Dass Spanien „anders“ sei, ist ein Slogan, der immer wieder bemüht wurde, um auf „Eigenheiten“ zu verweisen, zu denen auch der Staatsbildungsprozess zählt. Die Fragen nach Identität und Nationalismus sind untrennbar miteinander verwoben und haben Diskurse geschaffen, in denen Geschichte als Argument dient: Regionen wie Katalonien begründen ihre Forderungen nach einem größeren Autonomiestatus und rechtfertigen ihre separatistischen Tendenzen u.a., indem sie auf die Besitzungen der Krone von Aragón in Mittelalter und früher Neuzeit, oder auf ihre Vergangenheit als besonders intensiv romanisierte Provinz der Iberischen Halbinsel verweisen. Der Nationalstaat selbst sucht sich in Abgrenzung von seiner arabisch-islamischen Vergangenheit zu definieren.
Ziel des Studientages, den Toletum, das „Netzwerk zur Erforschung der Iberischen Halbinsel in der Antike“, in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg und der Alexander von Humboldt Stiftung (Anneliese Maier Award 2014, PI Maribel Fierro Bello, „Practicing knowledge in Islamic societies and their neighbours“) veranstaltete, war es, den Zusammenhang von Nationalismus und Identität epochenübergreifend und aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen in den Blick zu nehmen, um abschließend die Frage zu diskutieren, ob Spanien in dieser Hinsicht tatsächlich einen „Sonderweg“ gegangen ist.
Daher fragten SABINE PANZRAM (Hamburg) und ALEJANDRO GARCÍA SANJUÁN (Huelva) einleitend nach den Ursprüngen dieser in Spanien und seinen Regionen gegenwärtig wieder stärker bemühten Narrative. Der Rekurs auf den seit den 1960er Jahren in Kombination mit folkloristischen Bildern touristisch verwerteten Slogan „Spain is different“ weist dabei bereits darauf hin, dass hierbei keine eindeutigen Antworten zu erwarten sind. Anknüpfungspunkte für ihre unterschiedliche Instrumentalisierung bot die spanische Geschichte genügend, gerade wenn – wie noch unter Franco – die Ausprägung eines geeinten und unverwechselbaren Nationalcharakters bis in die Spätantike zurückprojiziert wurde. Jüngere Autonomiebestrebungen etwa der Basken oder Katalanen finden in den kulturlandschaftlichen Eigenheiten der antiken Iberischen Halbinsel sogar noch jenseits dieses Zeitrahmens willkommene identitätsstiftende Argumente. Hinzu kommt, dass aktuelle politische Doktrinen wie der Kampf gegen den Terror und eine mit diesem einhergehende Islamophobie nicht nur zweifelhafte nationalgeschichtliche Vergleichsmomente – allen voran die Reconquista – evozieren, sondern dafür auch entsprechende historiographische Untermauerungen präsentieren.
Wie weit zurück sich die spanische Nationalbewegung an antiken Ereignissen orientiert hat, zeigte FERNANDO WULFF ALONSO (Málaga) zunächst anhand einiger markanter Beispiele aus der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts. Unter den Eindrücken der napoleonischen Besetzung erlebten hier Sujets wie die Ermordung des Lusitaniers Viriatus oder die Eroberung des keltiberischen Numantia populäre Ausgestaltungen. Gerade letztere Episode hatte durch ihre Verarbeitung in der „Numancia“ Miguel de Cervantes’ bereits im 16. Jh. als Kommentar der zeitgenössischen Politik Karls V. herhalten müssen. Kontinuitäten von Invasionserfahrungen und deren Verarbeitung hätten demnach schon bald nach der Vereinigung der Kronen von Aragón und Kastilien 1492 zum „Geschichtsbedarf“ eines geeinten Spaniens gehört. Die entsprechenden identitätsfördernden Rückbezüge auf Antike oder Mittelalter seien aber kein exklusiv spanisches Phänomen gewesen, da beispielsweise auch in Deutschland im Umfeld der Befreiungskriege von 1813 oder in Frankreich mit den Figuren des Vercingetorix oder der Jeanne d’Arc zeitgleich ähnliche Motive bemüht wurden.
