Kreative Impulse. Innovations- und Transferleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa

Kreative Impulse. Innovations- und Transferleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa

Organisatoren
Julia Becker / Julia Burkhardt, Forschungsstelle „Klöster im Hochmittelalter. Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle“, Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.02.2019 - 13.02.2019
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Von
Isabel Kimpel, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Haben religiöse Gemeinschaften Innovationsleistungen mit gesellschaftlicher Relevanz erbracht? War die monastische Lebensform ein Innovationskriterium? Inwieweit fungierten religiöse Gemeinschaften als politische Impulsgeber? Welchen Einfluss hatte die persönliche Strahlkraft einzelner prominenter Religiosen? Welche Sichtbarkeit und Raumwirkung wiesen die Innovationen der religiösen Gemeinschaften auf? Diese Fragen warfen JULIA BECKER und JULIA BURKHARDT (beide Heidelberg) zu Beginn der von ihrem interakademischen Forschungsprojekt „Klöster im Hochmittelalter. Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle“ veranstalteten internationalen Konferenz auf, wo die genannten zentralen Fragestellungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich, Tschechien sowie den Vereinigten Staaten von Amerika diskutiert wurden.

Den Auftakt der ersten Sektion gab EVA SCHLOTHEUBER (Düsseldorf) mit einem Vortrag, der verschiedene Wissenszugänge sowie das Selbstverständnis der Mönche und Nonnen im Mittelalter beleuchtete. Sie stellte in den Vordergrund, dass sich mit dem Aufkommen neuer monastischer Lebensformen auch eine neue Definition von „Wissen“ entwickelte. Die Frage, ob Bildung oder Verstand höher einzuschätzen sei, unterschied die konkurrierenden Wissenszugänge, wobei die monastisch-eremitischen Gemeinschaften einen durch ihre Lebensform bedingten, exkludierenden Ansatz verfolgten. Ebenfalls durch ihre räumliche Abgeschlossenheit eigneten sich Klöster in besonderem Maße zur Reflexion gesellschaftlich-laikaler Modelle. Theoretische Gesellschaftsentwürfe, aber auch wirtschaftlich-technische Innovationen rückten durch Selbst- und Fremdzuschreibung in den Verantwortungsbereich der Mönche und Nonnen und prägten ihr Selbstverständnis.

In der anschließenden Diskussion wurde noch einmal deutlicher die Frage nach dem Ausgangspunkt von Innovationen betont – waren diese Ergebnis geistlicher Askese oder wurden konkrete Probleme gelöst? Des Weiteren wurde erörtert, wie die Dichotomie zwischen dem Rückzug ins Kloster und dem Wirken in die Außenwelt von den Religiosen aufgefasst und in Einklang gebracht wurde.

Das folgende Referat OLIVER AUGEs (Kiel) analysierte einige dieser klösterlichen Innovationsleistungen aus dem technisch-ökonomischen Bereich. Als prominentestes Beispiel beleuchtete er die Wasserbaukunst des Zisterzienserordens, welcher aufbauend auf antiken Vorkenntnissen neue Be- und Entwässerungsanlagen entwarf, baulich in seinen klösterlichen Lebenswelten umsetzte und überregional verbreitete. Hierbei wurde deutlich, dass es sich bei Innovatoren nicht zwangsläufig um Inventoren handeln musste, die Innovationskraft der Zisterzienser lag vielmehr darin, neue Techniken einzusetzen und einen nachhaltigen Innovationstransfer im mittelalterlichen Europa zu leisten. So stellte der Referent in Bezug auf die Sektionsfrage deutlich heraus, dass klösterliche Gemeinschaften Innovationsleistungen von gesellschaftlicher Relevanz erbrachten und schloss den Bogen zu Eva Schlotheubers These, dass sie aufgrund ihrer abgeschlossenen Lebensform eine besondere Affinität für Innovationen aufwiesen.

JÖRG VOIGT (Rom) eröffnete die zweite Sektion mit einem Vortrag zum Beginenwesen als innovative Form der vita religiosa im spätmittelalterlichen Europa und appellierte für eine neue Perspektive auf die Beginenforschung. Mit einem expliziten Blick auf die Quellen stellte er heraus, dass der innovative Impuls der Beginen in der Rechtsfähigkeit ihres weiblichen Gemeinschaftslebens zu sehen sei. Die Entstehung der Beginen sollte daher verstärkt in den Kontext der Urbanisierungsprozesse im Spätmittelalter eingeordnet werden.
Im Plenum wurde anschließend diskutiert, inwieweit der innovative Impuls der Beginengemeinschaften in der Möglichkeit der individuellen Frömmigkeitsausübung und der gemeinschaftlichen Partizipation zu sehen war.

