HT 2021: Umkämpfte Grenzziehungen. Mittelalterliche Kirchenstrafen im Aushandlungsprozess

HT 2021: Umkämpfte Grenzziehungen. Mittelalterliche Kirchenstrafen im Aushandlungsprozess

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Olivia Mayer, Institut für Geschichte, Alpen-Adria Universität Klagenfurt

Die Vorträge des Panels befassten sich mit dem Interdikt, der schärfsten Strafmaßnahme der lateinischen Kirche, und dessen Anwendung bei Deutungskämpfen um politische und religiöse Oberhoheit. Das Interdikt war nicht an Personen gebunden, sondern räumlich festgelegt und untersagte Weihe und Würde im gebannten Raum. Somit sei das Interdikt ein Druckmittel in politischen Auseinandersetzungen gewesen, habe neue spirituelle sowie regionale Grenzziehungen erfordert und Loyalitäts- und Gewissenskonflikte mit sich gebracht, so CHRISTIAN JASER (Klagenfurt). Nicht nur in der Interdikts-Forschung seien Deutungskämpfe geführt worden: Auch unter Zeitgenossen habe die Exkommunikation zu Aushandlungsprozessen geführt. Die Vortragenden nahmen die religiöse Gemeinschaft als Motor der Grenzziehung in einer makro- und mikrohistorischen Perspektive in den Blick und hoben physische und mentale Grenzziehungen hervor.

Die Sektion leitete EMIR O. FILIPOVIĆ (Sarajevo) mit Bosnien und häufig wirkungslos angewandten kirchlichen Sanktionen ein. Grund hierfür sei die geografische und politische Lage Bosniens am Rande des lateinischen Christentums gewesen. Dies habe zum einen die Etablierung einer eigenen kirchlichen Institution, der ecclesia bosnensis befördert, die Mitte des 13. Jahrhunderts von der katholischen wie orthodoxen Kirche für häretisch erklärt wurde. Zum anderen habe die kirchliche Sanktion Bann und damit einhergehend eine soziale Ausgrenzung im multikonfessionellen Bosnien kaum Auswirkungen gehabt.

Bosnien war geprägt durch den Konflikt zwischen Byzanz und Ungarn um die Vorherrschaft im Balkanraum. In dieser Gemengelage werde Bosnien in den Quellen präsenter und es zeige sich, dass die bosnischen Herrscher (Bane) zwar versucht hätten, ihre politische Freiheit in religiösen Fragen zu behaupten, aber weiterhin das Bündnis mit lateinischen Reichen gesucht hätten. Ständig der Exkommunikation ausgesetzt, zeichneten die Quellen ein kontrastierendes Bild der Bane: Die bosnischen Quellen nennen sie Verteidiger des Glaubens, die Lateinischen Gegner des Christentums.

Um mehr Ansehen in den lateinischen Reichen und neue Handelsbeziehungen für das wirtschaftlich aufschwingende Bosnien zu gewinnen, sei Ban Kulin (1180–1204) zum katholischen Glauben konvertiert, habe sich aber weiterhin mit Personen anderen Glaubens umgeben. Dies habe zur Entsendung einer päpstlichen Kommission geführt, welche die Rechtgläubigkeit des Bans prüfte und bestätigte. Die religiös unabhängige Situation Bosniens blieb jedoch weiterhin bestehen, sodass der bosnische Bischof durch einen ungarischen Prälaten ersetzt und der Verwaltungssitz der Diözese Bosnien in ungarische Gebiete überführt wurde. Dadurch sei die Etablierung von festen katholischen Kirchenstrukturen in weite Ferne gerückt, anstatt diese zu stärken.

Wie sich die regelmäßig ausgesprochenen Interdikte in Bosnien ausgewirkt hätten und wie mit den Gebannten umgegangen worden sei, machten päpstliche Briefaustausche deutlich. Es zeichnete sich ab, dass die bosnische Bevölkerung oft Empfänger solcher Kirchenstrafen gewesen sei und sie deshalb eine Routine im Umgang mit dem kirchlichen Bann entwickelt habe.

Durch den Druck des Osmanischen Reichs veränderte sich die politische und religiöse Situation Bosniens im 15. Jahrhundert. Die bosnischen Herrscher auf der Suche nach lateinischer Unterstützung hätten die katholische Kirche gestärkt und gefördert, während die Mehrheit des Adels jedoch unverändert der bosnischen Kirche angehört habe. In dieser prekären Situation seien die Herrscher zwischen den Osmanen, dem Papst und ihrem eigenen Adel balanciert. Der Papst habe versucht, mit kirchlichen Sanktionen den Adel zum katholischen Glauben zu führen, jedoch seien die Strafmaßnahmen in den seltensten Fällen erfolgreich gewesen.

