Inklusive Ausstellung. Konzeptionierung, Umsetzung und Zugänglichkeit

Inklusive Ausstellung. Konzeptionierung, Umsetzung und Zugänglichkeit

Organizer(s)
Anne Frank Zentrum; »Verunsichernde Orte«
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
05.12.2019 -
Conf. Website
By
Malte Lührs, Bildungsabteilung, Outreach, Jüdisches Museum Berlin

„Mit Inklusion wird alles schöner!“ (Meike Günther)

Inklusion ist ein viel diskutiertes Thema im Feld der Gedenkstätten und Museen. Der Begriff steht für „ein Leitbild gesellschaftlichen Zusammenseins: eine Gesellschaft, in der jeder Mensch dazugehört“.1 Ein weites Verständnis von Inklusion umfasst demnach den Anspruch, soziale und kulturelle Teilhabe für alle Menschen zu ermöglichen. Als Voraussetzung hierfür müssen Ausstellungen und Bildungsangebote so entwickelt und gestaltet werden, dass sie für alle Menschen räumlich, inhaltlich und methodisch zugänglich sind. Es gilt daher Diskriminierungen in Form von Barrieren zu erkennen und abzubauen, die Menschen bislang von solchen Angeboten ausschließen oder einen Zugang erschweren.

Die Frage, wie die Entwicklung und Umsetzung einer Ausstellung möglichst inklusiv gestaltet werden kann, war Gegenstand des Fachtags „Inklusive Ausstellung: Konzeptionierung, Umsetzung und Zugänglichkeit“, der am 05. Dezember 2019 stattfand und gemeinsam vom Anne Frank Zentrum in Kooperation mit dem Team des Weiterbildungsangebots »Verunsichernde Orte« organisiert wurde. Der Prozess der Entwicklung einer inklusiven Ausstellung umfasst von Beginn an verschiedene Schritte und Entscheidungen, die berücksichtigt werden müssen: Wie können Menschen mit Behinderungen als Expert/innen in eigener Sache in den Entstehungsprozess einer Ausstellung einbezogen werden? Wie sehen inklusive Ansprachen der Öffentlichkeitsarbeit aus? Welche Zugänge und Formate gibt es für blinde oder schwerhörige Menschen? Welche Formen und Medien der Vermittlung für Besucher/innen mit Behinderungen braucht es?

Der Fachaustausch nahm die Erfahrungen des Anne Frank Zentrums in der Konzeption und Umsetzung der Ausstellung „Alles über Anne“ zum Ausgangspunkt, das Thema Inklusion mit Expert/innen aus dem Feld der Bildung und Vermittlung zu diskutieren. Im Rahmen von Workshops stellten Expert/innen aus unterschiedlichen Museen und Gedenkstätten ihre Erfahrungen in der Entwicklung und Umsetzung inklusiver Ausstellungen und medialer Angebote vor. Im Rahmen der Diskussionen ist deutlich geworden, dass Inklusion ein Prozess ist, dem verschiedene Entscheidungen vorausgehen müssen. Die Entscheidungen für ein inklusives Angebot sind immer auch Entscheidungen gegen etwas. Diese Entscheidungen können für Ausstellungsmacher/innen und Wissenschaftler/innen schmerzhaft sein. So wurde im Workshop „Leichte Sprache in Ausstellungen und pädagogischen Angeboten“ ein grundlegendes Spannungsfeld der historisch-politischen Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust diskutiert – der Anspruch an historischer Komplexität versus der Anspruch an sprachlicher und inhaltlicher Verständlichkeit und eine damit einhergehende Notwendigkeit von Vereinfachung.

LISA QUAESCHNING (Brandenburg an der Havel), Pädagogische Mitarbeiterin der Gedenkstätten Brandenburg an der Havel und LUTZ ALBRECHT (Brandenburg an der Havel) berichteten von den Angeboten der Gedenkstätte Brandenburg an der Havel in leichter Sprache. Die Gedenkstätte verfügt über einen Ausstellungskatalog wie auch ein Führungskonzept in leichter Sprache, das sich auch – aber nicht ausschließlich – an Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten richtet. Dem Ansatz des „Nicht über uns ohne uns“ folgend wurden „Expert/innen in eigener Sache“ in die Entwicklung eines Führungskonzepts von Beginn an aktiv miteinbezogen. Quaeschning machte sehr deutlich, dass es der Gedenkstätte als Ort der „Euthanasie“-Morde besonders wichtig sei, Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht als potentielle Opfer anzusprechen. Im Rahmen des Workshops stellte außerdem SABINE SIEG (Berlin), Mitarbeiterin der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die Materialien der Gedenkstätte in leichter Sprache vor. Die Gedenkstätte hat in den letzten Jahren vier Kataloge und einen Audioguide in leichter Sprache entwickelt. Darüber hinaus gibt es zwei Führungskonzepte und Projekttage, die in leichter Sprache umgesetzt werden. Die Erfahrungen der Gedenkstätte Deutscher Widerstand machen deutlich, dass der Umsetzung inklusiver Angebote eine Klärung des Vermittlungsziels voran gehen muss: Was möchte ich vermitteln? Wen möchte ich erreichen? Eine inhaltliche Übersetzung der bestehenden Materialien in leichte Sprache verfehle das Ziel der Zugänglichkeit. Die Entwicklung eines inklusiven Angebots sei auf Seiten von Historiker/innen mit der Herausforderung verbunden, einen Teil der Deutungshoheit über historische Sachverhalte zugunsten einer Vermittlung und Zugänglichkeit für alle aufzugeben.

