Die Historische Netzwerkforschung gehört zum Pool der digitalen Forschungsmethoden in der Geschichtswissenschaft, deren Nutzen für das historische Arbeiten im Rahmen des Digital Turn erprobt und diskutiert wird. Der Workshop erörterte anhand laufender Projekte die Potenziale und Möglichkeiten der Netzwerkanalyse in der Geschichtswissenschaft sowie deren Schwierigkeiten.
Im ersten Vortrag1 fokussierte ROMED ASCHWANDEN (Basel) die Historische Netzwerkanalyse als verbindende Methode des transnationalen Forschungsprojekts „Issues with Euope. A Network Analysis of the German-speaking Alpine Conservation Movement (1975-2005)”. Er arbeitet über Debatten und Konflikte rund um den Alpentransit über den Gotthard-Pass, während Maria Buck (Innsbruck) denselben Themenbereich für den Brennerpass untersucht. Im dritten Teil des Projekts beschäftigt sich Kira Schmidt (München) mit der europäischen Ebene von Alpenschutz und Transitpolitik. Ziel des Projekts ist die Erstellung eines Gesamtnetzwerkes „deutschsprachiger Alpenschutz“, um davon ausgehend Europäisierungsprozesse und Aushandlungsprozesse im „Mehrebenensystem Europa“ besser zu verstehen. Allerdings erschwere die heterogene Quellenlage die Vergleichbarkeit der drei Teilprojekte, womit Aschwanden bereits eine der Hauptschwierigkeiten der Historischen Netzwerkforschung für die Projektarbeit allgemein ansprach. Für sein Teilprojekt postulierte er eine steigende Anerkennung der Alpen als „common good“ um 1990 und zeitgleich eine zunehmende Vernetzung zwischen den drei Akteursbereichen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft / Aktivismus. Dies ließe sich anhand der quantitativen Analyse zeigen, jedoch gebe diese keine Antwort auf das diachrone Verhältnis von Struktur und Prozess.
MARINA HILBER (Innsbruck) berichtete über das Forschungsnetzwerk des Gynäkologen Ludwig Kleinwächter (1839–1906). Mit ihrer Projektpräsentation bot sie ein Beispiel für die Verwendung der Netzwerkanalyse in der Wissenschaftsgeschichte, indem sie die Generierung und Verbreitung von Wissen in der medizinischen Community des ausgehenden 19. Jahrhunderts untersuchte. Dazu verwendete sie sowohl Rezensions- als auch Zitationsnetzwerke, wobei hier die Frage nach den Schwierigkeiten bei der quantitativen und qualitativen Bearbeitung großer Quellenkorpora aufkam.
Anschließend präsentierte CINDERELLA PETZ (München) die Verwendung der Netzwerkanalyse zur Untersuchung der Frage: „Gab es eine politische Justiz im österreichischen Ständestaat?“. Ihr Vortrag unterstrich das Potenzial der Netzwerkforschung, neue Perspektiven auf bereits bearbeitete Fragestellungen zu eröffnen und Forschungslücken – in diesem Fall die Urteilspraxis, die Gerichtsstrukturen und die Prosopografie von Gerichtsstandorten – zu schließen. Basierend auf Gerichtsakten arbeitete sie Strukturen der politischen Justiz am Gerichtsstandort Wien im Jahr 1935 heraus. Die an sich seriell angelegten Quellen sind durch Auslassung, Unvollständigkeit und Schwund geradezu „heterogenisiert“ worden, was erneut auf die Schwierigkeit quantifizierenden Arbeitens mit historischen Quellen verwies.
In seiner Keynote zum Workshop thematisierte MARTEN DÜRING (Luxemburg) die wichtigsten Herausforderungen der Historischen Netzwerkforschung. Obwohl die Netzwerkforschung ursprünglich aus den Sozialwissenschaften stammt, grenzte er die Historische Netzwerkanalyse klar von der sozialwissenschaftlichen Variante ab, unter anderem wegen der Heterogenität der Datengrundlage und den verschiedenen Formen von Beziehungen und Akteuren, für die sich Historiker interessieren. Aus diesen Gründen sehe Düring den Mehrwert statistischer Auswertungsmethoden von Netzwerken in den Geschichtswissenschaften nicht zwingend gegeben. Stattdessen beschreibt er den Prozess des Netzwerkerstellens als Teil der Quelleninterpretation und somit des Forschungsvorgangs. So ermögliche diese Methode zum Beispiel eine andere Perspektive auf die Quellen und die eigene Forschung. Allerdings betonte Düring, die Netzwerkanalyse immer als Teil eines vielseitigen Methodenpools zu verwenden und im Forschungsprozess Nutzen und (technischen) Mehraufwand dieser Methode stets abzuwägen. Die Keynote endete mit einem Ausblick auf Arbeiten mit „Multi-Layer-Netzwerken“, welche zukünftig die Darstellung und Analyse von komplizierten und mehrschichtigen Netzwerkstrukturen möglich machen könnten.
