Herrschaft und Widerstand gehen miteinander einher, so auch im römischen Reich. Von den Ständekämpfen in der frühen Republik bis hin zu Provinzrevolten im Prinzipat, von den Bürgerkriegen des ersten vorchristlichen Jahrhunderts bis hin zu den religiösen und politischen Konflikten in der Spätantike, von Meuterei im Heer bis hin zu städtischen Aufständen und Sklavenrebellionen – die römische Geschichte ist geprägt von politischen und sozialen Unruhen.
Mit diesen Unruhen und ihrer diskursiven Darstellung beschäftigte sich am 13. und 14. Juni 2019 im Rahmen der Tagung „Unrest in the Roman Empire. A discursive history“ eine international besetzte Forschergruppe in Tübingen um die beiden Organisatoren LISA EBERLE (Tübingen) und MYLES LAVAN (St. Andrews). In ihrer Einleitung zur Tagung skizzierten Eberle und Lavan die Grundfragen für die kommenden Beiträge und Diskussionen: Wie dachten verschiedene Akteure im römischen Reich über die sie ständig umgebenden Unruhen nach? Wie kategorisierten sie diese Unruhen und wie erklärten sie sich ihr Entstehen? Begriffe wie seditio, stasis oder tumultus und ihre Geschichte und Verwendung sollten untersucht werden ebenso wie narrative Modelle und Traditionen antiker sozialer Theorie. Im Anschluss an die gemeinsame Einleitung hielten die Organisatoren jeweils Vorträge mit eigenen Forschungsansätzen zum Thema.
Dabei nahm Myles Lavan die Entwicklung der diskursiven Auseinandersetzung mit Aufständen und Unruhen aus römischer Sicht von der späten Republik bis in das frühe dritte Jahrhundert n.Chr. in den Blick: Während in den (hauptsächlich juristischen) Quellen der späten Republik und des frühen Prinzipats hinsichtlich der Terminologie noch relativ systematisch zwischen internen und externen Formen des Konflikts unterschieden wurde, lässt sich in den späteren Jahrhunderten eine Tendenz zur internen Ursachenzuschreibung und Kriminalisierung jeglichen Konflikts feststellen.
Lisa Eberle hingegen beschäftigte sich mit einem einzelnen Autor – Appian – und untersuchte die Darstellung von Unruhen in seinem Werk, den „Rhomaika“. Appian, so ihre These, entwickelte ein einzigartiges Erklärungsmuster für Unruhen und Widerstand in den römischen Provinzen („aporetic unrest“), welches das Handeln von Rebellen als Ergebnis von existenziellen Notlagen und nicht von gezielter Ablehnung römischer Herrschaft erklärte. Dieses Erklärungsmuster könne als Teil von Hadrians neuer Vision des Reichs gesehen werden, nach der die Differenz zwischen Italien und den eroberten und somit ehemals widerstandleistenden Gebieten nivelliert werden sollten.
Im nächsten Themenblock folgten drei Vorträge zur römischen Terminologie für verschiedene Formen von Unruhen. CARSTEN HJORT LANGE (Aalborg) sprach über Unterschiede, Entwicklung und gegenseitige Beeinflussung griechischer und römischer Konzepte für Unruhen im ersten und zweiten Jahrhundert v.Chr. und die damit einhergehenden Verständnisschwierigkeiten in den antiken Quellen, die es bei der weiteren Forschung zu dieser Thematik zu berücksichtigen gilt. MICHELE LOWRIE (Chicago) erläuterte das römische Konzept der securitas. Der Princeps sollte den Bewohnern des Reichs securitas, also Freiheit von der Sorge um das eigene Wohlergehen, garantieren, indem er selber die Sorge, cura, dafür übernahm. Diese Vorstellung spielte insbesondere bei Velleius Paterculus für die Zeit des Kaisers Tiberius eine Rolle, lasse sich aber auch bei den späteren Autoren Plinius und Tacitus finden. NICOLE GIANNELLA (New York) beschrieb anschließend die breite Konzeptualisierung von Sicherheit und die hohe Individualisierung von Aufständen in der Gedankenwelt der römischen Juristen. In ihren Schriften werde die Grenze zwischen Gefährdung von Privatpersonen und öffentlicher Ordnung ständig verwischt, sodass beispielsweise Gewalttaten gegen Privatpersonen bereits als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit aufgefasst und angeklagt werden konnten.