Im Workshop „Nach der Eröffnung: Begleitung und Vermittlung für Menschen mit Behinderungen“ stellten REGINA SCHULZ (Berlin) und DAVID ZOLLDAN (Berlin) die Erfahrungen im Denkmal für die ermordeten Juden Europas und in der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz mit Blick auf eine inklusive Vermittlungsarbeit vor. David Zolldan beschrieb den Entwicklungsprozess der neuen Dauerausstellung „Die Besprechung am Wannsee und der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden“. Der inklusive Ansatz der Ausstellung war von Anfang an zentral in der Konzeption. In der konkreten Umsetzung gab es aber immer wieder Interessenkonflikte zwischen verschiedenen beteiligten Personen und Gremien. Positiv im Sinne einer stärker inklusiven Ausstellungskonzeption wirkte sich der persönliche Kontakt zwischen den „Expert/innen in eigener Sache“ und den anderen Gremien aus. Im persönlichen Austausch konnte ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse und Ansprüche unterschiedlicher Zielgruppen entwickelt werden.

Regina Schulz (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas) stellte die pädagogischen Konzepte für eine inklusivere Vermittlung vor. Führungen in leichter Sprache wurden gemeinsam mit Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt. Die Angebote wurden dann durch „Prüfgruppen“ (Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Einschränkungen) getestet, deren Rückmeldungen zur Überarbeitung der Angebote genutzt wurden. Die Rückmeldungen waren teilweise anders als erwartet. So gab es zum Beispiel ein großes Bedürfnis danach, die Sicherheitsschleuse am Eingang der Ausstellung erklärt zu bekommen. In der Diskussion wurden verschiedene Erfahrungen in der Umsetzung inklusiver Zugänge ausgetauscht, wie etwa am Gedenk- und Informations-Ort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde in Berlin, an dem Menschen mit und ohne Behinderungen im Tandem Führungen umsetzen. Positiv bewertet wurde auch die inklusive Objekt-Kiste der Gedenkstätte Flossenbürg. Diese beinhaltet sechs Objekte, die einen niedrigschwelligen Einstieg ermöglichen. Mittlerweile hat sich das Material so bewährt, dass es auch bei Gruppen ohne besondere Einschränkungen eingesetzt wird.

Damit eine inklusive Vermittlungsarbeit gelingen kann, braucht es Voraussetzungen, die eine Institution als Ganzes betreffen: Sensibilisierung für die Beschäftigten sind ebenso nötig wie die Umsetzung baulicher Veränderungen. Hier zeigen sich in der Praxis oft Schwierigkeiten, unter anderem mit Blick auf das Thema Denkmalschutz. GOTTFRIED KÖSSLER (Frankfurt) machte im Rahmen des Workshops deutlich, dass eine pädagogische Beschäftigung mit dem Thema Inklusion bzw. die Entwicklung inklusiver Zugänge der Vermittlung nicht ausreichend seien. Damit eine Institution inklusiver werde, brauche es eine dauerhafte Begleitung des Prozesses durch Expert/innen.

Wie ein erfolgreiches Ausstellungsprojekt für blinde und sehbeeinträchtigten Personen auch über die Ausstellungsdauer hinaus wirken kann, stellte KATRIN PASSENS (Berlin) von der Gedenkstätte Berliner Mauer anhand des Entwicklungsprozesses der Ausstellung „Sprechende Bilder. Die Bernauer Straße 1961 bis 1989“ vor. In dieser Ausstellung sollten ausgewählte Fotografien auch blinden und sehbeeinträchtigten Menschen zugänglich gemacht werden. Zu jedem ausgestellten Foto gab es Text in Brailleschrift und Schwarzschrift sowie eine ausführliche Audiobeschreibung. Die Ausstellung sei ein großer Erfolg gewesen, weil sie zur Sensibilisierung vieler Abteilungen innerhalb der Gedenkstätte geführt habe. Das für die Ausstellung installierte Leitsystem werde dauerhaft beibehalten. Weitere Überarbeitungen zum Abbau von Barrieren seien in Planung.