LUTZ HEILMANN (Bochum) referierte über den Aufbau von Informations- und Kommunikationsnetzwerken zwischen West-Alliierten Geheimdiensten und ehemaligen Mitgliedern der Wehrmacht, Gestapo und Waffen-SS in Deutschland und Österreich in der Frühphase des Kalten Krieges. Zentrale Fragestellungen seiner Untersuchung waren, wie ehemalige Mitglieder dieser deutschen Organisationen ihre Stellung im Wissensmarkt ausnutzten und wie ihre Position die Gegnerdarstellung im Kalten Krieg und den Informationsfluss in den Wissensnetzwerken beeinflussten.
Im letzten Vortrag präsentierte MAX GEDIG (München) seine Arbeit zur „Bewegung 2. Juni“, einer linksradikalen Gruppierung aus dem Arbeitermilieu. Gedig griff erst im Laufe des Forschungsprozesses auf die computergestützte Netzwerkanalyse zurück, um den Überblick über die steigende Anzahl von Akteuren zu behalten. Aufgrund fehlender serieller Quellen sei eine genaue Festlegung von Schlüsselbegriffen sowie exakte Definition von Beziehungen notwendig, um diese codieren zu können. In seiner Vorgehensweise machte er die Interpretations- und Kategorisierungsarbeit deutlich, die nötig ist, um bei einer stark heterogenen Quellenlage vergleichbare Beziehungstypen festzulegen.
In der abschließenden von HELMUTH TRISCHLER (München) geleiteten Diskussion wurde die Zukunft der Historischen Netzwerkforschung angesprochen und in den Vorträgen ungeklärte Probleme und Kritikpunkte reflektiert. Dazu gehörten unter anderem Fragen der zunehmenden Interdisziplinarität, der nötigen Vorarbeit von Datenerhebung und (Re-)Kontextualisierung der Daten sowie der Ausbildung zukünftiger HistorikerInnengenerationen im Umgang mit Tools der Digital Humanities. Ein letzter Kritikpunkt bestand in der starken Umformung der aus den Quellen gewonnenen Informationen, um sie den Erfordernissen der Netzwerkanalyse anzupassen. Diese Kritik wurde allerdings mit dem Verweis auf die bei jeder wissenschaftlichen Methode notwendig werdenden Umformung und Neu-Kategorisierung abgeschwächt und der Mehrwert der Netzwerkanalyse als Teil der Quelleninterpretation noch einmal betont. Ein besonderes Augenmerk lag auf der Diskussion über die Kommunikation beziehungsweise Lesbarkeit von Ergebnissen nach außen, was immer wieder problematisiert wird. Marten Düring plädierte dabei für einen sparsamen Einsatz von Netzwerkvisualisierungen in Vorträgen und Publikationen und betonte deren Nutzen im hermeneutischen Forschungsprozess.
Konferenzübersicht:
Session 1
Keynote
Marten Düring (Université du Luxembourg)
Moderation: Patrick Kupper (Universität Innsbruck)
Session 2
Romed Aschwanden (Universität Basel): Issues with Europe – Netzwerkanalyse in der Projektarbeit
Moderation: Patrick Kupper (Universität Innsbruck)
Session 3
Marina Hilber (Universität Innsbruck): Medikale Netze. Die wissenschaftliche Partizipation des Mediziners Ludwig Kleinwächter (1839-1906) am transnationalen Forschungsnetzwerk zur Gynäkologie und Geburtshilfe
Cindarella Petz (Technische Universität München): Gerichtsakten als Quelle historischer Netzwerkanalyse zur politischen Verfolgung im österreichischen Ständestaat
Moderation: Kira Schmidt (LMU München)
Session 4
Lutz Heilmann (Universität Bochum): Westalliierte Nachrichtendienste und ehemalige Mitglieder von Waffen-SS, Gestapo und Deutscher Wehrmacht im frühen Kalten Krieg. Kooperation, Netzwerke, Kommunikationsstrategien
Max Gedig (LMU München): Die Bewegung 2. Juni. Radikalisierung und Niedergang einer Gewaltgemeinschaft im Untergrund (1968 bis 1980)
Moderation: Maria Buck (Universität Innsbruck)
Abschlussdiskussion
Moderation: Helmuth Trischler (Deutsches Museum, München)
Anmerkungen:
1 Der Tagungsbericht entspricht in seiner Reihenfolge nicht dem ursprünglichen Programm, das aufgrund von Anreiseschwierigkeiten angepasst wurde.