Der dritte inhaltliche Block befasste sich mit Konzepten von Piraterie und Banditentum und wurde von GIL GAMBASH (Haifa) mit seinem Vortrag über die narrative Darstellung des Piratenwesens im römischen Reich eröffnet. Piraten wurden von den antiken Quellen als Gegenbild zu einer funktionierenden Gesellschaft gezeichnet. Dieses Narrativ finde sich bereits bei Thukydides und werde u.a. von der republikanischen Gesetzgebung, bei Cicero und Appian aufgenommen. Durch die Darstellung der Piraten als hostes communes jeder geordneten Gesellschaft und das römische Konzept des mare nostrum als geeintem, sicherem Raum wurden die gegen die Piratengefahr kämpfenden Römer zu einer Art imperialer Schutzmacht des Mittelmeerraums. BRUNO POTTIER (Aix/Marseille) thematisierte in seinem Vortrag die Darstellung von Aufständen in den Provinzen bei den spätantiken römischen Geschichtsschreibern, insbesondere bei Aurelius Victor und Ammian. Diese Autoren verstanden solche Aufstände zumeist als versuchte Usurpationen und erklärten sie durch die generelle kriminelle Veranlagung der beteiligten Völker. Für die genannten Geschichtsschreiber gab es kaum gerechtfertigte Aufstände gegen Rom. Anders als frühere Autoren wie Tacitus, lehnten sie eine mögliche Mitverantwortung der römischen Provinzverwaltung durchgehend ab.
Sklaven- und Soldatenaufstände waren der Untersuchungsgegenstand des folgenden vierten Themenblocks. PETER MORTON (Philadelphia) erläuterte, dass die Darstellung von Sklavenaufständen in den Werken der antiken Historiker ein Resultat der narrativen Logik der einzelnen Werke war, sodass der heute mögliche Blick auf diese Ereignisse stark gebrochen wird. Bei Florus und Tacitus diente die Darstellung von Sklavenaufständen so dem Narrativ des Verfalls der moralischen, politischen und sozialen Ordnung. HANS KOPP (Bochum) beschäftigte sich mit Berichten über Meuterei im römischen Heer in diachroner Perspektive bei Livius und Appian. Charakteristisch war die Darstellung von Soldatenaufständen als (innen-)politischen Aushandlungsprozessen und als spezifischer Kommunikationsart zwischen Heer und Generalität. In der Sichtweise dieses Narratives war die bestehende soziale und politische Ordnung durch die permanente Möglichkeit einer Meuterei in ständiger Gefahr.
Der zweite Tag stand im Zeichen der provinziellen Perspektiven auf das Phänomen „unrest“ und begann mit einer thematischen Einheit zu Unruhen in griechischen Städten. HENNING BÖRM (Konstanz) befasste sich mit den Akteursgruppen der staseis in griechischen Städten im 2. Jahrhundert v.Chr. Ausgehend vom 2. Makedonischen Krieg und aufgrund der römischen Übermacht ab 168 v.Chr. entwickelte sich in den griechischen Städten eine starke, auf ihren eigenen Vorteil bedachte Zugehörigkeitstendenz zu Rom, die bei Plutarch und Livius in einem Dualismus von Freund und Feind Roms gipfelte. Anschließend problematisierte BENJAMIN GRAY (London) das kulturelle Verständnis von Dissens im römischen Osten, das sich mit Beginn der römischen Übermacht zu verändern begann. Wurden Unruhen bis dahin im klassischen Stasis-Schema von weniger bzw. mehr egalitärer Politik gesehen, entwickelte sich nun ein fundamental anderes Verständnis, das vermehrt auf die moralischen Qualitäten einzelner Persönlichkeiten achtete.
Der darauffolgende Block befasste sich mit Religions- und Geschlechtsperspektiven im Hinblick auf Unruhen im römischen Reich. JAMES CORKE-WEBSTER (London) argumentierte anhand von Quellenauszügen Justins des Märtyrers, wie ein vordergründig als Entschuldigung konzipierter Text durch Theoretisierung die Thematik der Christenverfolgung auf eine neue Ebene hob und Unruhen im Römischen Reich selbst ausdifferenzierte. DAN-EL PADILLA PERALTA (Princeton) betrachtete anschließend das Buch Daniel als jüdische Handlungsanweisung für den Umgang mit imperialer Vorherrschaft im 2. und 1. Jahrhundert v.Chr., in der auch Möglichkeiten für Widerstand aufgezeigt wurden. Peralta zeigte vier zentrale Punkte auf: die Theorie der Anpassung, jüdische Gesetzestreue in Anbetracht herrschaftlicher Maßnahmen, Vergewisserung der Zukunft durch Traumdeutung und die Theologisierung des Römischen Reiches als Erklärungsstrategie für Juden. ULRIIKA VIHERVALLI (Sheffield) und VICTORIA LEONARD (London) referierten zu geschlechtsspezifischer Gewalt gegenüber Frauen in der Spätantike. Mit der Kategorisierung „gender-based violence“ (GBV), ausgehend von Gefangennahme, über politische Übergriffe durch Vergewaltigung gegnerischer Frauen bis hin zu Ermordung der Frauen selbst oder ihrer Verwandter, wiesen sie auf eine neue Dimension von „unrest“ in der Spätantike hin, die oftmals aus politischen Unruhen resultierte und gleichzeitig Teil der Erklärungsmuster dieser Unruhen war.
