Unsichtbares und Unsichtbare - vom Erforschen des Nichtsichtbaren und von nicht sichtbaren Forscher/innen

Unsichtbares und Unsichtbare - vom Erforschen des Nichtsichtbaren und von nicht sichtbaren Forscher/innen

Organisatoren
Driburger Kreis
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.09.2018 - 12.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Raphael Longoni, Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, Universität Bern; Jason Pollhammer, Lehrstuhl zur Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocaust, Goethe-Universität Frankfurt am Main; Antina Scholz, Interdisziplinäres Zentrum für Wissenschafts- und Technikforschung, Bergische Universität Wuppertal

Im Rahmen des Themas „Unsichtbares und Unsichtbare - vom Erforschen des Nichtsichtbaren und von nicht sichtbaren Forscher/innen“ trafen sich Studierende, Promovierende und Nachwuchswissenschaftler/innen der Wissenschafts-, Technik- und Medizingeschichte und stellten ihre Forschungsprojekte vor.

CAROLINE BAUER (Regensburg) führte in das Tagungsthema ein, indem sie den Gegenstand des ‚Unsichtbaren‘, der seit mindestens 30 Jahren erforscht wird, erläuterte. Ein großer Teil der an Wissensproduktion beteiligten Akteur/innen wird von den Wissenschaften traditionell ausgeblendet und auf die meist weißen, männlichen Gelehrten reduziert. Frauen, Technikern und Personen mit zudienender Funktion wird die philosophische Erkenntnisfähigkeit aufgrund äußerlicher und ideologischer Gruppenzuschreibungen abgesprochen und sie bleiben unrepräsentiert – was mit dem wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch schlecht vereinbar ist. Ebenso problematisch ist die Tatsache, dass vor allem sichtbare Gegenstände erforscht werden, wodurch ein positivistisches Grundprinzip reproduziert wird. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage des epistemischen Zugangs zum Unsichtbaren. Die Tagungsbeiträge widmeten sich daher der Frage, wie unsichtbare Sachverhalte ergründet werden können, welche Methoden und Grundlagen dazu verwendbar sind und wie Ausschluss von an Wissenschaft Beteiligten funktioniert.

KIM-GERALDINE SCHUBERT (Regensburg) verdeutlichte in ihrem Beitrag die Unterrepräsentation des feministischen Diskurses in der Theoriegeschichte am Beispiel des Publikationsverhaltens des Berliner Merve Verlags 1970-1990. Gedruckt und vertrieben wurden Theorien aus dem sozialistischen Spektrum, die die 1960er-Jahre hervorgebracht hatten. So fanden neomarxistische und postkolonialistische Werke Aufnahme, hingegen blieben feminismustheoretische Ansätze vorerst wenig berücksichtigt, obwohl sie einen prominenten Teil des zeitgenössischen Theoriediskurses ausmachten. Erst die poststrukturalistische Wende veranlasste den Verlag nach 1976, vermehrt feministische Texte zu drucken, wobei diese dann allerdings in der nunmehr antiquiert wirkenden Tradition neomarxistischer Autorinnen präsentiert wurden. Als einen der Gründe für diese unzeitgemäße Behandlung führte Schubert eine für Frauen unzugängliche Gestaltung der Narrativstruktur des zeitgenössischen theoretischen Diskurses an und plädierte für eine stärkere Integration feministischer Konzepte in die Theoriegeschichte.

Der Vortrag von FRIEDRICH CAIN (Erfurt) thematisierte, vor dem Hintergrund seiner Rechercheerfahrungen zu seiner Dissertation Wissen im Untergrund. Polnische Universitäten im Zweiten Weltkrieg, methodische Probleme im Umgang mit archivierten persönlichen Nachlässen. Cain machte auf die Rolle der Archivar/innen aufmerksam, die das Material nicht nur durch Kassation, sondern auch durch Neuordnung veränderten und stellte in diesem Zusammenhang die Anweisungen für die archivarische Bearbeitung handschriftlicher Nachlässe vor, die im Jahr 1958 an der Polnischen Akademie der Wissenschaften erarbeitet und international zum Vorbild wurden. Diese Strukturierung, die durch die Archivar/innen vorgenommen wird, wird in Cains Fazit als problematisch geschildert, da bestimmte Forschungsfragen mit Hilfe der vorstrukturierten archivalischen Materialien nicht mehr erforschbar seien.