An die nord-westliche Grenze des lateinischen Christentums führte CHRISTIAN JASER (Klagenfurt) mit seinem Vortrag zu Exkommunikationen und Marginalisierungen an der englisch-schottischen Grenze im späteren Mittelalter. Im Fokus stand die 1525 ausgesprochene Generalexkommunikation des Erzbischofs von Glasgow. Die Generalexkommunikation war eine Bestrafung unbekannter Personen, die einem bestimmten, juristisch begründeten Vergehen in der Vergangenheit oder Zukunft angeklagt wurden, und zielte auf eine Selbstdenunziation ab. Seit dem 13. Jahrhundert stieg der Gebrauch und die Reichweite der Generalexkommunikation an. Schon aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammte der älteste Belge eines in Schottland angewandten Banns, der sich unter anderem auch gegen Grenzräuber (Border Reivers) gerichtet habe. Ebenfalls habe die 1525 verfasste und ausgesprochene Exkommunikationssequenz des Erzbischofs von Glasgow Grenzräuber zum Inhalt gehabt. Äußerst eindrücklich habe der Aussteller in einem umfangreichen und auf mittelschottisch verfassten Formular „Verräter, Räuber, Diebe, Mörder und Totschläger“ der schottischen Grenzgebiete seiner Diözese verflucht und gebannt. In den (kirchen-)politischen Kontext gesetzt, habe die Generalexkommunikation die südschottische Bereitschaft zur Befriedung der Grenzgebiete im Zuge der Friedensverhandlungen demonstriert. Außerdem habe der Erzbischof von Glasgow dadurch die Unterstützung von Kardinal Wolsey, der zuvor Kirchen in Tyndale in der Diözese Durham gebannt hatte, im Primatstreit gegen St. Andrews gewinnen wollen.

Die im Vertrag von York 1237 festgelegte Grenzregion war bis in die frühe Neuzeit hinein ein fast ununterbrochener Schauplatz von Kleinkriegen, an denen Personen beiderseits der Grenze beteiligt gewesen seien. In dieser hochmilitarisierten Zone und fernab der Zentralregierung habe sich ein auf sich selbst bezogener, von Staatsgrenzen unabhängiger Interaktionsraum gebildet, wie gemeinsame wirtschaftliche Interessen, familiäre Verbindungen und ein gemeinsames Gewohnheitsrecht (border/march law) zeigten. Die Hintergründe der Raub- und Plünderungszüge der Grenzbevölkerung seien wirtschaftlicher Natur gewesen. Insbesondere die Kürzung der militärischen und finanziellen Subventionen in der frühen Tudorzeit habe die Situation verschärft, die solche Raubzüge zu einer überlebensnotwendigen, von Hunger getriebenen Tat gemacht hätten.

Die Grenzregion habe einen von Zeitgenossen wahrgenommenen Kulturbruch zu England und auch innerhalb Schottlands dargestellt und somit mental maps hervorgerufen. Dass schon für die Grenzregion eine Abstufung der Zivilisation vorgenommen worden sei, verdeutliche die Bannsequenz von 1525, welche die Gebannten mit Türken und Teufelsdienern assoziiert. Jedoch hätten die Exkommunikationen des 16. Jahrhunderts wenig im angespannten Grenzraum bewirkt. Erst der expandierende Kohlebergbau und damit die Aussicht auf Lohn und Brot zu Beginn des 17. Jahrhunderts habe zu einer Befriedung der Region geführt.

Zum Interdikt als Antrieb der Territorialisierung Lateineuropas referierte THOMAS WOELKI (Berlin). Denn das Interdikt habe als räumlich abgegrenzte Kirchenstrafe ein natürliches Raumproblem aufgezeigt und Unsicherheiten verursacht. In juristischen Texten seien räumliche Definitionszwänge diskutiert und theoretische sowie praktische Lösungsansätze entwickelt worden. Bei einem über eine Stadt verhangenen Interdikt habe daher der Begriff civitas (Gemeinschaft der Menschen einer Stadt) unweigerlich räumlich gefasst werden müssen. Uneinigkeit habe aber auch bei der Grenzziehung einer Stadt geherrscht: Ende diese bei ihren Mauern oder seien Vorstädte und gar Streusiedlungen hinzuzuzählen? Auch die Art der Interdikts-Verhängung (ab homine oder a iure) habe juristische Diskussionen auslösen können, sei die Art der Verhängung doch von Relevanz bei der Verkündung, den Folgen und der Aufhebung des Banns gewesen.