Einem alternativen Geschichtsentwurf, der in Katalonien bis heute einen großen Nachhall besitzt, spürte VICENT BAYDAL SALA (Castelló de la Plana) nach. So sei das Modell eines bereits im Hochmittelalter demokratisch konstituierten und weitgehend autark agierenden katalanischen Regionalparlaments in erster Linie durch Historiographen des 19. Jahrhunderts (Antonio de Capmany, Víctor Balaguer, Juan Cortada) unter verschiedenen Gesichtspunkten thematisiert worden. Dass sich diese auf liberalen englischen Vorbildern fußende politische Organisation Kataloniens früh und fortschrittlich in regelmäßigen Vereinbarungen zwischen Kirche, Adel und König zur Aushandlung eines Mächtegleichgewichts geäußert habe, sei allerdings erst durch Jaume Vicens Vives (1910-1960) ausformuliert und von ihm im Konzept des pactisme zusammengeführt worden. Vives’ auch in der jüngeren Forschung breit rezipierte Werke bekräftigten zugleich die von früheren nationalistischen Autoren betonte Distinktion zu einem von Absolutismus und Zentralismus beschnittenen Parlamentarismus in Kastilien, was maßgeblich zur Popularisierung des pactisme-Begriffs gerade aus separatistischer Perspektive geführt habe.
Wie insbesondere die ältere Kirchengeschichtsschreibung nachhaltigen Einfluss auf jüngere Theoriebildung ausübte und so zur Manifestation der These eines spanischen Sonderwegs beigetragen habe, erläuterte PATRICK HENRIET (Paris). Dabei falle auf, dass das dezidierte katholische Bekenntnis vieler Autoren diese auch bei sonstigen Aspekten der spanischen Geschichte bereitwillig einer an Kirchendoktrinen ausgerichteten Methodik folgen ließ. Was demnach bei dem Jesuiten Juan Francisco Masdeu (1744-1817) mit einer Parallelisierung der monarchischen und kirchlichen Entwicklung begonnen habe, fand in den 1850er Jahren seine Fortsetzung in der Lesart einfallender Westgoten und Araber als reinigende Gottesstrafe bei Vicente de la Fuente und schließlich der gleichnishaften Deutung des Sozialismus als einer „Stadt des Teufels“ bei Zacarias García Villada (1879-1936). Insbesondere prägend für die These einer innerhalb Europas lange isolierten Kirche war aber Marcelino Menéndez Pelayo (1856-1912). Ihm zufolge hatte die Durchsetzung häretischen Gedankengutes in einem derart vom Katholizismus dominierten spanischen Nationalcharakter nie eine Aussicht auf Erfolg gehabt.
Den Blick auf die jüngste Vereinnahmung des Narrativs einer 1492 vollendeten Befreiung des arabisch besetzten Andalusiens richtete ALEJANDRO GARCÍA SANJUÁN (Huelva). In einer medialen Blütenlese zeigte er, dass die Reconquista und ihre historischen Jubiläen als politisches Argument gegen den Islam in der konservativen spanischen Presse ebenso regelmäßig bemüht werden wie inzwischen vor allem durch spanische Rechtspopulisten in den sozialen Medien. Dabei hätten Ereignisse wie die Anschläge vom 11. September 2001 und – in der spanischen Erinnerung ähnlich nachhaltig – in Madrid am 11. März 2004 dazu geführt, dass die Thesen eines sich bereits früh gegen die Araber zusammenschließenden Spaniens, wie sie vor allem der Historiker Claudio Sánchez-Albornoz (1893-1984) wirkmächtig vertrat, seither eine Renaissance erleben. Einer differenzierteren Betrachtung der historischen Realitäten steht dabei die fehlende Aktualisierung von Begrifflichkeiten im Wege, was etwa die seit 1936 unverändert gebliebene maßgebliche lexikalische Definition der „Reconquista“ als „Rückeroberung spanischen Territoriums“ verdeutliche.
