Der Intellektuelle, die Erinnerung und die Stadt. Maurice Halbwachs im Spiegel des 21. Jahrhundert

Der Intellektuelle, die Erinnerung und die Stadt. Maurice Halbwachs im Spiegel des 21. Jahrhundert

Organisatoren
Professur Sozialwissenschaftliche Stadtforschung / Professur Theorie medialer Welten / Internationales Heritage-Zentrum, Bauhaus-Universität Weimar; DFG-Graduiertenkolleg „Identität und Erbe“, Bauhaus-Universität Weimar / Technische Universität Berlin; Centre Maurice Halbwachs, Paris
Ort
Weimar und digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.10.2021 - 17.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Michael Karpf, DFG-Graduiertenkolleg „Identität und Erbe“, Bauhaus-Universität Weimar

Die Tagung sollte im Jahr des 75. Todestages des französischen Soziologen und wohl bekanntesten Gründervaters der Gedächtnissoziologie stattfinden, der am 15. März 1945 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde. Pandemiebedingt um ein Jahr verzögert, führte die Tagung nun den gegenwärtigen Stand der Auseinandersetzung mit dem Werk des Soziologen in Deutschland und Frankreich zusammen, um sowohl die Arbeit Halbwachs‘ als auch aktuelle Anknüpfungspunkte zu diskutieren.

Die Tagung markierte zugleich die Gründung des fakultätsübergreifenden Internationalen Heritage-Zentrums (IHZ) an der Bauhaus-Universität, die unmittelbar vor der Tagung stattfand. Das Forschungszentrum wird in Zukunft die Kompetenzen und bestehenden Projekte der transdisziplinären Kulturenbeforschung bündeln. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart sowie die Diskussionen über konkrete Bestände von und Umgangsformen mit Kulturerbe will es darüber hinaus die internationale Kooperation in diesem Forschungsfeld fördern.

Auch wenn die Gründung des Zentrums und die Tagung zu Halbwachs nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang standen, verweist diese Verbindung dennoch auf die Tendenz zum Kollektiven Gedächtnis der deutschen Diskussion über Maurice Halbwachs, wie Serge Paugam, Direktor des Centre Maurice Halbwachs in Paris, in seinem Schlusswort betonte. Denn Halbwachs ist im deutschen Kontext vor allem ein Stichwortgeber für die Erforschung von kollektiven und kulturellen Vergangenheitsbezügen, sein Werk ein „Werkzeugkasten“, aus dem Analyseinstrumente herausgenommen und auf gegenwärtige Fragestellungen angewandt werden. Insbesondere die wenn auch nicht vollkommen durchzuhaltende Trennung der deutschen und französischen Beiträge zeigt dies auf. Denn während die Expert:innen aus Frankreich vor allem eine werkbezogene Kontextualisierung durch Untersuchungen von Einzelaspekten vornahmen, die die Breite und Vielfältigkeit von Halbwachs‘ Schaffen betonte, waren die meisten deutschen Beitragenden auf das hierzulande zugängliche und populäre Kollektivgedächtnis sowie dessen Aktualisierung und Anwendung fokussiert. Auch wenn Auszüge aus dem Werk von Halbwachs bereits durch die Übersetzungen von Stephan Egger seit den 2000er-Jahren ein vielstimmigeres Bild seines soziologischen Schaffens offenlegen, so zeigte die Tagung doch die weiterhin starke Präsenz der Gedächtnissoziologie in der deutschen Rezeption, die immer noch nicht weit fortgeschritten ist und sich maßgeblich an der hierzulande entwickelten kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung zu orientieren scheint. Gerade deshalb war die Tagung in Weimar ein wichtiger Impulsgeber, um die Arbeit des Durkheim-Schülers erneut in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit zu bringen und in seiner ganzen Bandbreite vorzustellen. Aber auch die Anwendung und Aktualisierung von deutscher Seite dürfte, so Paugam, Impulse beziehungsweise Denkanstöße für die französische Diskussion liefern.

