Oral History boomt – so ließe sich sagen. Dabei kann sie auf eine beachtliche eigene Geschichte und Institutionalisierung zurückblicken. Für die zeithistorische Migrationsforschung gehören Methoden und Quellen der Oral History zunehmend, wenn auch noch nicht selbstverständlich, zum Repertoire der Erhebung und Auswertung. Das gesammelte Material dient nicht zuletzt der Wissenschaftskommunikation und erinnerungskulturellen Repräsentation. Um es der weiteren Forschung zur Verfügung zu stellen, wird es nicht selten in eigens dafür geschaffene Archive und Sammlungen gegeben. Da Forscher:innen, die auf die Interviews in Sekundäranalysen zugreifen, selbst nicht an der Entstehung dieser Quellen beteiligt waren, begegnen sie ihnen mit einem anderen Erkenntnisinteresse als dem, für das das Interview originär geschaffen wurde. Hinzu kommt, dass mit Interviews Forschende dazu neigen, häufig nur auf die Transkripte zurückzugreifen und die Audioaufnahmen während ihrer Analysen weniger zu berücksichtigen. Aus dieser Gemengelage ergeben sich besondere Chancen und Herausforderungen, Potenziale und Grenzen bei der Sekundäranalyse von Interviews, die es lohnt, genauer in den Blick zu nehmen.1
Zu diesem Zweck veranstaltete die Werkstatt der Erinnerung – das Oral-History-Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg – die von der VW-Stiftung geförderte Sommerschule, die ursprünglich für letztes Jahr anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Werkstatt geplant war. Eine interdisziplinär und international zusammengesetzte Gruppe von Nachwuchswissenschaftler:innen fand sich zusammen, um auch in der Wissenschaft wieder gemeinsam zu arbeiten, zu hören, zu interpretieren und zu diskutieren. Die Grundlage für die kontinuierliche Arbeit in Kleingruppen, auf der der Schwerpunkt des Workshops lag, bildeten vier Interviews aus dem Bestand der Werkstatt der Erinnerung zum Thema Migration.2 Das von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.S.V. unterhaltene Seminarzentrum Gut Siggen erwies sich als geeigneter Ort für das freie, gemeinsame und intensive Arbeiten an den Quellen. Für die Werkstatt der Erinnerung war es zudem die erste Sommerschule und – ohne ein Fazit vorweg nehmen zu wollen – ein Erfolg.
Nach der Begrüßung der Teilnehmer:innen durch den Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte THOMAS GROSSBÖLTING (Hamburg) und einer kleinen Geschichte des sich wandelnden Umgangs mit mündlichen Quellen an der Forschungsstelle durch LINDE APEL (Hamburg) machte KRISTINA SCHULZ (Neuchâtel) den thematischen Auftakt zur Sommerschule. Sie schnürte in ihrem Online-Vortrag die zwei Themenkomplexe Migration und Oral History einführend zusammen und zeichnete die großen Linien der Migrationsgeschichte (West-)Europas seit 1945 nach. Peter Gatrell folgend stelle das Jahr 1945 auch eine „natürliche“ Grenze für Oral-History-Ansätze dar, sofern nicht intergenerationelles Erzählen im Fokus des Forschungsinteresses stehe.3 Schulz betonte vor allem das Potenzial, das die Oral History für die historische Migrationsforschung biete, da Migrant:innen oft weniger Schriftlichkeit hinterließen. Um diese Überlieferungslücken zu schließen, erweise sich ein lebensgeschichtlicher Zugang als besonders fruchtbar. Man könne so Erkenntnisse über die historischen Erfahrungen und deren Deutungen von migrantischen Akteur:innen selbst gewinnen. In der US-amerikanischen Oral History seien Prozessorientierung und Bestandsergänzung demnach schon lange Teil der Forschungstradition. Angesichts weniger Oral-History-Studien im Bereich der Migrationsforschung erscheint Schulz die These von der Unterforschung, die Alistair Thomson bereits 1999 in seinem Aufsatz „Moving Stories. Oral History and Migration Studies“4 ausformulierte, immer noch aktuell. Gleichzeitig plädierte sie für ein anspruchsvolles Selbstverständnis einer zeitgemäßen Geschichtswissenschaft, die ohne Einbezug von Migration und ihren Akteur:innen undenkbar sei. Neben diesen grundlegenden inhaltlichen Aspekten wurden methodische und forschungsethische Fragen für den Umgang mit der besonderen Quellenform und den quellenimmanenten Interaktionssituationen aufgeworfen – Fragen, die im Verlauf der Sommerschule wieder aufgegriffen wurden, wie etwa die, ob es überhaupt legitim und möglich sei, eine Zweitauswertung eines Interviews vorzunehmen, wenn man nun ganz andere Fragen daran stellt.