Fehlende Erfahrungen einer Modernisierung analog zu den übrigen Nationen Europas waren aus Sicht von XAVIER ANDREU MIRALLES (Valencia) mit entscheidend für die im Spanien des 19. Jahrhunderts vertretene Position des Exzeptionalismus. Deren Anhänger wussten dabei die ökonomische Rückständigkeit des Landes als positives Exemplum von Beständigkeit und moralischer Überlegenheit umzudeuten und bedienten dabei – ähnlich wie zeitgleich in Griechenland – romantisierende Vorstellungen und Klischees. Erst der Liberalismus und die Inanspruchnahme der eigentlich modernitätsfeindlichen Kirche im Sinne eines „katholischen Bürgerrechts“ hätten dann zu einer breiteren Akzeptanz eines modernistischen aber gleichwohl „sakralisierten“ Nationalstaatskonzeptes geführt. Die infolge einsetzende – eine bessere internationale Vergleichbarkeit ermöglichende – Phase der „Normalisierung“ sei aber durch anhaltende Kritik am Modernismus, wie sie etwa im Postkolonialismus geäußert wurde, wieder hinterfragt worden.
Mit dem Dritten Konzil von Toledo präsentierte FRANCISCO J. MORENO MARTÍN (Madrid) einen der Schlüsselmomente für das traditionelle Geschichtsbild Spaniens. Hierbei zeichnete er zunächst die Rezeption des historischen Kerns – der im Jahr 589 erfolgten Annahme des katholischen Glaubensbekenntnisses durch den Westgotenkönig Rekkared – in mittelalterlichen Chroniken und der Historiographie des 19. Jahrhunderts nach. Dass nach dem spanischen Bürgerkrieg nahtlos an die sich dort bereits zuvor etablierte Lesart dieser Ereignisse als Gründungsakt des spanischen Nationalstaats angeknüpft wurde, verdeutlichte dann eine ikonographische Analyse einiger das Toledaner Konzil memorierende Denkmäler. Die nationalistisch-legitimatorische Funktion der Konversion Rekkareds im Spanien Francos und darüber hinaus zeigte sich eben nicht nur in dem 1969 in Toledo eingerichteten „Museo de los Concilios y de la Cultura Visigoda“, sondern wird bis heute publizistisch tradiert.
Ob das Franco-Regime, dessen Langwierigkeit häufig als maßgeblich für das Aufrechterhalten (bzw. Erneuern) der These eines spanischen Sonderwegs im 20. Jh. gesehen wird, eine besondere Konstellation innerhalb Europas dargestellt hat, untersuchte NIGEL TOWNSON (Madrid). Deutlich sei hier einerseits die starke Zäsur, die Francos Diktatur ab 1945 nicht nur für die Reformanstrengungen der 1930er Jahre, sondern generell für den Liberalismus in Spanien darstellte und das Land dadurch zunächst international isolierte. Dass allerdings auf lange Sicht das faschistische Spanien „not so different“ war, zeige der Blick auf andere süd- und osteuropäische Staaten, die teilweise – wie Portugal, Griechenland, Polen oder Jugoslawien – ebenfalls mitunter nachhaltig von Militarismus, omnipräsenter Symbolpolitik oder Bildungsreformen unter nationalistischen Vorzeichen geprägt waren. Die in Frankreich oder England gepflegte nationalistische Ausdeutung der militärischen Erfolge im Zweiten Weltkrieg lasse sich unter Umständen auch in diese Richtung interpretieren. Auch weil vielen der drastischen Umerziehungsmaßnahmen Francos kein nachhaltiger Erfolg beschieden war, sei das – sich zudem mittelfristig diplomatisch und ökonomisch wieder im westeuropäischen System etablierende – Spanien der Nachkriegsjahrzehnte somit eher kein Ausnahmefall gewesen.