Der erste Tag der Konferenz orientierte sich an den Leitbegriffen der Tagung und ist als Versuch einer Verortung und Erweiterung des Blickfelds auf das Werk von Halbwachs zu werten. Die Verbindung zur Geschichte der Stadt Weimar wurde insbesondere in den Grußworten von Ralf Kirsten, dem Bürgermeister der Stadt, und Franka Günther, der Leiterin des französischen Kulturbüros an der Thüringer Staatskanzlei, mit Bezug auf die Schilderungen seiner Leidenszeit und seines Todes im Konzentrationslager Buchenwald in den literarischen Werken Jorge Semprúns betont.

Es gelte, wie der Präsident der Bauhaus-Universität, WINFRIED SPEITKAMP (Weimar), in Bezug auf die Aktualität und Bedeutung der Tagung anmerkte, Maurice Halbwachs einem „kollektiven Vergessen“ und einer „kollektiven Vernachlässigung“ zu entreißen, indem der französische Intellektuelle in den ganzen Aspekten seines Werkes sichtbar zu machen und ernstzunehmen sei.

Dies betonten insbesondere FRANK ECKARDT (Weimar) und HANS-RUDOLF MEIER (Weimar) in ihren Einführungen. Während Eckardt eine Würdigung von Halbwachs in dessen Aktualität und Bedeutung für die soziologische Analyse der Gegenwart sah (wie sie bereits Pierre Bourdieu in seinem Nachruf auf Halbwachs von 1987 vorgeschlagen hatte), versuchte Meier die universitätsinternen Bezüge zur Gedächtnis- und Erbeforschung sowie die Bedeutung von Halbwachs für das feld der Architektur über die Lektüre Aldo Rossis offenzulegen.

SERGE PAUGAM (Paris) nahm diesen erweiterten Blick auf, um die Hauptthemen des Werks und deren Berührungspunkte vorzustellen. Der Soziologe habe weniger einen werkgeschichtlichen roten Faden als vielmehr mehrere Interessensgebiete bearbeitet, so Paugam, die über den Begriff der kollektiven Psychologie zusammenzuführen seien. Genauer sind dies neben dem Gedächtnisthema vor allem seine Arbeiten zu den sozialen Klassen und seine soziale Morphologie.

Die heimliche Keynote steuerte ALEIDA ASSMANN (Konstanz) in einer Retrospektive auf ihr Denken und ihre Verbindung zu Maurice Halbwachs bei. Assmann beließ es aber nicht bei einer solchen Vorstellung ihres Denkgebäudes, sondern aktualisierte es in Hinblick auf die Identitätskonstruktion von nationalen Entitäten durch kollektiv hervorgebrachte und geteilte Narrative beziehungsweise deren Transformation in sozialen Konflikten.

Der zweite Tag war Halbwachs als Intellektuellem und seiner Soziologie des kollektiven Gedächtnisses gewidmet. Im ersten Teil wurden seine wissenschaftliche Arbeiten in den Kontext seines politischen und öffentlichen Engagements gestellt. ANNE LHUISSIER (Paris) zeigte auf, wie sich seine soziologischen Arbeiten zu den Lebenshaltungskosten von Arbeiter:innen mit seinem Engagement als Sachverständiger im Internationalen Arbeitsamt veränderte.

MARIE JAISSON untersuchte die Arbeit Halbwachs‘ an seinem zweiten Gedächtnisbuch „La topographie légendaire des Évangiles en Terre sainte“ aus dem Jahr 1941 sowie die Bedeutung seiner Reisen nach Palästina. Beide Beiträge waren deshalb von wesentlicher Bedeutung, da sie einige im deutschen Kontext nicht zugängliche Texte (vor allem Briefe und private Notizhefte) berücksichtigten und so zumindest implizit auf eine notwenige Übersetzung aufmerksam machten.

Schließlich hebte ÉRIC BRIAN (Paris) mit einem wissenschaftsbiografischen Blick auf Halbwachs‘ philosophischen Hintergrund jene Momente seines Denkens hervor, die ihn in die Nähe der ihm gegenwärtigen Diskurse über Fragen der Wahrscheinlichkeit und Kausalität verortete.