BARBARA HOF (Zürich) zeigte anhand der Personalpolitik und der medialen Kommunikation der US Atomic Energy Commission (AEC) nach 1945 auf, wie die Produktionsumstände kernphysischen Wissens gezielt verschleiert und ein Großteil der Urheber/innen für die Öffentlichkeit unsichtbar gemacht wurden. So wurde zum einen der Betrieb des Teilchenbeschleunigers im Testlabor in Oak Ridge (TN) von Techniker/innen, Sicherheits- und anderen Administrativkräften sowie Wissenschaftlern gewährleistet, die im Rahmen der Spionageabwehr des Kalten Krieges mit Hilfe interner Bildpropaganda zur Geheimhaltung ihrer Tätigkeit ermahnt wurden. Zum anderen konstruierte die AEC unter anderem mit Hilfe des Fotografen Ed Wescott ein institutionenbezogenes Erfolgsnarrativ des Forschungszweiges, in welchem der virulenten Streikkultur der Arbeiter/innenschaft und ihrer Bekämpfung per Streikverbot und Entlassungen ab 1950 kein Platz eingeräumt wurde.

Vor dem Hintergrund der Karrieren zweier Wissenschaftler, Ruchi Ram Sahni (1863-1948) und Suekichi Kinoshita (1877-1934) thematisierte AMELIA BONEA (Heidelberg) die Rolle der ‚minor scientists‘, die weder internationale Aufmerksamkeit von ihren Fachkollegen erhielten noch in der Wissenschaftsgeschichte oder der Öffentlichkeit Beachtung finden und somit als ‚unsichtbar‘ gelten können. Dass die Erforschung der Karrieren solcher ‚unsichtbaren‘ Wissenschaftler aber durchaus fruchtbar sein kann, zeigte Bonea am Beispiel von Sahnis und Kinoshitas Wirken im Bereich der Erforschung der Radioaktivität. Da die beiden Wissenschaftler an verschiedenen Orten arbeiteten und aufgrund der Kontakte, die sie somit mit Kollegen verschiedener Länder knüpften, lässt sich durch die Erforschung ihrer Netzwerke viel über die internationale Kooperation in ihrem Forschungsfeld zeigen.

CHRISTINA SCHRÖDER (Bochum) beschrieb den Fall der verwitweten Fürstin Leopoldine Ernestine Juliane von Nassau-Siegen, deren Körper 1742 Verhandlungsgegenstand einer hitzigen medizinischen, politischen und öffentlichen Debatte wurde. Die damals grundsätzliche Unbestimmbarkeit von Schwangerschaft ergab eine Ungewissheit über die Erbfolge der Linie und gewann dadurch eine derart hohe Brisanz, dass der deutsche Kaiser sich des Falls annahm. Atteste über den körperlichen Zustand wurden zu dieser Zeit anhand der eigenen Körperwahrnehmung der vermeintlich Schwangeren sowie der Meinung von Hebammen und Gelehrten ausgestellt. Die Beurteilung durch katholische wie protestantische Gremien fiel denn uneindeutig aus. Die Schwangerschaft musste schlussendlich als Fehldiagnose deklariert und die festgestellten Symptome einer unbestimmbaren Krankheit zugeschrieben werden. Am Beispiel des ungeborenen Kindes zeigt sich der zeitgenössische Wissensstand über Schwangerschaft im Verhältnis zwischen somatischer Selbstwahrnehmung und Gelehrtenwissen.

THERESA HOLLERBACH (Berlin) stellte das Konzept des Arztes Sanctorius Sanctorius (1561–1636) über unsichtbare Ausdünstungen (perspiratio insensibilis) des menschlichen Körpers vor. Diese Ausdünstungen wollte Sanctorius mit Hilfe einer Stuhlwaage quantitativ erfassen. Das schon von Galen beschriebene Gleichgewicht zwischen Nahrungsaufnahme und Ausscheidung war dabei auch für Sanctorius bedeutend für die Gesundheit des Menschen. Hollerbach berichtete, dass Sanctorius durch seine Messungen nachgewiesen habe, dass der Körper eine sehr große Menge an Flüssigkeiten unsichtbar, etwa über die Haut, ausscheide und er deshalb dem Messen dieser unsichtbaren Ausscheidungen eine fundamentale Bedeutung zuschrieb. Abschließend resümiert Hollerbach, dass Sanctorius Lehre nicht als neue medizinische Schule gelten könne, da Sanctorius sich explizit auf die Vorstellungen von Hippokrates und Galen bezog und somit an eine bestehende medizinische Tradition angeknüpft habe.

MARKUS EHBERGER (Berlin) forscht zur Geschichte von theoretischen Konzepten virtueller Teilchen in der Physik. Darunter werden Teilchen verstanden, die nicht beobachtet werden können. In der Physik der 1920er- bis 1940er-Jahre gab es zahlreiche Verwendungen des Begriffs ‚virtuell‘. Ehberger stellte in seinem Vortrag die Frage, weshalb der Begriff jeweils angewendet wurde und ging hierzu auf das Beispiel ‚virtueller Zustände‘ in der Kernphysik und auf virtuelle Photonen ein. Er konnte zeigen, dass in der wissenschaftlichen Handhabung keine Unterscheidung zwischen virtuellen und nicht-virtuellen Konzepten erfolgte.

