Geschichte(n) über Räume und Zeiten. Translokale Perspektiven auf globale RaumZeiten

Geschichte(n) über Räume und Zeiten. Translokale Perspektiven auf globale RaumZeiten

Organisatoren
Forschungszentrum Gotha
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.04.2018 - 27.04.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Jobs, John-F.-Kennedy-Institut, Freie Universität Berlin

Die Erfurter Raum-Zeit-Gruppe hat sich in den letzten Jahren als feste Größe in der Diskussion über die Historisierung der beiden namensgebenden Kategorien etabliert. Vor dem Hintergrund regional- und globalhistorischer Perspektiven ist sie dabei zum Diskussionsforum für Historiker/innen geworden, die zwei anscheinend stabile Größen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens dekonstruieren und kritisch reflektieren. Für die diesjährige Frühjahrstagung am Forschungszentrum Gotha hatten die Organisator/innen in enger Zusammenarbeit mit den Vertreter/innen des Arbeitskreises Außereuropäische Geschichte im VHD das Thema ‚Translokalität‘ in den Mittelpunkt der Beiträge gestellt. Die Veranstaltung wurde großzügig von der Ernst-Abbe-Stiftung und der Universität Erfurt unterstützt. Dabei war eine der großen Stärken des Workshops, dass methodisch-anspruchsvolle Diskussionen mit Vorträgen, theoretische Reflexionen mit Fragen von Umsetzung und Anwendbarkeit vereinten.

Der Begriff des Translokalen, so die Organisator/innen SEBASTIAN DORSCH, IRIS SCHRÖDER (beide Erfurt/Gotha) und ACHIM VON OPPEN (Bayreuth), erlaube es historische Phänomene in ihren vielfältigen räumlichen und zeitlichen Verknüpfungen sichtbar zu machen und dabei je lokal Erlebtes oder Erlittenes miteinander zu vergleichen oder global ins Verhältnis zu setzen. Mit Verweis auf die größere Flexibilität des Konzepts grenzten die Veranstalter/innen diesen konzeptionellen Rahmen bewusst von Begriffen wie „transnational“ ab – die ja auch wieder die Nation als Bezugspunkt betonen würden. Als Arbeitskonzept schlugen die Organisator/innen einen breit angelegten Zugriff auf Translokalität vor, der sowohl individuelle Akteure als auch abstraktere Diskursformationen oder kulturelle Praktiken in den Blick nehmen sollte.

Den Auftakt des Workshops bildete eine Führung durch die Perthes-Sammlung Gotha. Der Perthes-Verlag galt im 19. und 20. Jahrhundert als eines der Zentren des geo- und kartographischen Weltwissens. Anhand einschlägiger Materialien und in ausführlichen Diskussionen konnte SVEN BALLENTHIN (Gotha) zusammen mit den Organisator/innen zeigen, von welchen translokalen, materiellen und alltäglichen Formationen aus Weltwissen produziert wurde.

Den Diskussionen des Workshops ging ein Abendvortrag von ACHIM LANDWEHR (Düsseldorf) voraus, der im Rückgriff auf seine schon eingeführte Idee der Chronoferenzen Geschichteschreiben als Verhältnis und als Praxis des vielschichtigen und durchaus widersprüchlichen Verknüpfens durch Historiker/innen interpretierte. Anhand zahlreicher Beispiele und anspruchsvoller theoretischer Überlegungen zeigte er die verschiedenen zeitlichen Ebenen und Bezugspunkte auf, die beim geschichtswissenschaftlichen Arbeiten und Interpretieren eine Rolle spielen. Somit sei vor allem das Mantra linearer Zeitvorstellung im Geschichtsschreiben fragwürdig, fallen doch im Akt des Schreibens Verweise auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Verschiedene Zeitschichten beziehen sich aufeinander und erzeugen einander.