Der zweite Teil war der Gedächtnissoziologie und den sozialen Rahmen des Erinnerns gewidmet und geprägt von einem Aktualisierungsbestreben der Halbwachs’schen Konzepte. GABI DOLFF-BONEKÄMPER (Berlin) zeigte Halbwachs‘ Bedeutung für den Diskurs der Denkmalpflege am Beispiel des wiedervereinigten Berlins, indem sie eine Erweiterung von Alois Riegels Denkmalbegriff über Halbwachs vorschlug.

TANJA BOGUSZ (Kassel) blieb thematisch bei den ostdeutschen Transformationsprozessen, fokussierte sich aber auf die Frage der Verbindung von Gedächtnis und Erfahrung und der damit einhergehenden Nähe von Halbwachs zum Pragmatismus von John Dewey.

GERD SEBALD (Erlangen-Nürnberg) stellte das in der deutschen Soziologie diskutierte Konzept einer Gedächtnissoziologie vor und diskutierte die differenztheoretischen Implikationen in Halbwachs‘ Gedächtnisschriften. Damit nahm er eine Korrektur der identitätskonkreten Lesart der Kulturwissenschaften nach Jan und Aleida Assmann vor und hob vielmehr den dynamischen Charakter des Gedächtnis hervor.

HENNING SCHMIDGEN (Weimar) verhandelte sodann anhand von Georges Canguilhems Lektüre von Halbwachs das Verhältnis von Mensch und Materie beziehungsweise Gesellschaft und Umwelt. Insbesondere der Begriff der Lebensweise mache dabei die Umwelt als soziales Faktum verständlich, so Schmidgen, die eben durch kollektive Techniken geformt wird und umgekehrt das Soziale prägt.

Abschließend unternahm BERTRAND MÜLLER (Paris) den Versuch, die Gedächtnissoziologie Halbwachs‘ als Antwort auf die Krisen des beginnenden 20. Jahrhunderts und als eigenes Programm der Soziologie zu deuten. Mit seinem theoriegeschichtlichen Überblick beleuchtete er sowohl die Einflüsse und Entwicklungslinien der Gedächtnissoziologie als auch deren Verhältnis zu den benachbarten Disziplinen der Psychologie und Geschichtswissenschaft.

Der dritte Tag war dem Begriff der Klasse gewidmet. GILLES MONTIGNY (Versailles) entfaltete anhand von Aldo Rossis Lektüre Halbwachs‘ die von Hans-Rudolf Meier eingangs aufgeworfene Frage einer dezidiert architekturtheoretischen Rezeption des Soziologen. Dabei spürte Montigny in einer sehr strengen Lektüre von „L'architettura della città“ (1966) Rossis Verständnis von Halbwachs nach.

CHRISTIAN TOPALOV (Paris) stellte dagegen Halbwachs‘ Reisen nach Chicago und in den Orient, insbesondere nach Kairo und Jerusalem, ins Zentrum, um zu zeigen, dass Halbwachs dort eben keine Feldforschung betrieb, sondern vielmehr die Erfahrungen der „geführten“ und „selbstständigen“ Stadtspaziergänge indirekt in theoretische Konzepte übersetzte, ohne einen unmittelbaren Kontakt zu den untersuchten Menschen und ihrer sozialen Lebensrealität herzustellen.

KLAUS DÖRRE (Jena) nahm Halbwachs‘ klassentheoretische Überlegungen zum Ausgangspunkt, um sie an der empirischen Realität von Arbeitsverhältnissen der Gegenwart auf ihren Erklärungswert hin zu prüfen. Ihm zufolge ist dabei vor allem Halbwachs‘ holistischer Ansatz weiterhin zu berücksichtigen, da Klasse hierin nicht nur als eine ökonomische, sondern sozio-kulturelle Wirklichkeit verstanden werde.

