HT 2021: Wie Zusammenleben? Zum Wandel europäischer Deutungen fremdkultureller Geschlechterverhältnisse

HT 2021: Wie Zusammenleben? Zum Wandel europäischer Deutungen fremdkultureller Geschlechterverhältnisse

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Malte Wittmaack, Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Universität Bielefeld

Unter dem Titel „Wie Zusammenleben? Zum Wandel europäischer Deutungen fremdkultureller Geschlechterverhältnisse“ wurden in der Perspektive der longue durée europäische Wahrnehmungen von Geschlechterverhältnissen in Situationen des Kulturkontaktes in drei Vorträgen vom Hochmittelalter bis ins 19. Jahrhundert nachgezeichnet. Das so entstandene Panorama der Beschreibung und Bewertung fremdkultureller Geschlechterverhältnisse durch Europäer:innen legte einerseits Kontinuitäten und Brüche in der europäischen Bewertung offen. Andererseits ließ es auch die Bedeutung der Bewertung von Geschlechterverhältnissen für den Kulturkontakt ganz generell erkennen.

ANTJE FLÜCHTER (Bielefeld) eröffnete das Panel mit einer Einführung, die eine Relevanz des Themas anhand der medialen Berichterstattung zur gegenwärtigen Situation in Afghanistan und der Rückkehr der Taliban in Erinnerung rief. Die Frage danach, wie die Geschlechterverhältnisse der „Anderen“ bewertet und gedeutet würden, ob sie – wie im Fall der Taliban — gar als „mittelalterlich“ und damit rückwärtsgewandt beschrieben würden, spiele nicht nur für die Gegenwart eine entscheidende Rolle, sondern sei auch in der Vergangenheit ein wichtiger Bestandteil fremdkultureller Wahrnehmungen gewesen. Antje Flüchter betonte an dieser Stelle auch, dass die Referentinnen sich in ihren Vorträgen dem Thema zwar aus einer europäischen Perspektive und mit europäischen Quellen nähern würden, die Vorträge aber Europa insoweit „provinzialisieren“ würden, als sie die europäischen Akteur:innen außerhalb ihrer Heimatkontexte analysierten, sie in Situationen des Verstehens und Ordnens zeigten. Über die Perspektive des Kulturkontakts könnten so europäische Geschlechterrollen neu diskutiert und kritisiert werden. Flüchter betonte außerdem die Sensibilität von Kontaktsituationen, die sie an drei Punkten festmachte: Erstens seien Europäer:innen zum Teil von den Geschlechterverhältnissen in der Kontaktzone irritiert gewesen. Dies habe zweitens häufig dazu geführt, dass sie die vorgefundenen Verhältnisse nicht nur verstehen, sondern auch in eigene Bewertungs- und Beschreibungskontexte übersetzen mussten. Dies gelte auch gerade dort, wo die Beobachtungen aus der Kontaktzone einem europäischen (Leser:innen)-Publikum verständlich gemacht werden musste. Drittens sei auffallend, dass Vergleiche von Geschlechterverhältnissen im Kulturkontakt die außereuropäischen Kontaktzonen häufig als dem europäischen „Standard“ unterlegen eingeordnet haben.