Der Indologe AXEL MICHAELS (Heidelberg) bereicherte die Tagung durch einen interkulturellen Blickwinkel auf asketische Lebensformen im Hinduismus und Buddhismus. In Bezug auf die Sektionsfrage hob er hervor, dass von diesen Asketen, ob eremitisch oder institutionell eingebunden, Innovationspotenziale hervorgingen. In der Diskussion wurde hingegen deutlich, dass bei einem Vergleich indischer Asketen mit dem Mönchtum im mittelalterlichen Europa die Unterschiedlichkeit der asketischen Genese sowie der Innovationsimpulse vergegenwärtigt werden müsste.

VÁCLAV ŽŮREK (Prag) legte in seinem Vortrag zu Beginn der dritten Sektion einen Schwerpunkt auf Verflechtungen des Hofes Kaiser Karls IV. mit den in Prag angesiedelten religiösen Gemeinschaften. Neben der wichtigen Tätigkeit von Mönchen, als politische Ratgeber am Hof zu fungieren und dort neue Impulse zu setzen, konnten auch kulturelle Innovationen in den an Karl gebundenen Klöstern nachgewiesen werden. Außerdem seien Klöster durch ihre eigenen Ausbildungsstätten und Nähe zur Prager Universität bedeutende Orte des Wissens Ende des 14. Jahrhundert geworden.

Einen weiteren Aspekt eröffnete VANINA KOPP (Paris) mit ihrer Betrachtung der politischen Ratgeber am französischen Königshof unter Karl V. und Karl VI. Vertreter verschiedener Disziplinen fanden sich am Hof ein und versuchten, die Könige durch ihre Autorenschaft zu überzeugen. So waren vor allem unter Karl V. Juristen und Theologen wichtige Impulsgeber, sein Sohn Karl VI. zog auch Astrologen hinzu. Besonders Religiose konkurrierten um die Einflussnahme am Hof, so etwa universitäre Kleriker oder auch zölestinische Ordensvertreter. In ihrem Vortrag wurde zudem deutlich, dass Innovationsimpulse nicht zwangsläufig eine Erfolgsgeschichte darstellen, sondern eine Umsetzung auch durch äußere Einflüsse – wie etwa die Geisteskrankheit eines Königs – korrumpiert werden konnte.

Den spätmittelalterlichen Herzogtümern Mecklenburg sowie Pommern widmete sich ANDREAS RÜTHER (Bielefeld) und zeigte in seinem Vortrag auf, welche gesellschaftliche Relevanz die Innovationen der dort ansässigen religiösen Gemeinschaften hatten. Mit dem Aufkommen sogenannter neuer Orden, Zisterzienser, Prämonstratenser, aber auch Bettelorden, entwickelte sich eine starke Verflechtung mit regionalen Adelseliten sowie eine vermehrte Einbindung in die agrarisch geprägte Ständegesellschaft. Die Klöster passten ihre Existenzform den regionalen Gegebenheiten an und standen somit in einer klaren wechselwirkenden Beziehung zu ihrer Außenwelt.

Die Frage nach Einfluss und Bedeutung prominenter Religioser auf Innovations- und Transferleistungen behandelte KNUT GÖRICH (München) zu Beginn der vierten Sektion anhand des Verhältnisses Kaiser Ottos III. und des Eremiten Romuald von Camaldoli. Anhand der Anekdote über das Treffen beider im Jahr 1001 in Ravenna, bei dem Otto ein Gelübde zur Weltentsagung abgelegt haben soll, demonstrierte er die von Romualds Biographen unterschiedlich interpretierte Innovationskraft seiner mönchisch-eremitischen Lebensform.

Mit Katharina von Siena als Impulsgeberin für die deutsche Dominikanerobservanz des 15. Jahrhunderts befasste sich CLAIRE TAYLOR JONES (Notre Dame, USA). Anhand der volkssprachlichen Übersetzung der Vita Katharinas von Raimund von Capua, der Drittordensregel von „Sant Dominikus Buß“ sowie des liturgischen Offiziums „Immortali laude“ veranschaulichte sie, dass sich in Süddeutschland ein Bild Katharinas durch verschiedene Texte verbreitete und innovative Impulse gab, sie jedoch als historische Person keinen Einfluss auf die Observanzbewegung ausübte. In der Diskussion wurde erneut betont, dass Katharinas direktes Wirken – etwa durch eigene Schriften – im Süddeutschland dieser Zeit nicht fassbar sei und unmittelbare Impulse durch Katharina nicht nachgewiesen werden können.

