Flavius Josephus. Von Jerusalem nach Rom

Flavius Josephus. Von Jerusalem nach Rom

Organisatoren
Ernst Baltrusch / Judith Göppinger, Exzellenzcluster Topoi, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.11.2018 - 29.11.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Marthe Becker, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Wie Judith Göppinger und Ernst Baltrusch zeigten, hat Flavius Josephus als Forschungsgegenstand nichts von seiner Aktualität verloren. Ziel dieser Konferenz war es, ausgehend von Michael Tuvals From Jerusalem Priest to Roman Jew eine neue Lesart der josephischen Schriften zu diskutieren. In seiner 2013 erschienen Dissertation interpretierte Tuval Josephus als einen Autoren, der mit dem Selbstverständnis eines Jerusalemer Priesters begann, dessen Identität sich aber durch seine Diasporaerfahrung in Rom graduell zu der eines römischen Juden formte. Dieser Ansatz ermöglicht neue Perspektiven auf die unterschiedlichen, sich überschneidenden Identitäten, die sich nicht nur in Josephus‘ Schriften, sondern auch in seiner eigenen Biographie wiederfinden. Die Brüche innerhalb des Lebens und der Werke des Josephus kamen ebenso zur Sprache wie religiöse und politische Aspekte sowie Fragen nach Identität und Identifikation. Aufgeteilt in drei Sektionen mit den Schwerpunkten "Tempel", "Josephus als Autor" und "Rollenbilder" wurden thematische Schwerpunkte gesetzt.

MICHAEL TUVAL (München) hielt den Eröffnungsvortrag. Er beschäftigte sich mit der Frage, wie sich die Rolle der Priester bei Josephus und in den Schriftrollen von Qumran durch die Zerstörung des Tempels veränderte. Tuval argumentierte für eine eschatologische Lesung Josephus‘, der nicht an einen Wiederaufbau des Tempels geglaubt habe, weswegen sich der Fokus der in seinen Werken dargestellten jüdischen Religiosität von den Tempelopfern auf die Ritualisierung des Lebens und die Gesetze hin verschoben habe. Josephus betrachte die Priester auch nach der Zerstörung des Tempels als politische und religiöse Anführer der Gemeinde. Die Gebete dienten zur Sicherung der gesellschaftlichen und politischen Position der Priester, so Tuval, anders als in den Qumran-Texten, in denen die Gebete die mit dem Tempel in Zusammenhang stehenden religiösen Praktiken ersetzten. Im Narrativ des Josephus haben sich die Priester zu den Experten der Gesetze gewandelt, seine Wahrnehmung unterscheide sich von der in den Qumran-Schriftrollen vertretenen also durch seine Bindung an Rom.

PAUL SPILSBURY (Vancouver) argumentierte in seinem Vortrag genau entgegengesetzt: Er interpretierte Josephus‘ Erwartungshaltung gegenüber der Zukunft des Tempels nicht als eine Neuorientierung vor dem Hintergrund dessen finaler Zerstörung, sondern habe ihn weiterhin als Notwendigkeit angesehen. Zwar wurde der Tempel durch Titus zerstört, doch die heiligen Gefäße überdauerten und wurden nach Rom gebracht; in ihnen setze sich die Kontinuität des Tempels fort. Die Abwesenheit des Tempels sei für Josephus‘ Verständnis nur temporär, allerdings für die Juden und Jüdinnen nicht folgenlos, da dessen Zerstörung Leid nach sich gezogen habe. Josephus betone, dass die Vernichtung des Tempelbaus ohne Vorsatz geschah, dementsprechend hoffe Josephus nicht nur auf den Wiederaufbau der Weihestätte, sondern es handele sich um eine explizite Erwartungshaltung. Das Judentum sei für Josephus nicht ohne den Tempel vorstellbar, so Spilsbury. Das zeige sich auch an Josephus‘ Umgang mit den heiligen Gefäßen, die in seinem Bericht über den Triumphzug des Titus so viel präsenter seien als die Kriegsgefangenen. Die Gefäße verkörperten den Tempel in Rom, und zwar in nächster Nähe des Josephus.

