HT 2021: Deutungsstreitigkeiten in der jüngeren Mediävistik

HT 2021: Deutungsstreitigkeiten in der jüngeren Mediävistik

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Hans-Werner Goetz, Historisches Seminar. Arbeitsbereich Mittelalterliche Geschichte, Universität Hamburg

Im Rahmen des Tagungsthemas „Deutungskämpfe“ hat sich die anzuzeigende Sektion – in dieser Form erstmals – mit mediävistischen Kontroversen befasst, um an vier exemplarischen Einzelfällen nicht nur Inhalte und Argumente, sondern auch Hintergründe, Reichweite und Auswirkungen auszuloten.

In seiner „Historischen Einführung“ erinnerte HANS-WERNER GOETZ (Hamburg) daran, dass im 19. und frühen 20. Jahrhundert umfassende, in ihrer Zeit wurzelnde Kontroversen (wie der „Lamprechtstreit“ oder die Deutungen der mittelalterlichen Kaiserpolitik und des Investiturstreits) von der Mediävistik ausgegangen seien, während sich jüngere Grundsatzdebatten in der Regel in allgemeingeschichtliche oder fachübergreifende Kontroversen eingliedern, hier jedoch mediävistische Eigenarten aufweisen können. Der letzte große allgemeine, vorwiegend mediävistische Streit war die Diskussion um die in Deutschland anfangs kritisch und erst spät rezipierte Geschichtsauffassung der französischen Schule der Annales. Hier wie oft ging es um „Richtungsstreitigkeiten“ hinsichtlich der Ausrichtung der Geschichtswissenschaft insgesamt, beispielsweise um die Umorientierung zunächst von der politischen zur Sozialgeschichte und später zu kulturwissenschaftlichen Fragen, die sämtlich ihre Berechtigung haben, um deren Vorrang aber gestritten wurde. Kontrovers wurden aber auch neuere Themen wie Mentalitätsgeschichte, Alltagsgeschichte und Frauen- und Geschlechtergeschichte aufgenommen, die sich nur gegen große Widerstände allmählich integrieren ließen. Ähnlich verhält es sich mit weiteren turns (vom linguistic turn über den spatial turn bis zum global und digital turn), die insgesamt kaum die Richtung verändert, wohl aber das Spektrum enorm erweitert haben, sodass die heutige Mediävistik durch eine komplexe, inhaltliche und methodische Vielfalt geprägt ist. Daneben gibt es aber auch viele kleinere Kontroversen um rein mediävistische Fragen, etwa um das Lehnswesen, die mittelalterliche Staatlichkeit, die „Entdeckung“ des Individuums oder, weitreichender, um Epochengrenzen und den Begriff „Mittelalter“ in einer globalen Welt. Diese und viele andere Kontroversen sind allen Mediävistinnen und Mediävisten gut bekannt, bisher aber kaum als solche analysiert worden. Die Sektionsvorträge sollten dazu einen ersten Aufriss bieten.