In Vorbereitung auf die Sommerschule hatten die Veranstalterinnen ANDREA ALTHAUS, LINDE APEL, LINA NIKOU und JANINE SCHEMMER ein archiviertes Interview aus den 1990er-Jahren einer Zweit- und Kollektivauswertung unterzogen.5 Das Interview war ursprünglich im Rahmen einer Arbeit entstanden, die sich für die Erfahrungen von Kommunist:innen im Nationalsozialismus interessierte. Bei der gemeinsamen Arbeit stützen sie ihre Analysen explizit auf die auditive Überlieferungsform. In ihrem Beitrag zu den Deutungsmöglichkeiten mündlicher Quellen in der Sekundäranalyse betonten sie deshalb, dass Interviews neben dem thematisch-inhaltlichen Aussagegehalt auch formal-sprachliche, körperlich-sinnliche und situativ-performative Dimensionen besäßen, die während der Übersetzung in Schriftsprache abhandenkommen können. Die Teilnehmer:innen wurden dazu angehalten, sich während der Kleingruppenarbeit explizit mit der Tonaufnahme zu beschäftigen und ihr Wissen um ihre vielschichtige Verfasstheit einzubringen.
Andrea Althaus und Linde Apel gestalteten eine Einheit zu den historischen, biografischen und narrativen Kontexten von lebensgeschichtlichen Erzählungen. Am Beispiel des von den Veranstalterinnen für einen Aufsatz analysierten Interviews wurden im Plenum Höreindrücke und Interpretationsangebote zu zwei markanten Sequenzen gesammelt. Zunächst ging es um den Intervieweinstieg. Besonders Eingangskonstruktionen verfügten über außerordentliches Analysepotenzial, werde aus ihnen doch bereits erkennbar, wie Menschen ihr Leben retrospektiv strukturieren, welche Themen und Topoi bedeutsam und sinnstiftend für die weitere Erzählung sein können und vor allem, wie erzählt werde. In der zweiten Sequenz wurde dann besonders deutlich, dass sich Interviewpartner:innen bei ihrem Lebensrückblick an kulturell bekannten Wissensbeständen und sozial vermittelten Erzählformen orientieren. So bekamen die Teilnehmerinnen eine typische, chronologische Abenteuergeschichte eines erfahrenen und gewissenhaften Erzählers zu hören. Die Prüfung von Parallelquellen während der Erarbeitung des Aufsatzes habe den Veranstalterinnen dann abermals verdeutlicht, dass lebensgeschichtliche Erzählungen, so sehr sie situationsabhängig entstehen und narrativen Konstruktionsregeln folgen, durchaus verlässlich auf historische Erfahrungen, Erlebnisse und Ereignisse verweisen, also über einen hohen Grad an Faktizität verfügen können.
Die Deutungswerkstatt „Gemeinsam Hören“ nach JOCHEN BONZ (Münster) ist Teil der von ihm veranstalteten ethnographischen Supervisionsgruppen und nahm die Zweitauswertenden in den Blick. Stellvertretend für den kurzfristig verhinderten Jochen Bonz luden Lina Nikou und Janine Schemmer die Teilnehmer:innen dazu ein, von ihren Emotionen und Gefühlslagen beim erstmaligen Hören der Audioaufnahmen zu berichten. Es wurde deutlich, dass auch Dritte, die nicht mehr Teil der unmittelbaren Interviewkonstellation sind, während der Arbeit an den Quellen nicht unbeteiligt bleiben, sondern emotional in höherem Maße involviert sind, als zuvor erwartet. Auch wenn auditive Quellen über ein größeres Potenzial verfügen, ihre Zuhörer:innen auch emotional einzubeziehen, stellt dies kein Alleinstellungsmerkmal von Tondokumenten dar. Aber besonders hier sollte eine Reflexion der eigenen Gefühlswelt beständige Begleiterin des Forschens sein.