Über die Wirkkraft von Franziskus von Assisi als Ordensstifter auf die franziskanische Identität im 13. und 14. Jahrhundert sprach JENS RÖHRKASTEN (Birmingham). Hierbei verdeutlichte er die Wahrnehmung Franziskus’ innerhalb des Ordens, die sich in zwei Narrative spaltete. Einerseits war seine Erhöhung zum Symbol des „alter Christus“ identitätsstiftend, andererseits wurde der Schwerpunkt auf die Analyse seiner Ideale und Lebensform gelegt, woraus Ordensangehörige eine franziskanische Identität abzuleiten suchten.

ANDREAS REHBERG (Rom) beleuchtete die beiden römischen Klarissenkonvente San Silvestro in Capite und San Lorenzo in Panisperna hinsichtlich ihrer Prägung durch das Baronalgeschlecht der Colonna. Bemerkenswert ist hier die langandauernde Einflussnahme der Gründerfamilie, die aufzeigt, dass nicht nur prominente Religiose eine starke Strahlkraft auf Klöster ausübten. Mithilfe eines Ausblicks auf das Doppelkloster Königsfelden stellte er abschließend heraus, inwieweit die behandelten Konvente als Beispiele für solche Innovationsimpulse von außen angesehen werden können.

Den Abschluss des zweiten Konferenztages bildete der öffentliche Abendvortrag von CHRISTINA LUTTER (Wien), die ein genaueres Augenmerk auf die Verflechtungen der geistlichen Gemeinschaften zwischen Hof, Stadt und Kloster warf. Hierbei thematisierte sie anhand von Beispielen aus dem österreichischen Herzogtum, wie bestehende Gemeinschaftsentwürfe und Seelsorgemodelle erneuert/adaptiert wurden, ob diese in breiteren gesellschaftlichen Zusammenhängen nachhaltig wirksam wurden und inwiefern die enge Verflechtung geistlicher und weltlicher Räume die Wirkkraft von Innovationsimpulsen beförderte.

ANNICK PETERS-CUSTOT (Nantes) legte den Schwerpunkt ihres Vortrages auf das byzantinisch geprägte Süditalien mit seinen italienisch-griechischen Mönchen. Bei der Analyse, inwiefern das byzantinisch-orientalische Mönchtum als Inspirationsquelle für die Innovation des westlichen Mönchtums diente, legte sie eindrücklich dar, dass man eher von einer Legitimations- statt von einer Inspirationsquelle für das ab Ende des 10. Jahrhundert aufkommende „neue Mönchtum“ sprechen könne.

Den Blickwinkel auf eine Region nördlich der Alpen legte hingegen LEONIE SILBERER (Heidelberg), die aus kunsthistorischer Perspektive Beispiele für innovative Klosterstrukturen anführte. Gerade in der Ordensprovinz Alemania entwickelten die Franziskaner eine wichtige architektonische Neuerung, die vor allem auf Sichtbarkeit ausgerichtet war: die Klosteranlage mit doppeltem Kreuzgang. Diese Innovation erfreute sich – betrachtet man verschiedene architektonische Belege der Region – großer Verbreitung und ermöglichte eine verstärkte Sichtbarkeit des Klosters für die weltlichen Besucher.

THOMAS COOMANS (Leuven) referierte abschließend über die vielfältige visuelle Kultur monastischer Architektur im Brabant des 13. Jahrhunderts. Mit politischen und gesellschaftlichen Neuerungen gingen in Brabant auch architektonische Innovationsleistungen einher. Diese innovativen Architekturformen leisteten einen wichtigen Beitrag zur neuen Sichtbarkeit und Raumwirkung monastischer Gemeinschaften im Herzogtum Brabant. Als ein solcher Bau kann beispielsweise die Beginenkirche von Leuven angesehen werden. Ihre Architektur wurde den dringenden Bedürfnissen der Urbanisierung angepasst und verfolgte dementsprechend das Ziel, so viel Platz wie möglich zu schaffen. Auf ausschmückende Bauelemente wurde gänzlich verzichtet. Weitere Beispiele für Innovations- und Transferleistungen können aber auch in der zisterziensischen Abteikirche von Villers, der Leuvener Dominikanerkirche oder den franziskanischen Kirchen in Maastricht nachvollzogen werden.