ALMUT HÖFERT (Oldenburg) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der europäischen Wahrnehmung von Geschlechterverhältnissen in Reiseberichten über das Osmanische Reicht. Dabei schlug Höfert einen großen Bogen vom Hochmittelalter bis ins 15. Jahrhundert. Am Beispiel der schwedischen Mission im Hochmittelalter zeigte die Referentin zunächst, dass die Darstellung von Geschlechterverhältnissen auch in dieser Frühphase schon einen wichtigen Platz in den Texten einnahm, dass aber die Beschreibung von Frauen keine wichtige Rolle spielte. Der Reiseraum in den frühen Quellen sei „vergeschlechtlicht“ konzipiert worden, die Fruchtbarkeit des Landes beispielsweise sei mit der Fruchtbarkeit des jungfräulichen Körpers verglichen worden oder das Verhältnis von Missionaren zu ihrer Kirche als Mutter-Sohn-Verhältnis konzeptualisiert worden. Dies änderte sich, so Höfert, im 14. und 15. Jahrhundert. In den nun zunehmend mit ethnographischen Elementen angereicherten Reisetexten nahmen Frauen eine prominentere Rolle ein. Für diese Zeit kontrastierte Höfert ihre Darstellungen zur schwedischen Mission aus dem Hochmittelalter mit europäischen Reiseberichten über das Osmanische Reich. Höfert zeigte, dass es in dieser Zeit, auch bedingt durch die veränderten Reisekontexte — es berichteten nun häufiger als Sklaven gefangene Christen über die Geschlechterverhältnisse im Osmanischen Reich — deutlich mehr Darstellungen von Frauen in den Reisetexten gibt. Frauen treten dabei nicht nur in Texten, sondern auch vermehrt in Bildern – etwa den Kupferstichen im Werk von Nicolas de Nicolay – auf. Ein wichtiges Thema der Reisetexte ab dem 14. und 15. Jahrhundert sei die Segregation der Frauen und Männer im Osmanischen Reich gewesen. Das steigende Interesse an der Ehe und der Rolle der Frauen in der Gesellschaft sei beeinflusst gewesen von der steigenden Bedeutung der Ehe innerhalb Europas. Geschlecht war dabei keine Bewertungskategorie, die von Europäer:innen exklusiv betrachtet wurde, sondern sie war mit Kategorien wie Religion und Rang verflochten. Auch die Kontaktzone wurde nun nicht mehr weiblich konnotiert, sondern die Darstellung sei durch die militärische Expansion des Osmanischen Reiches männlich geprägt gewesen. Höfert zeigte deutlich, wie stark der Wandel der Bewertungen von Geschlechterverhältnissen mit den sich verändernden Kontexten der Reisenden verknüpft war.

NADINE AMSLER (Fribourg) brachte das Beispiel der jesuitischen China-Mission der Frühen Neuzeit in die Diskussion ein. Sie stellte erneut die Bedeutung der Jesuiten als Informanten über das frühneuzeitliche China in Europa heraus. Nach einer Darstellung der konfuzianistischen Geschlechterordnung, in der sie besonders das konfuzianische Ideal einer Zurückgezogenheit der Frauen betonte, gab Amsler Einblicke in die fremdkulturelle Wahrnehmung dieser Geschlechterordnung durch die Jesuiten. Dabei hob sie hervor, dass sich die jesuitischen Beschreibungen chinesischer Geschlechterverhältnisse nicht für die gelebte Diversität von Geschlechterrollen in China interessierten, sondern fast ausschließlich auf die konfuzianische Norm der Geschlechtertrennung fokussierten, die von den Jesuiten äußerst positiv bewertet wurde. Amsler strich zwei Aspekte heraus, vor deren Hintergrund diese positive Darstellung zu deuten sei: Erstens sei die positive Bewertung weiblicher Zurückgezogenheit in den jesuitischen Quellen dadurch zu erklären, dass die Jesuiten sich in China am kulturellen Habitus der konfuzianischen Literati-Elite orientierten. Diese war für den Missionserfolg in China von erheblicher Bedeutung. Zweitens war diese Annährung im Kontext des chinesischen Ritenstreits und der Debatte um missionarische Akkomodation aber auch problematisch. Denn die von den Jesuiten in Anlehnung an die kulturelle Praxis der Literati-Elite praktizierte Zurückgezogenheit gegenüber Frauen führte etwa dazu, dass die Missionare Frauen bei der Taufe nicht berührten und somit wichtige rituelle Handlungen des Taufsakraments ausließen. Um diese in Europa angefochtene Praxis zu verteidigen, stellten die Jesuiten die chinesische Geschlechterordnung als besonders tugendhaft dar. Am Beispiel des Missionars Gabriel de Magalhães veranschaulichte Nadine Amsler, dass er die Geschlechtertrennung und die Verhüllung von Händen und Füßen bei den Frauen als Ausweis einer besonders „sittsamen Nation“ interpretierte. Die Akkommodation an die konfuzianistische Geschlechterordnung konnte so gegenüber dem europäischen Leser:innenpublikum als eine Notwendigkeit zur Mission dargestellt werden. Diese Annäherung konnte aber gleichzeitig im Kontext des Ritenstreits abgemildert werden, indem die überaus positive Darstellung auf die Tugendhaftigkeit der Chinesinnen und Chinesen verwies. Gerahmt wurde der Vortrag durch Zitate des englischen Reisenden John Barrow, der China während des 19. Jahrhunderts bereiste. Seine Darstellung der konfuzianistischen Geschlechterordnung fiel weitaus weniger positiv aus. Für ihn war sie Ausdruck einer geringeren zivilisatorischen Entwicklungsstufe Chinas. Es sei aber zu betonen, so Amsler, dass trotz aller Unterschiede zwischen Barrow und den Jesuiten auch deutliche Kontinuitäten erkennbar seien: Denn in beiden Fallbeispielen sei die Geschlechterordnung als Gradmesser des gesellschaftlichen Zustandes verstanden worden, wobei Barrow stärker in Richtung Zivilisiertheit argumentierte, während die Jesuiten die Tugendhaftigkeit in den Vordergrund rückten.