Die Rahmenbedingungen und Schwierigkeiten eines inklusiven Ausstellungsprojekts diskutierte BRIGITTE VOGEL (Berlin) in ihrem Input. Die Verantwortung für Inklusion werde oft in der Bildungsabteilung „abgestellt“, es brauche jedoch ein gemeinsames inklusives Konzept des Hauses. Kurator/innen, Gestalter/innen, Öffentlichkeitsarbeit und Pädagog/innen müssten gemeinsam an der Entwicklung inklusiver Zugänge arbeiten. Inklusion sei daher auch mit hohen Kosten verbunden. Vorbildlich seien die sogenannten Kommunikations-Stationen des Deutschen Historischen Museums, die die Ausstellungstexte in fünf Sprachen zeigen: Deutsch und Englisch, Brailleschrift, Deutscher Gebärdensprache und Leichter Sprache. Problematisch sei, dass in den Museen kaum Menschen mit Einschränkungen arbeiteten und ihre Perspektiven nur von außen an die Museen herangetragen würden. Insgesamt habe sich die Arbeit der „Expert/innen in eigener Sache“ bewährt. Allerdings müsse reflektiert werden, inwieweit Einzelpersonen mit ihren individuellen Perspektiven für eine ganze (oft sehr heterogene) Gruppe sprechen könnten.

Im Workshop „Angebote und Zugänge für gehörlose Menschen“, stellte KAROLINE WIRTH (Dachau) das Inklusionsangebot der KZ-Gedenkstätte Dachau für gehörlose Menschen vor. Die 2018 entwickelte App mit Gebärdensprachvideos sei online kostenlos downloadbar oder auf vor Ort bereitgestellten iPads verfügbar. Das Angebot richte sich überwiegend an Einzelbesucher/innen. Die Entwicklung der App sei mit einigen Komplikationen verbunden gewesen. Problematisch wäre beispielsweise die große Datenmenge der App und die Bildrechte, der in der Ausstellung gezeigten Fotos, welche eine Abbildung in der App verhinderten. HENRIK MÜLLER (Berlin) informierte abschließend über die Zusammenarbeit zwischen yomma GmbH, einem Dienstleister im Bereich Gebärdensprache, und Museen, die Angebote in Gebärdensprache entwickeln wollten. Er diskutierte Kriterien, die eine Ausstellung erfüllen müsse, damit sie für gehörlose Menschen nutzbar sei. Auch bei der Bewerbung von Angeboten sollten gehörlose Menschen mitgedacht und das eigene Werbematerial entsprechend gestaltet werden. Angebote in Gebärdensprache könnten auch über Web-Angebote beworben werden, die von der Community genutzt würden, wie das Onlineportal Taubenschlag, Reisen für Alle oder die Instagram-Seite von yomma.

MEIKE GÜNTHER (Berlin) machte in ihrem Tagungs-Resümee deutlich: In der Entwicklung einer inklusiven Ausstellung könnten Konflikte entstehen zwischen den Expert/innen des historischen Gegenstands auf der einen Seite und den Expert/innen in eigener Sache und im Themenfeld Inklusion auf der anderen Seite. Hierfür brauche es eine grundsätzliche Entscheidung, ob mit Blick auf historische Narrative der Anspruch an Vollständigkeit oder der an Niedrigschwelligkeit umgesetzt werden solle. Beides sei schwer vereinbar. Inklusion sollte nicht allein unter dem Aspekt vorhandener Ressourcen betrachtet werden. Die Frage, ob sich Inklusion lohne, sei eine menschenrechtliche Frage. Mit der Entwicklung inklusiver Zugänge werde die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten erhöht. Inklusion ernst nehmen heiße auch, Behindertenfeindlichkeit als gesellschaftlich weit verbreitete Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ernst zu nehmen und dem etwas entgegenzusetzen.

Konferenzübersicht:

Möglichkeit des Besuchs der Ausstellung „Alles über Anne“

Patrick Siegele (Direktor des Anne Frank Zentrums): Grußwort

Einstieg und Kennenlernen

Veronika Nahm (Anne Frank Zentrum): Überlegungen zum Thema Inklusion in der Ausstellung „Alles über Anne“

Workshops

Lisa Quaeschning (Gedenkstätte für die Opfer der „Euthanasie“-Morde) / Sabine Sieg (Gedenkstätte Deutscher Widerstand): Leichte Sprache in Ausstellungen und pädagogischen Angeboten

Katrin Passens (Gedenkstätte Berliner Mauer) / Brigitte Vogel (Deutsches Historisches Museum): Angebote und Zugänglichkeit für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen

Regina Schulz (Denkmal für die ermordeten Juden Europas) / David Zolldan (Gedenk-und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz): Nach der Eröffnung: Begleitung und Vermittlung für Menschen mit Behinderungen

Karoline Wirth (KZ-Gedenkstätte Dachau) / Astrid Hohmann (Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen) / Henrik Müller (yommaGmbH): Angebote und Zugänge für gehörlose Menschen

Meike Günther (Katholische Hochschule für Sozialwesen): Tagungsreflexion

Anmerkung:
1 Elke Diehl, Teilhabe für alle?! Lebensrealitäten zwischen Diskriminierung und Partizipation, Bonn 2017, S. 15.


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