Der in Frankreich heftig kontroversen und in vielen Ländern aufgegriffenen, in Deutschland hingegen kaum rezipierten Diskussion um die große Wende der „mutation de l’an mil“ wandte sich STEFFEN PATZOLD (Tübingen) mit der Frage nach den Gründen für die hiesige Zurückhaltung zu. In der französischen Debatte sind verschiedene Stränge zu unterscheiden: neben einer „Sackgasse“ (Guy Bois‘ heftig zurückgewiesene Thesen) erstens Georges Dubys einflussreiche Theorie eines grundlegenden sozialen Wandels um die Jahrtausendwende mit der „seigneurie banale“, der Abhängigkeit der Bauern und dem Drei-Stände-Modell, die erst 1992 von Dominique Barthélemy zugunsten „allmählicher Anpassungen“ zurückgewiesen wurde und damit eine lange Diskussion auslöste. Dem setzte zweitens Thomas Bisson wiederum die Frage nach den Folgen des Wandels, nämlich des neuen „lordship“ seit dem 11. Jahrhundert entgegen; diese Debatte hält bis in die Gegenwart an. Ein dritter Diskussionsstrang wurde von Susan Reynolds Angriff auf das Lehnswesen ausgelöst. Die weitgehende Abstinenz in Deutschland erkläre sich weniger aus der politischen Epochengrenze (987) in Frankreich, der unterschiedlichen Quellenlage (Menge der Urkunden) oder der geringeren lokalen Desintegration im Deutschen Reich, sondern eher aus der Ausrichtung der deutschen Mediävistik in der Tradition Otto Brunners, die zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ nicht trennen wollte (und damit ins internationale Abseits geraten sei). Als Ausweg regte Patzold an, die Forschung(en) zum Früh- und Hochmittelalter wieder stärker zusammenzuführen, die Diskussion um das Lehnswesen in die Debatte um Transformationen einzubeziehen und sich von den Resten der sogenannten „Neuen deutschen Verfassungsgeschichte“ endgültig zu trennen.

Unter dem Titel „Mediävistische Geschlechtergeschichte – immer noch ein Reizthema?“ wandte sich AMALIE FÖßEL (Duisburg-Essen) einem seit den Anfängen in verschiedener Hinsicht kontroversen Thema zu. War das anfangs für viele gewiss ein „Reizthema“, so ist die in zahllosen Publikationen manifestierte Geschlechtergeschichte heute etabliert, ist Geschlecht als eine zentrale Analysekategorie anerkannt. An den Richtungsstreitigkeiten und konzeptuellen Entwürfen war die Mediävistik rezeptiv, aber kaum aktiv beteiligt. Deutungsstreitigkeiten ergeben sich in der jüngeren Forschung hier nicht mehr aus der Frage nach dem Sinn der Geschlechtergeschichte, sondern aus der Überprüfung und Modifizierung moderner Konzepte, etwa der Alterität mittelalterlicher Geschlechterordnungen. Dazu wurden im Vortrag verschiedene Ansätze diskutiert. Entscheidend ist die Zeitgebundenheit von „gender“ (Weiblichkeit und Männlichkeit). Der These einer Krise der Männlichkeit durch Kirchenreform und Zölibat ist aber heftig widersprochen worden; vielmehr ist mit Bea Lundt von einer Vielfalt der Geschlechterwelten auszugehen. Aktuell fortgeführt werden die Debatten um Inter- und Transsexualität, die im späten Mittelalter einen ganz anderen Umgang aufweisen als in der Neuzeit. Dem „doing gender“ und „narrating gender“ wird dabei immer größere Beachtung geschenkt, der Dekonstruktion traditioneller binärer Konzepte kommt gerade in der Mediävistik große Bedeutung zu. Die Intersektionalitätsforschung wiederum bestätigt, dass das Geschlecht im Mittelalter nicht zu den primären Kategorien zählte. Ob Geschlechtergeschichte an sich immer noch ein Reizthema ist, bleibt eine individuelle Entscheidung.