In den einzelnen Sektionen des folgenden Tags wurden verschiedene Arbeitsbereiche der Arbeit mit Translokalität abgedeckt. ANGELIKA EPPLE (Bielefeld) diskutierte im ersten Panel die Produktivität des Vergleichsparadigmas für historische Forschung. In Anlehnung an die Grundfragen des SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens“ (Bielefeld) sprach sie sich für einen praxeologischen Ansatz aus, der konkrete Akteure und ihre jeweiligen Relationierungen und Positionierungen analysiert. Einen überraschenden und zugleich sehr inspirierenden Beitrag lieferte MARTIN OTT (Bamberg) mit seinen Einlassungen zu Fremd- und Selbstwahrnehmungen in Oberfranken. In seiner konsequent lokal ausgerichteten Forschung zeigte Ott anhand industriehistorischer Analysen die vielfältigen Fluchtlinien von Translokalität - nämlich zum einen die vielfältigen Randlagen Oberfrankens innerhalb des Königreichs Bayern sowie in der Nachkriegs-Bundesrepublik. Zum anderen zeigte er auf, wie seit den 1990er Jahren global ausgerichtete Konkurrenzsituationen mit Betrieben beispielsweise in China die kulturelle, soziale und geografische Verortung Oberfrankens zwischen Behauptungs- und Opfermythos geprägt haben.

Im zweiten Panel stellte IRIS SCHRÖDER (Erfurt/Gotha) Kartografie-Geschichte als eine Mikrogeschichte des Globalen vor. Im Blick auf die Praktiken des (Ver)Zeichnens zeigten sich, jenseits abstrakter globalgeschichtlicher Formationen, (Wissens)Akteure des Globalen und ihr Beitrag zu vermachteten Strukturen – im Wissen über die Vielsprachigkeit von Welt und wortwörtlich die Maßstäbe, in denen sie dargestellt wurde. Karten des 19. Jahrhunderts waren dabei nicht nur Abbildungen, sondern auch Manifestationen von Zivilisationsvorstellungen und Hoffnungen auf Zukünftiges. MARGIT PERNAU (Berlin) stellte in ihrem Beitrag eine konzeptionelle Skizze des beginnenden Großprojekts „Globalgeschichtliche Grundbegriffe (3G)“ vor. Um der Gefahr eurozentristischer Globalgeschichte wirksam entgegen zu treten, sei es notwendig, große Konzepte wie ‚Bürger‘ in ihren jeweiligen globalen wie lokalen Bedeutungen zu interpretieren. Dabei standen für Pernau sprachliche wir raumorientierte Ordnungsprinzipien gleichwertig nebeneinander. Gleichzeitig zeigten sich anhand dieses Projekts jedoch auch die zentralen Herausforderungen translokalen Forschens: Wie bündelt und organisiert man beispielsweise personell eine solch breit angelegte Expertise? Wer entscheidet über die Kanonbildung? Wie integriert man eine Diversität von Stimmen?

In einem ‚Zwischenruf‘ sprach sich ALF LÜDTKE (Erfurt/Berlin) für einen neuen Blick auf das Warten als Praxis eines „in-between“ aus. Hierbei nutzte er verschiedene Bedeutungsebenen des Worts (Warteraum, Wartezeit, Erwartung), um Warten als konkrete Aktivität und nicht nur als Passives zu betrachten. Im Warten sehe er eine Art, Haltung zu zeigen, die keineswegs intentional oder zielgerichtet sein müsse, sondern vielmehr Emotionen wie Neugier und Angst reflektiere oder es erlaube, sich zu Umweltphänomenen wie Geschwindigkeit und Beschleunigung (z.B. der Eisenbahn) zu verhalten.

In einer Sektion, die sich auf Kolonialgeschichte(n) konzentrierte, sprach BENJAMIN STEINER (Frankfurt am Main) am Beispiel des französischen Kolonialreichs des 18. und 19. Jahrhunderts über die Verknüpfungen von Empire und Raum. Die translokalen Austauschprozesse zeigte Steiner überzeugend anhand von kolonialer Architektur (z.B. Festungen und Schmuckbauten), die die Verflechtungen zwischen St. Domingue, dem Senegal und den Antillen zeigten. Diese Verknüpfungen verdeutlichten, so Steiner, die Relationalität imperialer Herrschaft und die Auflösung der angestrebten Dichotomie zwischen vermeintlichem Zentrum und anscheinender Peripherie. EVA BISCHOFF (Trier) analysierte in ihrem Vortrag religiöse Akteure während des Siedlerimperialismus im 19. Jahrhundert in Australien. Ihr Fokus auf die Quäker als religiöse Gruppe, aber auch als politische Akteure zeigte, welche Rolle Ideologien und persönliche Netzwerke im Aushandeln imperialer Herrschaft hatten. Dabei hob sie hervor, dass rechtliche Vereinbarungen (wie Landabtretungsverträge) stets in atlantischer Tradition standen und gleichzeitig immer auch modifiziert waren, um auf lokale Verhältnisse und Beziehungen einzugehen.