Der dritte Vortrag der Sektion wurde von FOLKER SIEGERT (Münster) gehalten. Er begann mit der Frage, wie man bei Josephus Tatsache und Fiktion voneinander unterscheiden könne und wie man dies bewerte. Siegert problematisierte Josephus‘ historische gegenüber seinen apologetischen Passagen. Darauf basierend arbeitete Siegert zwei Fehler des Josephus heraus: Zum einen habe dieser durch die Äußerung seines jüdischen Überlegenheitsanspruch sein römisches Publikum falsch eingeschätzt; zum anderen aber mache sich Josephus der primitiven Geschichtsklitterung schuldig, indem er seine Quellen – ob wissentlich oder nicht – nicht ausreichend geprüft habe. Zusätzlich fielen, so Siegert, in Contra Apionem Anachronismen im Hinblick auf den Zustand des Tempels auf: Josephus spreche von dem zerstörten Tempel, als wäre dieser noch intakt. Siegert interpretierte die Schriften des Josephus als Bewerbungen auf das Amt des Hohepriesters, sodass die Vita und Contra Apionem folglich Qualifikationsschriften seien, die sich an einem römischen Lesepublikum orientierten.

DANIEL SCHWARTZ (Jerusalem) schloss die Sektion mit einer Analyse des Josephus „between the Flavians and God“. Schwartz unterschied zunächst zwischen Juden und Jüdinnen als Personen, die der Religion des Judentums angehörten, und Judäern und Judäerinnen, als Personen, die im antiken Judäa lebten. Daraus entwickelte er die These, dass einige der Personen, die als Juden und Jüdinnen wahrgenommen wurden, Angehörige der jüdischen Religion, andere aber Judäer und Judäerinnen gewesen seien; viele – vielleicht sogar die meisten – sich jedoch irgendwo zwischen diesen beiden Polen einordnen ließen. Dennoch bezöge sich die Benennung Judäer und Judäerin auf diejenigen, die in Judäa lebten und der priesterlichen Religion angehörten, während die Bezeichnung Jude und Jüdin hauptsächlich die in der Diaspora lebenden Ioudaioi, sowie die Anhänger der nicht-priesterlichen Religion in Judäa nach der Zerstörung des zweiten Tempels meine. Schwartz wendete dieses Konzept dann auf Josephus an und kam zu dem Schluss, dass dieser sich in der Zeit zwischen der Abfassung des Bellum Iudaicum und der Antiquitates vom Judäer zum Juden entwickelt habe. Zudem arbeitete Schwartz zwei sich widerstreitende Strukturen des Bellum heraus: Die eine sei die jüdische Version, die zweite stelle jedoch den Sieg der Flavier ins Zentrum, vertrete also eine römische Perspektive. Im Bellum spiegelten sich nach Schwartz also sowohl die judäischen Wurzeln des Josephus, als auch seine Erfahrungen in der jüdischen Diaspora im flavischen Rom wider.

TESSA RAJAK (Reading) nahm in ihrem Vortrag die Person des Josephus genauer in den Blick. Sie untersuchte das Bewusstsein über die Zuschreibung Diaspora Jew in Josephus‘ Werken. Dazu zog sie Parallelen zu Lion Feuchtwangers Romanen, deren Verständnis von Jewishness der des Josephus‘ ähnele. Durch die Tempelzerstörung habe sich der Fokus des jüdischen Selbstverständnisses gewandelt: Der Bezugspunkt wandte sich ab vom Tempel und von Judäa und hin zum Dasein in der Diaspora. So wurde, laut Rajak, Josephus zugleich mehr und weniger zum Bürger der Welt.