EVA BISCHOFF (Trier) führte thematisch ins Australien des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel von Truganini, einer Tasmanienierin, die für die Kolonisatoren als „kulturelle Übersetzerin“ fungierte, argumentierte Bischoff, dass sich in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse in der Kontaktzone bestimmte Narrative durchsetzten und langfristig stabil blieben. Sie präsentierte den Zuhörer:innen zwei Narrative, die den Blick auf Truganini bestimmten: Das erste, als „Mantra der Gewalt“ bezeichnete Narrativ fokussiere vollständig auf die Truganini und ihrem Umfeld zugefügte Gewalt. Das zweite Narrativ – „Truganini in Chains“ – verkürze die Darstellung seiner Protagonistin auf ihren Status als Sklavin. Bischoff zeigte sehr eindrücklich, wie sich diese Narrative besonders auch im Kontext der abolitionistischen Bewegung mit der Zeit immer stärker durchsetzten. Die Autoren aus dem Kontext dieser Bewegung schrieben die Frauen auf eine „Opferrolle“ fest und sprachen ihnen jegliche Handlungsspielräume ab. Der Abolitionismus habe jedoch nicht nur dazu beigetragen, Frauen wie Truganini Handlungsmöglichkeiten abzuschreiben, sondern habe die Frauen gleichzeitig in doppelter Weise sexualisiert: Zwar werde die Sexualisierung und Ausbeutung der Frauen durch die Abolitionisten angeprangert, aber die bildlichen Darstellungen innerhalb der Quellen führten wiederum zu einer Sexualisierung der Frauen. Bischoff betonte, dass die Autoren der Quäker-Bewegung das Leiden der Frauen in ihren Darstellungen zentrieren würden. Dies sei in Bezug auf die Fallstudie von Truganini besonders interessant, da ihr Umgang mit den Australien kolonisierenden Engländern die Vermutung nahe lege, dass sie Beziehungen zu englischen Männern pflegte und sie für sich nutzte. In der Zusammenschau aus textuellen und visuellen Quellen kommt Bischoff schließlich zum Fazit, dass es einen „un-interessierten Blick“ auf Geschlechterverhältnisse nicht gebe. In bikulturellen Verbindungen erkannten Autoren das Potential, die bestehenden Ordnungen und Hierarchien vor Ort auszuhebeln und schrieben Frauen aus diesem Grund in der Rolle des sexualisierten „Gewaltopfers“ fest. Wie nachhaltig diese Festschreibungen seien, zeige sich darin, dass Narrative jenseits des „Opferdiskurses“ weiterhin nur schwer in die aktuelle Forschungsdebatte um Kolonialismus und Geschlechterverhältnisse einzubringen seien.