Ein sehr gutes Händchen für das Programm zeigten die Organisator/innen noch einmal am Ende der Veranstaltung. Anstelle eines runden und gut abgehangenen Vortragsmanuskripts stellte PHILIPP BERNHARD in Kooperation mit SUSANNE POPP (beide Augsburg) aus geschichtsdidaktischer Sicht konkrete Fragen zur Umsetzung des Translokalitätskonzepts im Geschichtsunterricht in Schulen. Anhand dieses Impulses diskutierten die Teilnehmer/innen Defizite des derzeitigen Geschichtsunterrichts in der Repräsentation außereuropäischer und globalhistorischer Perspektiven sowie mögliche Unterrichtskonzepte und -beispiele, die dabei helfen könnten, den Unterricht für neue Perspektiven zu öffnen. Auf einer Meta-Ebene reflektierten sie dabei weit verbreitete gesellschaftliche Vorstellungen von Geschichte und spannten resümierend einen Bogen zu den diskutierten Potentialen des Konzepts.

Die knackige Begrenzung auf einen Tag und der Fokus auf das (Trans-)Lokale waren die offensichtlichen Stärken dieses Workshops. Das Format erlaubte das Zusammenbringen von kleineren Lokalstudien wie auch von den vermeintlich großen Fragen nach Herrschaft, Ressourcen und Strukturen als Objekte historischer Forschung und Lehre. Die beständige Verortung der Analysen im Lokalen in Abgrenzung zu anderen Raum- und Ideologiekategorien war dabei sehr überzeugend. Eine Frage stand jedoch immer wieder im Raum, ohne dass sie konkret ausgesprochen wurde: Nach zwanzig Jahren mit diversen „trans“-Paradigmen haben wir uns als Wissenschaftler/innen so an dieses Präfix gewöhnt, dass es anscheinend keiner weiteren Erklärung bedarf. Abgesehen von den sehr erfolgreichen Arbeiten mit Konzepten wie trans-national oder trans-lokal erscheint es jedoch immer wieder notwendig, vermeintlich selbsterklärende Grundannahmen auf den Prüfstand zu stellen. Welche Art von Beziehungen beschreibt das Präfix? Welches sind die Bezugs- und Analyseebenen für translokales Handeln? Sebastian Dorsch hat diese Fragen an anderer Stelle schon sehr produktiv besprochen und den Forschungsstand kritisch beleuchtet.1 Für diese Art von methodisch-kritischem Denken gab es bei dem Workshop in Gotha viel Raum – mehr davon!

Konferenzübersicht:

Keynote

Achim Landwehr (Düsseldorf): Geraume Zeiten

Iris Schröder / Sebastian Dorsch (beide Erfurt / Gotha) / Achim von Oppen (Bayreuth): Einführung

Sektion 1: Translokalitäten: Relationalitäten und Narrative

Angelika Epple (Bielefeld): Im Vergleichen lesen wir die Raum/Zeit. Komparative Raum-/Zeitkonstruktionen um 1800

Martin Ott (Bayreuth): Strukturwandel als translokales RaumZeit-Narrativ der Deindustrialisierung Oberfrankens

Sektion 2: Globale Geschichte translokal

Iris Schröder (Erfurt / Gotha): Time-Space-Relations. Kartographie und die Mikrogeschichte des Globalen

Margrit Pernau (Berlin): Globale Geschichtliche Grundbegriffe (3G) und die Potentiale des Translokalen

Alf Lüdtke (Erfurt / Berlin): Zwischenruf „Warträume“ – „Wartezeiten“

Sektion 3: Translokale Kolonialgeschichten

Benjamin Steiner (Frankfurt am Main): Relationalitäten des Empire. Translokale Beziehungen im französischen Kolonialraum am Beispiel der Antillen und des Senegals im 17. und 18. Jahrhundert

Eva Bischoff (Trier): Auf der Suche nach dem „Great Elm Tree“: Siedlerkolonialismus und Konzepte von RaumZeit im kolonialen Australien

Sektion 4: Geschichtsdidaktische Überlegungen zu Translokalitäten

Philipp Bernhard / Susanne Popp (Augsburg): Translokalität als Herausforderung für welt- und globalgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht

Abschlusssektion

Achim Landwehr (Düsseldorf) / Alf Lüdtke (Erfurt / Göttingen): Kommentare

Anmerkung:
1 Sebastian Dorsch, Translokale Wissensakteure. Ein Debattenvorschlag zu Wissens- und Globalgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016), S. 778–795.