Das Büro des Kaisers. Neuere Ansätze in der historisch-soziologischen Politikfeldanalyse

Das Büro des Kaisers. Neuere Ansätze in der historisch-soziologischen Politikfeldanalyse

Organisatoren
Collegium Carolinum, München; Center for Advanced Studies der Universität München; Institut für österreichische Geschichtsforschung, Wien
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.03.2019 - 08.03.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Clemens Ableidinger, Institut für Geschichte der Universität Wien Email: clemens.ableidinger@univie.ac.at

Viele zeitgenössische Darstellungen zeigen Kaiser Franz Joseph I. als den von Fleiß und Gewissenhaftigkeit durchdrungenen obersten Beamten der Habsburgermonarchie. Und tatsächlich zeugen die mehr als 250 000 sogenannten Vorträge der kaiserlichen Kabinettskanzlei, also Akten, die – von kaiserlichen Beamten und Referenten vorstrukturiert – die Grundlage der „allerhöchsten Entschließungen“ darstellten, vom gewaltigen bürokratisch-administrativen Aufwand, den das Regieren eines Empire bedeutete. Seit 2017 läuft das von PETER BECKER (Wien) und JANA OSTERKAMP (München) geleitete und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) finanzierte Projekt „The Emperor’s Desk: A site of policy making in the Habsburg Empire?“, das in einem Haupt-, drei Sub- und einem assoziierten Projekt auf der Basis eines politikfeldanalytischen Ansatzes einen Blick über die Schulter des Kaisers wirft.

Vor diesem Hintergrund luden die Projektleiterin und der Projektleiter vom 7. bis 8. März 2019 zu einem internationalen Workshop zu neueren Ansätzen in der historisch-soziologischen Politikfeldanalyse in das Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München ein. JANA OSTERKAMP und PETER BECKER eröffneten die Veranstaltung mit einer einführenden Synopsis über die auszumachenden Politikfelder in der Habsburgermonarchie während der Herrschaft Franz Josephs und betonten das analytische Potenzial, das die Politikfeldanalyse in der historischen Betrachtung monarchischer Politiken einerseits und durch das Transzendieren klassischer Darstellungen der Politikentwicklung andererseits aufweist und das in ihrer Herkunft aus den Politik-, Sozial- und Verwaltungswissenschaften begründet ist.

Diese Darstellungen wurden in der von MARTIN SCHULZE WESSEL (München) moderierten ersten Sektion des Workshops vertieft, in der JANA OSTERKAMP zeigte, wie Politikfeldanalyse auf Basis der Protokollbücher der Kabinettskanzlei politisches Handeln und darin besonders einen Teil des Regierungshandelns zu analysieren ermöglicht. PETER BECKER verwies zudem auf die Bedeutung dieser Protokollbücher als Quelle, da diese die gesamte Regierungstätigkeit einer Ebene und über die gesamten konstitutionellen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts hinweg analysierbar machen. In ihrem Vortrag präsentierten sie die Ergebnisse der ersten Phase des Projekts, die in der quantitativen/statistischen Erhebung und Analyse des umfassenden Quellenmaterials bestand. MICHAEL PAMMER (Linz) gab in seinem Vortrag über die Wirtschafts- und Finanzpolitik von 1850 bis 1914 detaillierte Einblicke in die k.k. Wirtschafts- und Infrastrukturpolitiken, also die Resultate jener von der Veranstalterin und dem Veranstalter analysierten Entscheidungsprozesse. WOLFRAM SIEMANN (München), dem es zukam, die beiden Vorträge zu kommentieren, wies auch auf diese unterschiedlichen Akzentuierungen – den Entscheidungsprozess einerseits und das Resultat andererseits – ausdrücklich hin und stellte präzise Fragen zur Eingrenzung eines strukturell komplexen Politikfeldes wie der Symbolpolitik und der genauen definitorischen Unterscheidung von Politikfeld und monarchischem Handeln.