Unsicherheiten habe das Interdikt ebenso bei exemten Klöstern und folglich bei Diözesangrenzen hervorgerufen. So schreibt die Clementine Ex frequentibus vor, dass ein Interdikt nicht nur die Mutterkirche greife, sondern auch die exemten Klöster. Bei einer Missachtung drohe die Exkommunikation der exemten Klöster. Durch diese Dekretale seien die Ordensleute erneut unter die Gewalt des Bischofs gebracht und sogar noch härter behandelt worden als die Weltkleriker, da ihnen eine Appellation gegen das Interdikt verwehrt gewesen sei. Somit sei die Interdiktsdekretale Ex frequentibus zum einzigartigen Instrument der Bischöfe gegen die exemten Orden in ihren Diözesen geworden. Ferner habe ein über eine Diözese verhängtes Interdikt einen räumlichen Geltungsanspruch erhoben, der sich auf die alte Raumgliederung der Diözese berufen habe.

Anders als bei der Stadt standen bei einem Interdikt gegen einen Fürsten nicht nur seine Residenzen unter Bann, sondern sein gesamtes Territorium (terra sua). Begründet wurde dies damit, dass er als Repräsentant für seine Besitzungen agiere, während die Stadt lediglich für sich selbst verantwortlich sei. Der Kommentator Zabarella erklärte diese Unstimmigkeit wie folgt: Der Fürst könne als natürliche Person sanktioniert werden, die Stadt nicht, denn eine civitas sei eine seelenlose Sache. Der städtische Raum sei somit funktional abgegrenzt gewesen, bei einem Fürsten habe es sich aber um eine politische Grenzziehung gehandelt. Weitere Konflikte seien durch die ungenauen Zugehörigkeiten einzelner Dörfer zu geistlichen Herrschaften oder bei noch nicht definierten Territorialherrschaften wie Witwengüter sowie gemeinsame Besitztitel entstanden. Zur Lösung habe die Überlegung beigetragen, dass überall dort, wo ein Fürst die Jurisdiktion ausübe, das Interdikt anzuwenden sei. Bei einem Gemeinschaftsgut sei der Besitz klar aufzuteilen. Für die Bevölkerung habe aber die Möglichkeit bestanden, eine Auflösung des Banns aufgrund einer unrechtmäßigen Gewaltherrschaft des Fürsten zu erbitten. Denn ein Tyrann habe nicht die rechtmäßige Jurisdiktion inne und habe deshalb nicht als Repräsentant des Territoriums fungieren können.

Im Schlusskommentar betonte JOHANNES HELMRATH (Berlin), dass Kirchenstrafen, obwohl im Mittelalter häufig angewandt, weitestgehend unerforscht seien. Insbesondere Untersuchungen zur Normalität des Interdikts und seiner Bewältigung, zu Routinen des Verhaltens sowie zu Aushandlungs- und Deutungsprozessen seien für künftige Studien lohnend. Das Interdikt als Kollektivstrafe generiere ein chronotopisches Raum-Zeit-Phänomen: Es sei zeitlich begrenzt gewesen und habe Strafräume erzeugt, die sich lokalen Grenzziehungen unterzuordnen hatten. Somit seien für die Interdikts-Forschung weitere Analysen zur Raumtheorie und Konflikt, städtische Fallstudien sowie die Neuerschließung und -auswertung von Quellen, wie zum Beispiel Traktate, gewinnbringend.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Christian Jaser (Klagenfurt)

Christian Jaser (Klagenfurt): Einleitung

Emir O. Filipović (Sarajevo): Ecclesiastical Censures on the Margins of the Catholic world: the Example of Medieval Bosnia

Christian Jaser (Klagenfurt): Abgrenzen und Strafen. Exkommunikation und Marginalisierung an der englisch-schottischen Grenze im späteren Mittelalter

Thomas Woelki (Berlin): Interdikt und Territorium. Eine Kirchenstrafe als Movens der flächenhaften Konzeption weltlicher Herrschaft

Johannes Helmrath (Berlin): Schlusskommentar


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