In ihrem Kommentar zog ULRIKE LINDNER (Köln) die Stränge, die sich aus den drei Vorträgen ergaben, noch einmal zusammen. Das Panel habe durch die Betrachtung der fremdkulturellen Wahrnehmung von Geschlechterverhältnissen in der longue durée gezeigt, dass sich ausgehend vom Hochmittelalter und der Frühen Neuzeit die Vorstellung von Europa als einer kulturellen Referenz herausbilde, die auch durch Abgrenzungen mit Bezug auf Geschlechterverhältnisse geschaffen werde. War die vormoderne Vorstellung von „Europa“ maßgeblich durch christliche Wertvorstellungen geprägt, verlagerte sich die Deutung im 19. Jahrhundert zu rassifizierenden beziehungsweise darwinistischen Bewertungsrastern. Der transepochale Blick auf die Wahrnehmung fremdkultureller Geschlechterverhältnisse zeige deutlich, dass es sich bei dem beschriebenen Wandel der Deutungsrahmen und -muster um komplexe Wandlungsprozesse handele, die es zu analysieren gelte. Besonders die Frage nach der Machtkonstellation sei hierbei von besonderer Bedeutung. Es gelte zu fragen, welche Machtkonstellationen in der Kontaktzone zu welcher Wahrnehmung der Geschlechterverhältnisse vor Ort führten, wie sich beispielsweise der Wandel von der europäischen Überlegenheit zur europäischen Unterlegenheit in einer Kontaktzone auf den Wandel der Wahrnehmung fremdkultureller Geschlechterverhältnisse auswirke. Dabei spielten auch die Aushandlungsprozesse in der Kontaktzone eine wichtige Rolle: Zu fragen sei, wie sich die Aushandlungsprozesse zwischen Europäer:innen und Bewohner:innen der Kontaktzone auf die Wahrnehmung der Geschlechterordnung niederschlugen.

In der abschließenden Diskussion wurden diese und viele weitere Fragen mit den Referentinnen diskutiert. Dabei wurde auch die Frage aufgeworfen, ob die herrschaftsstabilisierende Funktion von Geschlechterverhältnissen ein Spezifikum europäischer Gesellschaften oder ein globales Phänomen sei. Die Diskussion zeigte, dass eine nuancierte und umfassende Beantwortung dieser Frage beim heutigen Stand der Forschung noch nicht möglich ist. Die Wichtigkeit von Beschreibungen europäischer Frauen in Berichten von chinesischen Reisenden aus dem 19. Jahrhundert weist aber zumindest darauf hin, dass europäische Gesellschaften nicht die einzigen waren, die Geschlechterbeziehungen bei der Beschreibung und Bewertungen anderer Gesellschaften eine große Bedeutung beimaßen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Antje Flüchter / Nadine Amsler

Antje Flüchter (Bielefeld) / Nadine Amsler (Frankfurt am Main): Einleitung

Almut Höfert (Oldenburg): Religion, Macht und Geschlecht in europäischen Reiseberichten über das Osmanische Reich im 15. und 16. Jahrhundert (mit einem Blick auf das Hochmittelalter)

Nadine Amsler (Frankfurt am Main): Chinesische Geschlechterverhältnisse und europäische Diskussionen über die Zivilisiertheit Chinas in der Frühen Neuzeit

Eva Bischoff (Trier): Sklaverei, Zivilisation, Selbstbestimmung: Indigene Frauen als Objekte und Akteure von Deutungskämpfen im siedlerkolonialen Australien

Ulrike Lindner (Köln): Kommentar


Redaktion
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