In der zweiten Sektion, die von MARTINA NIEDHAMMER (München) moderiert wurde, stellte MARION DOTTER (München) das erste dem „Emperor’s Desk“ zugeordnete Sub-Projekt vor, ihr Forschungsprojekt zu den vielschichtigen Entscheidungsprozessen bei Nobilitierungen und Adelsfragen in der späten Habsburgermonarchie, während TATJANA TÖNSMEYER (Wuppertal) in ihrem Vortrag die Herrschaftspraxis des böhmischen Adels in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts thematisierte, den sie auch als „Meister der Sichtbarkeit“ bezeichnete. Auf diese Sichtbarkeit des Adels als Herrschaftsstrategie verwies auch JAN ŽUPANIČ (Prag) in seinem Kommentar.

Unter der Moderation THOMAS ROHRINGERS (Linz/München) stand die dritte Sektion des Workshops ganz im Zeichen der Agrarpolitik. So rekonstruierte ULRICH PFISTER (Münster) die Ursprünge der modernen Agrarpolitik aus den Landreformen des 19. Jahrhunderts, stets auf Basis der Leitfrage, ob diese Agrarreformen mit der Entstehung eines modernen Politikfeldes in Verbindung gebracht werden können. Der Kommentar JANA OSTERKAMPS reflektierte noch einmal den Begriff des Politikfeldes und dessen Definition als eine Kulturtechnik, die die Umwelt eines politischen Systems entscheidungsförmig bearbeitet, wie sie von ULRICH PFISTER vorgeschlagen wurde.

Der zweite Veranstaltungstag begann mit einer Sektion zum Thema Psychiatrie. Moderiert von RUSLAN MITROFANOV (München), gab CLEMENS ABLEIDINGER (Wien) Einblick in sein dem „Emperor’s Desk“ assoziiertes Dissertationsprojekt, das die Entstehung und Entwicklung des Politikfelds Psychiatrie unter Franz Joseph I. beleuchtet. SOPHIE LEDEBUR (Wien) reflektierte unter dem Titel „Numbers and their Values“ die kulturelle Praxis der Administration des Wahnsinns. VOLKER HESS (Berlin) verwies in seinem Kommentar noch einmal auf die zugrundeliegenden Logiken der Anstaltspsychiatrien, die ihren Ursprung in den (bakteriologischen) Hygieneprinzipien des 19. Jahrhunderts hatten.

Daran schloss Sektion 5 an, deren thematische Klammer die Sozialpolitik bildete und die von LISA DITTRICH (München) moderiert wurde. Da SANDRINE KOTT (Genf) kurzfristig verhindert war, trug PETER BECKER den von ihr verfassten Vortrag zum Thema „Sozialstaat und Gesellschaft. Deutschland zwischen Nationsbildung und Internationalisierung (1870–1933)“ vor. Besondere Beachtung fanden darin die entstehenden Krankenkassen, die als „demokratisches Labor“ der einzige Ort waren, in welchem auch Frauen und Arbeiter wahlberechtigt waren. PETER COLLIN (Frankfurt a. M.) wies in seinem Kommentar auf die besondere Schwierigkeit der Politikfeldanalyse von Sozialpolitiken hin, die durch ihre Sperrigkeit und Heterogenität geprägt seien.

Unter der Moderation BORIS GANICHEVS (München) folgten in der sechsten Sektion zwei spannende Vorträge über die Eisenbahn- und Infrastrukturpolitiken in der Habsburgermonarchie. So zeigte MILAN HLAVAČKA (Prag) in einem, wie er es nannte, „weiten Blick“ auf die Schwankungsbreite der Geschichte der Eisenbahnen in der Habsburgermonarchie und die nichtlineare Entwicklung der habsburgischen Schieneninfrastruktur. NADJA WECK (Wien), deren Sub-Projekt des „Emperor’s Desk“ die Städte – und hier besonders Lemberg – und ihre Akteursrolle bei der Planung der Eisenbahnverbindung Lemberg–Brody untersuchte, schilderte die facettenreichen Aushandlungsprozesse, die bei der Entwicklung der Infrastruktur im 19. Jahrhundert wirksam wurden. BENJAMIN SCHENK (Basel) verwies in seinem Kommentar auf die vielfältigen Interessenskollisionen, Akteure und Problemfelder, die die wechselvolle Geschichte der Infrastrukturpolitiken auch in anderen europäischen Reichen kennzeichnete.