Die letzte thematische Einheit setzte sich mit neuen und veränderten Zentren der Macht in der Spätantike auseinander. JOHN WEISWEILER (Cambridge) kontrastierte die Narration von Provinzialaufständen im Prinzipat mit der des späten Römischen Reichs anhand der libertas bei Tacitus und Ammian. Dabei stellte er fest, dass sich mit der Transformation der Konzepte von politischer Ordnung auch das Verständnis von politischen Unruhen veränderte: Die Bedeutung von Ethnizität in Revolutionsnarrativen nahm ab und die Aufladung der Rebellenfigur wurde positiv wie negativ ausgeweitet. Anschließend argumentierte DAMIAN FERNANDEZ (DeKalb), dass die innovative Verwendung des tyrannis-Begriffs in der Chronik des Johannes von Biclaros keinem Untergangsnarrativ geschuldet war. Vielmehr zeigt sie, wie im entstehenden Westgotenreich, das mit byzantinischem Einfluss zu kämpfen hatte, Herrschaft und Widerstand gedacht und abgegrenzt wurden.
In einer abschließenden Bemerkung von GREG WOOLF (London) wurden die zentralen Ansätze und Gedanken der Tagung zusammengetragen. Dabei charakterisierte er Unruhen als ein temporäres, spaltendes Phänomen und betonte ihre verschiedenen Ausmaße. Woolf verdeutlichte, welche Rolle römische Vorstellung bei der Konzeption des Begriffs „Unruhen/unrest“ spielt, und stellte fest, dass man durchaus eine „Sprache der Unruhe“ in der Antike finden kann. Dies verdeutlicht wiederum, dass „unrest“ in der Antike ein Phänomen war, das stets narrativ verarbeitet wurde.
Konferenzübersicht:
Introduction
Lisa Eberle (Universität Tübingen)/Myles Lavan (St. Andrews University): Welcome and setting the scene
Myles Lavan (St. Andrews University): Towards a history of Roman discourses of unrest
Lisa Eberle (Universität Tübingen): Aporetic unrest: Appian's materialism reconsidered
Roman concepts
Carsten Hjort Lange (Aalborg University): The Roman Language of civil war: from Internal War and stasis to bellum civile
Michele Lowrie (Chicago University): Securitas as ideology and narrative strategy
Nicole Giannella (Cornell University New York): Uproar and Unrest in Roman Law: Seditio in its Legal Context
Roman (and others’) concepts: piracy & banditry
Gil Gambash (Haifa University): No Sea Could Be Navigated: Piracy in the Roman Mediterranean
Bruno Pottier (Aix-Marseille University) Bandits, barbarians and usurpers: the narrative of provincial unrest in the third and fourth century
Slaves & soldiers in Roman historiography
Peter Morton (William Penn Charter School Philadelphia): Tacitus, Florus, and slave revolts: servile insurrection as a historiographical tool
Hans Kopp (Universität Bochum): Mutiny, then and now: diachronic perspectives on military unrest in Roman historiography
Provincial perspectives (I): Greek cities
Henning Börm (Universität Konstanz): Friends and enemies of Rome? Stasis in the second century BCE
Benjamin Gray: (London University) Struggles to define and counter-define dissent in the cities of the early Roman East
Provincial Perspectives (II): Jews and Christians
James Corke-Webster (London University): The Apologetic Memory of Persecution
Dan-el Padilla Peralta (Princeton University): Tell me how I conquered you: some clues from the 2nd c. BCE Mediterranean
Troublesome people? Christians & women
Ulriika Vihervalli (Sheffield University) & Victoria Leonard (London University): Locating Gender-Based Violence in Late Antiquity
New and changed centers
John Weisweiler (Cambridge University): Revolt, Sedition and Counterinsurgency in the Later Roman State
Damien Fernandez (Northern Illinois University DeKalb): Tyranny, Invasion, and Rebellion in the Visigothic Kingdom
Greg Woolf (London University): Closing thoughts and discussion