Abends gab es eine Diskussion zu disziplinären und methodischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden von verschiedenen Formen qualitativer Interviews sowie den forschungspraktischen Konsequenzen. Es wurden vor allem die zwei gängigsten Methoden zur Generierung von Erinnerungserzählungen besprochen: zum einen das in den 1970er-Jahren in den Sozialwissenschaften entwickelte narrativ-biografische Interview nach Fritz Schütze, zum anderen das in der deutschsprachigen Oral History gängige lebensgeschichtliche Interview. Während das von Dorothee Wierling, Lutz Niethammer und Alexander von Plato geprägte lebensgeschichtliche Interview bei der Interviewführung noch stark an Schützes Ansatz orientiert sei, unterscheide es sie sich vor allem hinsichtlich der Interviewauswertung vom Vorbild. Bei den Versuchen, beide Ansätze in der Diskussion idealtypisch zu fassen, wurde schnell klar, dass die Wahl der Methode letztendlich stark vom Erkenntnisinteresse der Forschenden abhängt und dass in der Forschungspraxis oft hybride Formen vorzufinden sind.6
Die Deutungswerkstatt vom Vortag aufgreifend, besprachen Janine Schemmer und Lina Nikou mit den Teilnehmer:innen am nächsten Tag erneut den Konnex zwischen Emotion und (Zu)Hören als Kulturtechnik. Sie plädierten dafür, sich auf die sinnliche Wahrnehmung im Forschungs- und Analyseprozess einzulassen, da Bedeutung über Tonfall, Sprechrhythmus und Stimme transportiert werde. Während Hören nach Roland Barthes als physiologischer Akt verstanden werden kann, handelt es sich beim Zuhören nämlich um einen sozialpsychologischen Prozess. Besonders eindrücklich wurde die Verbindung anhand einer weiteren Hörprobe aus dem besagten Interview: dem überraschenden Interviewabbruch, der auf den Wunsch des Interviewten zurückging. Dass es möglich war, diesem neuralgischen Moment nachzuspüren und so nochmals relevante Einblicke in die Beziehungsdynamik der Interviewpartner zu gewinnen, ist dem Umstand zu verdanken, dass beide die Abbruchsituation nachträglich auf Band besprachen. Es zeigte sich, dass Interviews als Produkte sozialer Kommunikationsprozesse einen Verlauf einschlagen können, der von den Interviewer:innen und auch von den Interviewten nicht intendiert war. Aber vor allem wurden die Zuhörenden Ohrenzeug:innen davon, dass es Oral History als Forschungsmethode vermag, Gefühle und Stimmungslagen offenzulegen. Bisher eher genutzt, um historische Erfahrungen zu explorieren, gelang es u.a. Benno Gammerl kürzlich so, mit Hilfe von Interviews eine Emotionsgeschichte des queeren Lebens in der Bundesrepublik zu schreiben.7
Die Abschlusspräsentation erlaubte es allen Teilnehmer:innen nicht nur, erstmals mehr über die Interviews der anderen Gruppen zu erfahren, sondern offenbarte auch die unterschiedlichen Herangehensweisen und Schwerpunktsetzungen bei der Feinanalyse des Quellenmaterials. Gleich in der ersten Präsentation wurde deutlich, dass es trotz der intensiven gemeinsamen Arbeit an dem Material bei Kollektivanalysen zu divergenten Lesarten kommen kann, die wiederum selbst interessante Untersuchungsgegenstände abgäben.
In der zweiten Vorstellung lag der Schwerpunkt auf der Beziehung von Narrationsanalyse und Emotionsanalyse. Eine Interviewsequenz, in der die Interviewpartnerin über einen tragischen Moment in ihrem Leben sprach und diesen mit einem für die Zuhörer:innen irritierenden Lachen kommentierte, führte dem Plenum vor Augen, dass gerade Gefühlsäußerungen wie Lachen ambivalente Funktionen übernehmen können. Es wurde wiederholt festgestellt, dass Situationen wie diese mitunter nur unzureichend im Transkript eingefangen werden können.