STEFANIE HAUPT (Berlin) sprach über Otto Sigfrid Reuter und beleuchtete dessen völkische Konzepte einer ‚Germanischen Himmelskunde‘. Reuter ging – anders als die Mehrheit der Wissenschaftler – davon aus, dass bereits die ‚Germanen‘ über erhebliches astronomisches Wissen verfügten. Obwohl er selbst kein ausgebildeter Astronom war, gelang es Reuter seine Ideen als wissenschaftliche Erkenntnisse zu präsentieren. Die veränderten politischen Rahmenbedingungen nach 1933 begünstigten Reuters wissenschaftliche Karriere, da seine Konzepte von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurden.

MATHIS NOLTE (Karlsruhe) befasst sich in seiner Forschung mit der Geschichte der Prothesenherstellung und Prothesenversorgung in der Bundesrepublik. In seinem Vortrag konzentrierte Nolte sich auf die Versorgung mit Beinprothesen. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg stand hierbei die Ausstattung erwachsener Männer mit funktionalen Prothesen im Vordergrund. Alltagstauglichkeit galt als Ziel und wurde mit Arbeitsfähigkeit gleichgesetzt. Dies veränderte sich im Lauf der 1950er- und 1960er-Jahre. In dieser Zeit gewannen zunehmend ästhetische Aspekte an Bedeutung und führten zur Entwicklung und Etablierung neuer Prothesen wie der so genannten Modularprothese.

In der Abschlussdiskussion wurde das Rahmenthema des diesjährigen Driburger Kreises vor dem Hintergrund der Vorträge und Diskussionen reflektiert und weitere Ziele wurden formuliert. Die verschiedenen Vorträge hatten gezeigt, dass es kein einheitliches Bild des ‚Unsichtbaren‘ gibt. Der Großteil der Beiträge beschäftigte sich zwar mit unsichtbar gebliebenen Menschen und Gegenständen, dennoch wurde auch die ‚Unsichtbarmachung‘ und Unsichtbarkeit selbst zum Gegenstand gemacht. Allerdings konnte der Themenkomplex nicht erschöpfend behandeln werden, sodass eine weitere Beschäftigung mit ‚Unsichtbarem‘ wünschenswert ist. In diesem Zusammenhang wurde auch angeregt, eine stärkere theoretische Anbindung zu schaffen. Die Gefahr eine ‚Anti-Helden-Geschichte‘ durch das Hervorheben von Individuen zu schreiben, wurde stark diskutiert. Dabei zeigte sich, dass zwar auch das Sichtbarmachen einzelner Figuren ein legitimes Forschungsinteresse sein kann, aber dennoch die Einbindung in ein größeres Konstrukt zum Ziel gesetzt werden sollte. Zudem wurde auf die praktischen Probleme der Erforschung von ‚Unsichtbarem‘ hingewiesen, insbesondere, wenn über Einzelfälle hinaus Aussagen getroffen werden sollen. Die Mehrdimensionalität des Themas verhinderten eine abschließende synthetische Theoretisierung.

Zum Schluss stellte sich auch in diesem Jahr wieder die AG MITTELBAU der Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte den Teilnehmern/innen des Driburger Kreises vor, die sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Wissenschaftler/innen in Deutschland einsetzt. Nachdem bisherige Tätigkeiten der AG Mittelbau vorgestellt wurden und Nachfragen aus dem Plenum beantwortet worden waren, kam es zu einem regen Austausch über persönliche Erfahrungen und mögliche Lösungsansätze.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Vorstellungsrunde

Caroline Bauer (Regensburg): Einführungsvortrag

Kim-Geraldine Schubert (Regensburg): Theoriegeschichte und feministische Theorie

Friedrich Cain (Erfurt): Die (un-)sichtbare Hand der Archivar/innen

Barbara Hof (Zürich): Streik- und Spionageabwehr: Die Personalpolitik der U.S. Atomic Energy Commission in der Frühphase des Kalten Krieges

Amelia Bonea (Heidelberg): Minor Scientists in Major Science? Two Asian Contributions to Early Radioactivity Research

Christina Schröder (Bochum): Zwischen somatischer Wahrnehmung und gelehrtem Wissen – Schwangerschaften hochadliger Witwen auf dem Prüfstein

Teresa Hollerbach (Berlin): Sanctorius Sanctorius und die perspiratio insensibilis

Markus Ehberger (Berlin): What’s virtual? – Über die Verwendung und die Bedeutung des Begriffs „virtuell“ in der Quantenmechanik und Quantenelektrodynamik der 1930er

Stefanie Haupt (Berlin): „Germanische Himmelskunde“. Die Erfindung einer völkischen Wissenschaft

Mathis Nolte (Karlsruhe): Zeigt her eure Beine? Zur wachsenden Sensibilisierung für kosmetisches Beinprothesendesign in den langen 1960er-Jahren

Abschlussdiskussion und Organisatorisches
Gemeinsame Sitzung mit der AG Mittelbau