Abschließend stelle JEAN-CHRISTOPHE MARCEL (Dijon) noch einmal eine Verbindung des Konzeptes der Klasse zu den beiden anderen großen Themen Halbwachs‘, namentlich der kollektiven Morphologie und der kollektiven Psychologie, her. Marcel zeigte, dass Halbwachs‘ Klassenbegriff eben auch eine kultursoziologische Bedeutung hat, die sich nicht ohne die materielle Welt und kollektive Vorstellungswelten denken lässt, in der sich einzelne Individuen als Gruppe vergemeinschaften.

Zusammenfassend stellte die Tagung als deutsch-französisches Gespräch nicht nur eine wichtige Korrektur der deutschen Rezeption von Halbwachs‘ Schaffen dar. Die Vielfalt der Beiträge machte zudem auf einen fast vergessenen Soziologen aufmerksam, der zumeist auf einen einzigen Aspekt seines Schaffens reduziert wird, der ihm bei weitem nicht gerecht wird. Das Fortsetzen einer Diskussion seiner Arbeiten ist in diesem Sinne der Versuch, ihn der Vergessenheit zu entreißen und sein Schaffen angemessen zu würdigen.

Konferenzübersicht:

Ralf Kirsten (Weimar): Grußwort

Winfried Speitkamp (Präsident der Bauhaus-Universität Weimar): Maurice Halbwachs in Weimar: eine späte Erinnerung, eine wichtige Aktualisierung

Hans-Rudolf Meier (Direktor des Internationalen Heritage-Zentrums der Bauhaus-Universität Weimar): Halbwachs und die Erinnerungskultur der Bauhaus-Universität Weimar

Franka Günther (Leiterin des französischen Kulturbüros in der Thüringer Staatskanzlei, Erfurt): Grußwort

Frank Eckardt (Bauhaus-Universität Weimar): Der Intellektuelle, die Erinnerung und die Stadt: Maurice Halbwachs im Spiegel des 21. Jahrhunderts

Serge Paugam (Direktor des Centre Maurice Halbwachs, Paris): Kollektives Gedächtnis, soziale Klasse und Raum: drei Untersuchungsgegenstände im Werk von Maurice Halbwachs

Aleida Assmann (Konstanz): Auf den Schultern von Riesen: die sozialen Rahmen als Grundlage einer Theorie des Vergessens

1. Teil: Halbwachs als Intellektueller
Moderation: Serge Paugam (Paris)

Anne Lhuissier (Paris): Maurice Halbwachs‘ Engagement für Arbeitskosten

Marie Jaisson (Paris): Halbwachs in Jerusalem

Éric Brian (Paris): Halbwachs als durkheim’scher Phänomenologe

2. Teil: Kollektives Gedächtnis
Moderation: Daniela Zupan (Weimar)

Gabi Dolff-Bonekämper (Berlin): Alois Riegel und Maurice Halbwachs: Werte, soziale Rahmenbedingungen und Ort des Erbes

Tanja Bogusz (Kassel): Erinnerung und Erfahrung: die umstrittene Problematisierung des ostdeutschen Transformationsprozesses nach 1989

Gerd Sebald (Erlangen-Nürnberg): Differenzierungstheoretische Aspekte in Maurice Halbwachs‘ Gedächtnistheorie

Henning Schmidgen (Weimar): Das Problem der Umwelt: Canguilhem und Halbwachs

Bertrand Müller (Paris): Mnemosyne: der Gedenkmoment zu Beginn des 20. Jahrhunderts

3. Teil: Halbwachs als Intellektueller
Moderation: Frank Eckardt (Weimar)

Gilles Montigny (Versailles): Zurück zur Dissertation von Maurice Halbwachs: Les Expropriations et le prix des terrains à Paris 1860–1900 (1909)

Christian Topalov (Paris): Halbwachs und die Feldforschung: die Erfahrung in Chicago und die Reise in den Orient

Klaus Dörre (Jena): Landnahme und Klasse: Halbwachs‘ Aktualität in der Prekaritätsforschung

Jean-Christophe Marcel (Dijon): Demografie, kollektive Psychologie und soziale Klassentheorie bei Halbwachs

Schlussworte

Serge Paugam (Paris) und Frank Eckardt (Weimar)


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