In der dritten Vorstellung wurden noch einmal andere Punkte im Umgang mit Erinnerungserzählungen berührt. Anhand verschiedener Versionen der Lebensgeschichte einer „prominenten“ Zeitzeugin der Shoah wurde deutlich, dass sich Erzählungen über denselben Gegenstand im Laufe der Zeit verändern können, weil sie von den Erzähler:innen angepasst werden. Interviews können auch Gegenstand einer kritischen Rezeptionsgeschichte sein, werden sie auch für erinnerungspolitische Kontexte und die historisch-politische Bildungsarbeit herangezogen. Da das Interview der letzten Gruppe als Videoaufnahme überliefert wurde, fühlten sich die Mitglieder dazu eingeladen, ihr Augenmerk auf die Beziehungsdynamiken zwischen den vier am Interview Beteiligten – dem interviewten Ehepaar, dem Interviewer und der Kamerafrau – und die Interviewführung und -gestaltung zu richten. Einmal mehr kam in der Ergebnispräsentation durch eine sprachwissenschaftliche Verdatung des Interviews sowie die Auseinandersetzung mit Gestik und Mimik der Sprecher:innen die interdisziplinäre Zusammensetzung der Teilnehmer:innen sowie das besondere Analysepotenzial des audiovisuellen Materials zur Geltung.
Als Fazit der Sommerschule formulierten viele Teilnehmer:innen die Absicht, die Erfahrungen der Kollektivanalyse in ihre jeweiligen Forschungsvorhaben übersetzen zu wollen und wieder vermehrt auf die auditive Überlieferungsform ihres Interviewmaterials zurückzugreifen. Es erscheint plausibel, Analysewege und -kontexte in Publikationen transparenter zu machen, auch, um das nicht immer mögliche gemeinsame Hören und Besprechen zumindest ein Stück weit zu kompensieren. Während die Sommerschule 2021 den Fokus auf das Hören legte, wurde angeregt, in einem folgerichtig nächsten Schritt den Blick gemeinsam auf den Schreibtisch zu richten.
Konferenzübersicht:
Thomas Großbölting: Begrüßung
Linde Apel (Hamburg): Vorstellung des Veranstaltungsprogrammes und Einführung in die Werkstatt der Erinnerung an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Kristina Schulz (Neuchâtel): Oral History und Migration (digital)
Input und Plenumsdiskussionen
Linde Apel, Andrea Althaus (Hamburg), Lina Nikou (Jerusalem), Janine Schemmer (Klagenfurt): Deutungsmöglichkeiten mündlicher Quellen in der Sekundäranalyse
Linde Apel und Andrea Althaus: Historische Kontexte und narrative Analyse
Jochen Bonz (Münster): Gemeinsam Hören – Deutungswerkstatt (stellvertreten durch Janine Schemmer und Lina Nikou)
Linde Apel, Andrea Althaus, Janine Schemmer: Formen qualitativer Interviews
Janine Schemmer und Lina Nikou: Kulturtechnik (Zu)Hören und Emotionen
Anmerkungen:
1 Linde Apel, Oral History reloaded. Zur Zweitauswertung von mündlichen Quellen, in: Westfälische Forschungen – Zeitschrift des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte 65 (2015), S. 243-254, <https://www.zeitgeschichte-hamburg.de/contao/files/fzh/pdf/Apel_westf_forsch_Bd%2065_2015.pdf> (20.09.2021).
2 Migration und Mobilität, < http://www.werkstatt-der-erinnerung.de/migration/index.html> (20.9.2021).
3 Peter Gatrell, The Unsettling of Europe. The Great Migration, 1945 to the Present, London 2019.
4 Alistair Thomson, Moving Stories: Oral History and Migration Studies, in: Oral History 27/1 (1999), S. 24-37.
5 Andrea Althaus, Linde Apel, Lina Nikou, Janine Schemmer, Ein Interview, zwei Gesprächspartner, drei Fragehorizonte, vier Mithörerinnen. Deutungsmöglichkeiten einer archivierten Audioaufnahme, in: Linde Apel (Hrsg.), Erinnern, erzählen, Geschichte schreiben. Oral History im 21. Jahrhundert (im Erscheinen).
6 Die Diskussion ist nicht neu, lohnt sich aber jeweils konkret am eigenen Forschungsvorhaben zu führen; siehe: Narrative Interviews, in: Christine Bischoff, Karoline Oehme-Jüngling, Walter Leimgruber (Hrsg.): Methoden der Kulturanthropologie, Stuttgart 2014, S. 117-130; siehe auch: Frank Beier, Zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie: Was leistet die Biografieforschung für die Erforschung von Diktaturen?, in: Denken ohne Geländer. Der Blog des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V., <https://haitblog.hypotheses.org/1886#identifier_28_1886> (20.09.2021).
7 Benno Gammerl, anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte, München 2021.