Mit Akteuren und Netzwerken setzte sich auch die von JOHANNES GLEIXNER (München/Prag) moderierte Sektion 7 des Workshops auseinander. ANDREAS ENDERLIN-MAHR (Wien) stellte sein „Emperor’s Desk“-Subprojekt über die „networks of governance“ im Umfeld der k.k. Kabinettskanzlei am Beispiel der persönlichen Korrespondenz des Kanzleidirektors Adolf Braun vor. Auch im wörtlichen Sinn netzwerkanalytisch war der Vortrag ROLAND WENZLHUEMERS (München) über die Bedeutung des globalen Telegrafennetzwerks für die imperiale Verwaltung und deren, wie sich zeigte, komplizierte Integration in den bürokratischen imperialen Apparat. PETER BECKERS Kommentar referenzierte auch auf diese gemeinsame Klammer des Kommunikationsnetzwerkes und die trotz der diversen Thematik spannenderweise kongruenten Fragestellungen.

Der internationale Workshop war eine höchst gelungene Veranstaltung, die nicht nur einzulösen vermochte, was der Titel versprach, nämlich einen Einblick in die neueren Ansätze in der historisch-soziologischen Politikfeldanalyse zu geben, sondern zudem einen Überblick über ein hochgradig ehrgeiziges Forschungsprojekt vermittelte. Die niveauvollen Vorträge, Kommentare und Debatten regten zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Schwerpunkten der einzelnen Arbeiten an und lassen auf eine Folgeveranstaltung nach Abschluss der nächsten Forschungsphase hoffen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung: Politikfelder in der Habsburgermonarchie (Peter Becker/Jana Osterkamp)

Sektion 1: Politikfelder im 19. Jahrhundert
Moderation: Martin Schulze Wessel (München)

Jana Osterkamp (München) und Peter Becker (Wien): Regierungstätigkeit in der Habsburgermonarchie aus historisch-statistischer Perspektive

Michael Pammer (Linz): Wirtschafts-und Finanzpolitik, 1850–1914

Kommentar: Wolfram Siemann (München)

Sektion 2: Adel und Symbolpolitik
Moderation: Martina Niedhammer (München)

Marion Dotter (München): Gnade oder Kalkül? Nobilitierungen und Adelsfragen in der späten Habsburgermonarchie als vielschichtige Entscheidungsprozesse

Tatjana Tönsmeyer (Wuppertal): Sichtbarkeit und Symbolpolitik. Zur Herrschaftspraxis des böhmischen Adels in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts

Kommentar: Jan Županič (Prag)

Sektion 3: Agrarpolitik
Moderation: Thomas Rohringer (Linz/München)

Ulrich Pfister (Münster): Landreformen des 19. Jahrhunderts und die Entstehung der modernen Agrarpolitik

Kommentar: Jana Osterkamp (München)

Sektion 4: Psychiatrie
Moderation: Ruslan Mitrofanov (München)

Clemens Ableidinger (Wien): Das Politikfeld Psychiatrie unter Franz Joseph I.

Sophie Ledebur (Wien): Numbers and Their Values. Introductory Remarks on the Administration of Madness

Kommentar: Volker Hess (Berlin)

Sektion 5: Sozialpolitik
Moderation: Lisa Dittrich (München)

Sandrine Kott (Genf): Sozialstaat und Gesellschaft. Deutschland zwischen Nationsbildung und Internationalisierung (1870–1933) [Vortrag verlesen von Peter Becker]

Kommentar: Peter Collin (Frankfurt a. M.)

Sektion 6: Eisenbahnen und Infrastruktur
Moderation: Boris Ganichev (München)

Nadja Weck (Wien): Städte als Akteure in der habsburgischen Eisenbahnpolitik. Die Stadt Lemberg und ihre Rolle bei der Planung der Eisenbahnverbindung Lemberg-Brody

Milan Hlavačka (Prag): Construction of Austrian Railways as Unpredictable Decision Making

Kommentar: Benjamin Schenk (Basel)

Sektion 7: Netzwerke und Akteure
Moderation: Johannes Gleixner (München/Prag)

Andreas Enderlin-Mahr (Wien): „Networks of governance“ im Umfeld des Schreibtischs des Kaisers

Roland Wenzlhuemer (München): Das globale Telegrafennetzwerk und seine Bedeutung für die imperiale Verwaltung

Kommentar: Peter Becker (Wien)

Schlussdiskussion