In der Zusammenfassung der Konferenz betonten MIRKO BREITENSTEIN und JÖRG SONNTAG (Dresden) die verschiedenen Fragestellungen und methodischen Herangehensweisen an das Thema Innovation sowie mögliche Analysekriterien. Sie hoben jedoch auch hervor, dass bei der Begriffsverwendung nicht nur der neue, sondern auch der sich bewährende Charakter einer Innovation einbezogen werden sollte, um final von einer Innovationsleistung sprechen zu können. Bei der Untersuchung von Innovationsimpulsen spielte aber ebenso die Frage nach der Imitation eine Rolle, die einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung und Legitimation einer Innovation ausüben konnte.

Die internationale Konferenz der Forschungsstelle Klöster im Hochmittelalter lotete durch die Vielzahl an den in Vorträgen analysierten Fallbeispielen die verschiedenen Spielarten von Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften gewinnbringend aus. Durch die ergiebigen Diskussionen wurden zudem neue Impulse für die weiterführenden Fragestellungen zur Nachhaltigkeit und Wirkkraft von Innovations- sowie Transferleistungen gesetzt.

Konferenzübersicht:

Julia Becker / Julia Burkhardt (Heidelberg): Begrüßung und Einführung

Sektion I: Erbrachten religiöse Gemeinschaften Innovationsleistungen mit gesellschaftlicher Relevanz? Eine programmatische Diskussion
Moderation: Gert Melville, Dresden

Eva Schlotheuber (Düsseldorf): „Am Tisch des Herrn, auf dem alle Schätze der Weisheit und der Wissenschaft versammelt sind“ – Überlegungen zu Wissenszugang und Selbstverständnis der Mönche und Nonnen im Mittelalter

Oliver Auge (Kiel): Klösterliche Innovationsleistungen im technisch-ökonomischen Bereich

Sektion II: Weltabgewandt vs. weltzugewandt: Monastische Lebensformen als Innovationskriterium?
Moderation: Christine Kleinjung, Göttingen

Jörg Voigt (Rom): Das Beginenwesen als innovative Form der vita religiosa im spätmittelalterlichen Europa

Axel Michaels (Heidelberg): Kann weltflüchtige Askese innovative Kräfte auslösen? Drei Thesen

Sektion III: Ratgeber, Dienstleister, Gestalter? Religiöse Gemeinschaften als politische Impulsgeber
Moderation: Jörg Peltzer, Heidelberg

Václav Žůrek (Prag): Kaiser Karl IV. und seine Mönche. Klöster als Orte des Wissens im mittelalterlichen Prag

Vanina Kopp (Paris): „Pour le bien commun“. Religiose als politische Ratgeber am französischen Königshof unter Karl V. und Karl VI.

Andreas Rüther (Bonn): Segmentiert und zugehörig. Zur gesellschaftlichen Relevanz religioser Gemeinschaften in den spätmittelalterlichen Herzogtümern Mecklenburg und Pommern

Sektion IV: Persönliche Strahlkraft vs. institutionelle Rahmung: Einfluss und Bedeutung prominenter Religiosen
Moderation: Nikolas Jaspert, Heidelberg

Knut Görich (München): Kaiser und Eremit. Otto III. und Romuald von Camaldoli

Claire Taylor Jones (Notre Dame, USA): Catherina von Siena als Impuls für die deutsche Dominikanerobservanz

Jens Röhrkasten (Birmingham): Franziskus als Stifter franziskanischer Identität im 13. und 14. Jahrhundert

Andreas Rehberg (Rom): Mächtige Verwandte. Zwei Klarissenkonvente im Schatten des Baronalgeschlechts der Colonna im römischen Trecento

Öffentlicher Abendvortrag:
Christina Lutter (Wien): Verflechtungsgeschichten. Geistliche Gemeinschaften im Mittelalter zwischen Hof, Stadt und Kloster

Sektion V: Orden und Region: Die Sichtbarkeit und Raumwirkung von religiösen Gemeinschaften
Moderation: Annette Kehnel, Mannheim

Annick Peters-Custot (Nantes): Das byzantinische Süditalien – eine Innovationsquelle für das westliche Mönchtum?

Leonie Silberer (Heidelberg): Doppelt sichtbar. Innovative Klosterstrukturen in der franziskanischen Ordensprovinz Alemania

Thomas Coomans (Leuven): Monastic visual architectural culture in 13th-century Duchy of Brabant

Mirko Breitenstein / Jörg Sonntag (Dresden): Zusammenfassung und Abschlussdiskussion


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