VADIM WITTKOWSKYs (Berlin) Vortrag untersuchte drei Aspekte in den Werken des Josephus und des Paulus: Den fehlenden Tempel in den Antiquitates, den fehlenden Tempel bei Paulus und inwiefern man in der Forschung überhaupt von Pharisäern sprechen könne. Wittkowskys These zur Abwesenheit des Tempels in Josephus‘ Antiquitates lautete, dass dieser durch das Gebet ersetzt worden sei, wodurch die Priester als Leiter des Gottesdienstes weiterhin relevant blieben, der Tempel aber obsolet geworden sei.

CLIFFORD ORWIN (Toronto) diskutierte in seinem Paper, ob es in den Werken des Josephus eine Evolution des politischen Denkens gebe. Orwin kam zu dem Schluss, dass sämtliche aus der den Schriften des Josephus gewonnenen Belege mehrdeutig seien. Er zweifelte jedoch an, dass der von Tuval und auch von Schwartz konstatierte Wandel vom Jerusalemer Priester zum Diasporajuden ausreiche, um die politische Ambiguität in den josephischen Werken zu erklären. Nach Orwin sei der Schlüssel vielmehr der vom Hellenismus geprägte Ehrgeiz des Josephus, die Torah zur Basis des Staates (politeuma) zu machen, was sich besonders in Contra Apionem zeige.

JULIA WILKER (Philadelphia) eröffnete am zweiten Tag der Konferenz die Sektion "Rollenbilder" bei Josephus mit einer Untersuchung der Handlunsgmacht der Frauen hasmonäischer und herodianischer Dynastien. Sie stellte drei Fragen an Josephus: Was dachte er über Frauen (und Macht), was übernahm er aus seinen Quellen und was ließ er aus? Zur Beantwortung der ersten Frage konzentrierte Wilker sich auf Salome Alexandra. Sie arbeitete heraus, dass Josephus Salome Alexandras Streben nach Macht als unweiblich betrachtet habe, ihr Geschlecht auch als ausschlaggebend für die Geschehnisse nach ihrem Tod angesehen und folglich die Regierung von Frauen für illegitim befunden habe. Der Kern josephischer Kritik an Salome Alexandra sei, dass sie eine Frau und allein deswegen illegitime Machthaberin gewesen sei. Josephus greife also ein altbekanntes Narrativ auf. Des Weiteren fokussierte Wilker den Konflikt zwischen Agrippa I. und Antipas. Dieser Machtkampf wird bei Josephus anhand der Frauen, Herodias und Cypros, illustriert. Josephus zeichne ein negatives Bild des Antipas, indem er dessen auf Macht und Einfluss drängende Gattin und Antipas‘ Nachgeben als Gründe für dessen Untergang ausmache. Cypros hingegen fungiere als unterstützende Ehefrau, deren Eingreifen ins Geschehen sich nur auf die Unterstützung ihres Mannes beschränke. Die Nebeneinanderstellung der beiden Herrscher werde also besonders anhand der Zuschreibungen ihrer jeweiligen Ehefrauen problematisiert, so Wilker. Die Erwähnung von Frauen geschehe hier immer im Bezug auf das jeweilige Narrativ der männlichen Bezugsperson.

JAN WILLEM VAN HENTEN (Amsterdam) nahm in seinem Vortrag die beiden Herodes-Erzählungen in Josephus‘ Bellum Judaicum und den Antiquitates genauer in den Blick und konzentrierte sich dabei insbesondere auf die Differenzen, anstatt eine Harmonisierung der Widersprüche anzustreben. Van Henten argumentierte, dass Herodes im Bellum vorwiegend positiv dargestellt werde, in den Antiquitates dagegen hebe Josephus die Übertretung der jüdischen Gesetze, die Tyrannei und seine Disqualifizierung als Herrscher hervor. Die Gründe für diese Verschiebung der Herodes-Darstellung ins Negative vermutet van Henten in einer Veränderung des römischen Kontextes, in dem Josephus sich bewegte.