Mit seinem Vortrag über frühmittelalterliche Migrationen und Identitäten im Spiegel naturwissenschaftlicher DNA-Analysen ging WALTER POHL (Wien) einem hochaktuellen Thema nach, dessen historische Aussagekraft, etwa zur Völkerwanderung oder zur frühmittelalterlichen Einwanderung nach England, sowohl in der Geschichtswissenschaft selbst wie mit Naturwissenschaftlern kontrovers diskutiert wird. Ein Überblick über die Entwicklung der Genom-Analysen seit den 1990er-Jahren zeige unverkennbar deren naturwissenschaftliche Fortschritte auf, während die – computergestützte – Interpretation weiterhin strittig bleibe. Eine zuvor auf prähistorische Epochen beschränkte Anwendung sei jetzt zwar auch auf das Mittelalter möglich geworden, eine enge Zusammenarbeit von Mediävistik und Genetik gebe es jedoch erst in ganz wenigen Pilotprojekten. Seitens der Geschichtswissenschaft kritisiert würden Schlussfolgerungen ohne ihre Beteiligung, die hohen Kosten der Analysen, die vorschnellen Thesen und der unkritische Begriffsgebrauch, während die Zuordnung zu (vorausgesetzten) Völkern inzwischen aufgegeben wurde. Wohl aber würden genetische Daten immer wieder für nationalistische Zwecke einer Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart missbraucht. Der Ausblick auf das aktuelle ERC (European Research Council) Synergy Grant-Projekt „HistoGenes“ betone die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, der Einbeziehung der Kritiken und der „Aushandlung von Deutungen“, der zunächst getrennten Untersuchung historischer, kultureller und biologischer Gruppen sowie der jeweiligen Chronologie, der Auswertung ganzer Gräberfelder und der ständigen Reflexion von Terminologie und Methodik. Wegen der vielfältigen Bevölkerungsbewegungen biete das Karpatenbecken ein lohnenswertes Auswertungsbeispiel, um den Einfluss der Migrationen auf die Bevölkerungsentwicklung und andere rezente Fragen (Binnenmobilität, Slawisierung, Lebensbedingungen, sex and gender) genauer zu erfassen. Das Ergebnis bleibt abzuwarten.

Einem ähnlich hochaktuellen Thema hat sich THOMAS ERTL (Berlin) in seinem Vortrag über den „Streit ums Globale“ zugewandt: Wie viel Globalität benötigt und verträgt die mittelalterliche Geschichte im Zeitalter der Globalisierung? Dazu wurden einige Herangehensweisen, wie sie derzeit in der globalgeschichtlichen Mittelalterforschung diskutiert werden, verglichen und die damit verbundenen Herausforderungen in einen größeren Kontext gestellt. Drei Herangehensweisen an eine Globalgeschichte des Mittelalters wurden genauer diskutiert: (1) In welchem Maße interpretieren Autorinnen und Autoren die mittelalterliche Globalgeschichte als Vorgeschichte oder Teil der Globalisierung und welche Schwierigkeiten sind damit verbunden? (2) Globalgeschichte wird häufig nicht als Geschichte der gesamten Welt, sondern als eine Perspektive verstanden, die sich auf die nachhaltige Transformation von Gesellschaften, Ländern und Kulturen durch Austauschprozesse konzentriert. Lässt sich diese Perspektive auf das Mittelalter übertragen und in welchem Kontext kann sie als global gelten? (3) Ein konventionelles, wenngleich nicht unumstrittenes Werkzeug der Globalgeschichte ist der Vergleich. Wo liegen Herausforderungen und Potential des globalgeschichtlichen Vergleichs von Europa mit anderen Weltregionen bzw. beim Vergleich von einzelnen Faktoren? Der Beitrag schloss mit einigen Gedanken zu den Ursachen des steigenden Interesses an der mittelalterlichen Globalgeschichte, die sowohl innerhalb des Fachs als auch im gesellschaftlichen Wandel zu sehen seien.

Die Vorträge der gut besuchten Sektion zeigen das große Potenzial auf, das in der Analyse mediävistischer Deutungsstreitigkeiten steckt. Das Thema wird in breiterem Rahmen in einem größeren Sammelband weitergeführt.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Hans-Werner Goetz (Hamburg)

Hans-Werner Goetz (Hamburg): Historische Einführung

Steffen Patzold (Tübingen): Der Streit um die „mutation de l’an mil“

Amalie Fößel (Duisburg-Essen): Mediävistische Geschlechtergeschichte – immer noch ein Reizthema?

Walter Pohl (Wien): Frühmittelalterliche Migrationen und Identitäten im Spiegel naturwissenschaftlicher DNA-Analysen

Thomas Ertl (Berlin): Streit ums Globale. Die Grenzen der mittelalterlichen Geschichte


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts