 40er-Jahren v. Chr. erprobten Politiker wie Caesar und Octavian die Möglichkeit, mit Dekreten zur Erlassung oder Begrenzung von Mietzahlungen die Vermögensverhältnisse in Rom und Italien zu beeinflussen.
Zwei Beiträge von JOHN WEISWEILER (Maryland) und ARJAN ZUIDERHOEK (Ghent) schlossen chronologisch mit Überlegungen zur römischen Kaiserzeit an. Sie legten dabei einen Fokus auf den Faktor Urbanisierung. Weisweiler bot eine Erklärung für den Befund an, dass die größten Vermögen während der Kaiserzeit bei den kaiserlichen Günstlingen des 1. Jahrhunderts zu finden seien. Ausschlaggebend dafür seien kaiserliche Schenkungen gewesen, die aufgrund der politischen Instabilität der julisch-claudischen Dynastie im 1. Jahrhundert besonders hoch waren. Dieser Befund weicht deutlich von Pikettys Modell für das 19. und 20. Jahrhundert ab, laut dem gerade Zeiten politischer Stabilität der graduellen Vergrößerung der Vermögen „aus sich selbst heraus“ Vorschub leisteten. Auch das Vermögenswachstum der neuen Senatoren aus dem Westen des Reichs war laut Weisweiler eine Folge politischer Maßnahmen. Sie konnten dank der von den Kaisern forcierten Urbanisierung ihrer Heimatregionen in kurzer Zeit enorme Vermögen akkumulieren. Zuiderhoek widmete sich ebenfalls dem Verhältnis von Urbanismus und Elite, um zu erklären, warum die städtischen Eliten im 3. Jahrhundert abrupt aufhörten, ihre privaten Vermögen für öffentliche Zwecke (Euergetismus) auszugeben. Zuiderhoek argumentierte, dass der Hauptgrund nicht die Abnahme privater Vermögen gewesen sei, sondern die nachlassenden Anreize und Zwänge dazu, sich mithilfe von Stiftungen und der Finanzierung lokaler Politik in der eliteninternen Konkurrenz zu behaupten.
Den Abschluss der Tagung bildeten drei Beiträge, die nach den Fallstudien noch einmal weiter gespannte und vergleichende Perspektiven eröffneten. PETER FIBIGER BANG (Kopenhagen) trat dafür ein, den räuberischen Charakter des römischen Reichs stärker zu berücksichtigen. Dessen „predatory monopoly“ sei von den politischen Eliten ausgeschöpft worden und habe diesen „rent-seeking“ ermöglicht. WALTER SCHEIDEL (Stanford) lotete die Möglichkeiten aus, mithilfe von begründeten Mutmaßungen und epochenübergreifenden Vergleichen Wachstum und Ungleichheit während der römischen Kaiserzeit quantitativ einzuordnen. DAVID GREWAL (Yale) behandelte aus ideengeschichtlicher Perspektive die Frage, inwiefern politisch exklusive Regierungsformen nicht nur die Folge ökonomischer Ungleichheit seien, sondern diese auch förderten und absicherten, indem sie Regeln zum Schutz ungleicher Reichtumsverteilungen durchsetzten.
Die einzelnen Beiträge nahmen auf unterschiedliche Art und unterschiedlich intensiv auf Pikettys Thesen Bezug. Gemeinsam war jedoch allen Beiträgen – das gilt auch für die angeregten Diskussionen zwischen den Vorträgen –, dass sie sich, inspiriert von Piketty, auf das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft fokussierten und dabei insbesondere Ungleichheit thematisierten. Spürbar wurde dabei mehrfach das wachsende Unbehagen darüber, wie diese klassischen Themen im dominierenden Modell der antiken Wirtschaft fehlten, das, inspiriert von der Neuen Institutionenökonomik, zu einer größtenteils optimistischen Einschätzung politischer Institutionen und wirtschaftlicher Dynamiken neige. Pikettys eher pessimistische Sichtweise bietet insofern wichtige Denkanstöße, um hier teils ergänzende, teils alternative Wege bei der Erforschung von Wirtschaft und Gesellschaft zu gehen. Das Konzept der Organisatoren, Pikettys Thesen als Angebote ernst zu nehmen, ohne sie zum Dogma zu erklären, hat sich in diesem Sinne hervorragend bewährt. Es bleibt zu hoffen, dass die Diskussion fortgesetzt wird.
Konferenzübersicht:
Panel 1: Capital and Inequality in History and Historiography
Hartmut Kaelble (HU Berlin): Das Konzept Thomas Pikettys und die Anwendung auf die Sozialgeschichte
Beate Wagner-Hasel (Hannover): „Was in Truhen und Kisten lagert“: Zum Begriff von Besitz und Kapital in der griechischen Antike bei Karl Bücher
Myles Lavan (St Andrews): The dynamics of inequality in antiquity
Panel 2: Economic Management in Classical Athens
Sven Günther (Changchun): Framing Capital: Xenophon’s Economic Model and Social System
Lara Laviola (FU Berlin): Wealth redistribution in classical Athens (entfallen)
Panel 3: Limits to Capital Accumulation in Classical Greece
Michael Leese (New Hampshire): Problems in the Long-Term Accumulation of Commercial and Financial Capital in Ancient Greece
Dorothea Rohde (Bielefeld): Pikettys Dilemma: Steuern im Athen des 4. Jahrhunderts
Panel 4: Capital and Inequality in the Roman World
Colin Elliott (Indiana): Non-Neutral Money and Systemic Inequality in the Roman Principate
Paul Kelly (KCL): Was r > g? – evidence from Roman Egypt
Panel 5: Revenue and Capital Accumulation in Late Republican Rome
Max Koedijk (FU Berlin): Does wealth beget wealth? The case of Cicero
Bertrand Augier (École Française de Rome): New Men in the Roman Economic Revolution
Cristina Rosillo-López (Sevilla): Capital, rental prices and monetary policy in the Roman world: a measure of inequality?
Panel 6: Urbanization and Capital Formation in the Roman Empire
John Weisweiler (Maryland): Predation, Urbanization and Capital Formation in the Early Imperial Senate (14-235 CE)
Arjan Zuiderhoek (Ghent): Elite wealth, institutional change and the development of urbanism in the third-century Roman east
Panel 7: Comparative Perspectives
Peter Fibiger Bang (Copenhagen): The disparities of empire: the economic integration of predatory monopoly
Walter Scheidel (Stanford): Roman wealth and wealth inequality in comparative perspective
David Grewal (Yale): Oligarchy Ancient and Modern