JUDITH GÖPPINGER (Berlin) untersuchte, woraus sich der Hass auf die Ägypter und Ägypterinnen in den josephischen Texten speist und wie sich deren Darstellung in den Werken verändert. Hierfür analysierte sie die Darstellungen des Pharaos, Apions und Kleopatras. Im Anschluss verglich sie ihren Befund mit dem Ägypter-Bild in einigen römischen Quellen. Zwar glichen die römischen Vorurteile denen von Josephus, für Göppinger aber greife es dennoch zu kurz, Josephus‘ Abneigung gegenüber den Ägyptern und Ägypterinnen erst in der Diaspora beginnen zu lassen. Dementsprechend zog die Referentin noch Philo hinzu, um auch die Darstellung der Ägypter in der jüdischen Literatur miteinzubeziehen. Zwar lebten sowohl Josephus als auch Philo in der Diaspora, ihr Publikum habe sich jedoch unterschieden: Josephus richte sich vorrangig an Römer und Römerinnen sowie Griechen und Griechinnen, Philo jedoch an Juden und Jüdinnen. Bei beiden Autoren würden die Ägypter und Ägypterinnen zum Auslöser aller Eskalationen im Kontext von Fremdherrschaft. Göppinger schlug vor, diesen Kampf zwischen Ägyptern/Ägypterinnen und Juden/Jüdinnen, um eine privilegierte Stellung im Imperium, als ein Anliegen einer jüdischen, hellenisierten Oberschicht zu deuten. Ihrer Meinung nach lasse sich der Konflikt zwischen Ägyptertum und Judentum bei Josephus nicht nur durch die Diasporasituation oder den römischen Einfluss erklären.

URSULA WESTWOOD (Oxford) beleuchtete zum Abschluss die Proömien von Josephus’ Bellum und den Antiquitates mit Blick auf seine Kritik an den griechischen Historikern und verglich diese Kritik mit den Proömien von Thukydides und Dionysius von Halikarnassos. Im zweiten Teil ihres Vortrages arbeitete Westwood Unterschiede der beiden josephischen Perspektiven heraus, um im dritten Abschnitt diesen Perspektivwechsel auf seine Auseinandersetzung mit dem Gesetzgebernarrativ und der griechischen politischen Philosophie zurückzuführen. Nach Westwood adaptierte Josephus griechische Stilmittel und Methoden auch für seine neue, griechisch geprägte Zielgruppe. In Hinblick auf seine Proömien habe sich der Wandel des Josephus also nicht so sehr von Jerusalem nach Rom vollzogen, sondern vielmehr von Jerusalem nach Griechenland.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Josephus und der Tempel

Michael Tuval (München): Priests as Leaders of Judaism in Josephus and Qumran

Paul Spilsbury (Vancouver): Law and Temple in Josephus’ Treatment of the Bible

Folger Siegert (Münster): Der Imaginäre Tempel des Josephus

Daniel Schwartz (Jerusalem): Between the Flavians and God. Josephus on the Destruction of Jerusalem

Sektion 2: Josephus als Autor

Tessa Rajak (Reading): Josephus as Diaspora Jew

Vadim Wittkowsky (Berlin): Zwei Pharisäer in unterschiedlichen Lebenslagen: Paulusbriefe
und Apostelgeschichte als Pendant zu den Werken des Flavius Josephus

Clifford Orwin (Toronto): Is There a Political Theorist’s Josephus?

Sektion 3: Rollenbilder bei Josephus

Julia Wilker (Philadelphia): A Woman’s Place – Josephus’ Changing Presentation of Women and Power

Jan Willem Van Henten (Amsterdam): Changing Perspectives on Herod the Great

Judith Göppinger (Berlin): Josephus und die Ägypter – die Darstellung der Ägypter in den
Antiquitates und in Contra Apionem

Ursula Westwood (Oxford): Pugnacious Preliminaries: The (Shifting) Targets in Josephus’ Prefaces