Einen Rekurs auf die aktuellen Geschehnisse im Umfeld der katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen stellte schließlich ULRICH HOINKES (Kiel / New York) seiner sprachlichen Analyse des „katalanischen Problems“ und dessen medialer Präsenz voran. Der von ihm attestierte Mangel an Dialogbereitschaft seitens der spanischen Zentralregierung in dieser Angelegenheit sei letztlich grundlegender als Teil einer „language ideology“ gegenüber der katalanischen Sprache zu beklagen. Jene nur als Teil eines gemeinschaftlichen kulturellen Erbes zu betrachten, ihr aber nicht die innerhalb der Region beanspruchte identitätsstiftende und alltagstaugliche Rolle zuzugestehen, verhindere so bislang die gleichberechtigte Wahrnehmung der separatistischen Perspektive. Auf Spanisch publizierte Äußerungen zum spanisch-katalanischen Konflikt würden infolge auch international eher als autoritativ angesehen, was eine unhinterfragte Übernahme entsprechend einseitiger Positionen begünstige.
Resümierend und den Eindrücken einer intensiv und emotional geführten Schlussdebatte folgend forderten Sabine Panzram und Alejandro García Sanjuán abschließend dazu auf, sich auch jenseits aktueller Diskurse darauf zu verständigen, welchen Beitrag die versammelten Disziplinen zu einem besseren Umgang mit den in Spanien kursierenden historischen Narrativen leisten können und sollten. Dass einer künftigen Instrumentalisierung letzterer nur durch eine kritischere Lesung älterer, aber bis dato maßgeblich gebliebener historiographischer Ansätze und eine akribische Dekonstruktion der inzwischen vielfach nationalistisch und populistisch verklärten Sachverhalte begegnet werden kann, wurde in den verschiedenen Beiträgen des Studientages mehr als sichtbar.
Konferenzübersicht:
Sabine Panzram (Alte Geschichte, Universität Hamburg) / Alejandro García Sanjuán (Mittelalterliche Geschichte / Universidad de Huelva): Welcome and introduction
Fernando Wulff Alonso (Alte Geschichte, Universidad de Málaga): Ancient History and Identity Constructions in Spain (16th-20th Centuries)
Vicent Baydal Sala (Rechtsgeschichte, Universitat Jaume I Castelló de la Plana): The ‘Invention’ of Pactism. Catalan nationalism, Jaume Vicens Vives and the History of the Crown of Aragon in the Spanish post-Civil War Period
Patrick Henriet (Mittelalterliche Geschichte, École Pratique des Hautes Études Paris): The Christian Middle Ages on the Iberian Peninsula – Nationalism and History (End of the 18th-20th Centuries)
Alejandro García-Sanjuán (Mittelalterliche Geschichte, Universidad de Huelva): “Are there any moors in the coast?” Al-Andalus and Spanish Nationalism
Xavier Andreu Miralles (Neuere und Neueste Geschichte, Universidad de Valencia): The Multiple Burdens of ‚Modernity‘. Spanish Nationalism in the 19th Century
Francisco J. Moreno Martín (Kunstgeschichte, Universidad Complutense de Madrid): How to Use Art History to Legitimize Nationalism: The 3rd Council of Toledo in Modern and Contemporary Spain
Nigel Townson (Neuere und Neueste Geschichte, Universidad Complutense de Madrid):
National Identity under the Franco Dictatorship: An Exceptional Reconfiguration?
Ulrich Hoinkes (Romanische Philologie, Universität Kiel / Columbia University New York): The Catalans’ struggle for independence in its predominant perception as a threat for Spain and Europe
Sabine Panzram (Alte Geschichte, Universität Hamburg) – Alejandro García Sanjuán (Mittelalterliche Geschichte / Universidad de Huelva): Debate and conclusions