Vielvölkerreiche als Erfahrungswelten. Imperiale Biographien im langen 19. Jahrhundert

Vielvölkerreiche als Erfahrungswelten. Imperiale Biographien im langen 19. Jahrhundert

Organisatoren
Benedikt Tondera / Malte Rolf, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Ort
Oldenburg und digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2021 - 24.09.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Jan Markert, Europa der Neuzeit, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die lange Sinn- und Existenzkrise der historischen Biographik im Schatten einer strukturalistischen Sozialgeschichtsschreibung muss als beendet betrachtet werden. Pierre Bourdieus viel rezipierte Warnung vor einer „biographischen Illusion“ wich schließlich einer Wiederentdeckung des Individuums als Analyseobjekt multiperspektivischer Fragestellungen – zunächst lediglich als Ergänzung, dann als Alternativmodell sozialgeschichtlicher Erklärungsversuche.1 Spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts kann innerhalb der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft eine Renaissance biographischer Studien beobachtet werden, während in der internationalen, vor allem englischsprachigen Forschung, die Biographie nie eine derartige Sinnkrise durchleben musste. Die moderne, explizit neue Biographik darf nicht als methodologischer Rückfall verstanden werden, greift sie doch auch auf sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen zurück, um über die Analyse individueller Akteure auch Rückschlüsse auf historische Strukturen zu gewinnen – und umgekehrt.2

Diesem Ansatz folgt auch die spezifische Perspektive imperialer Biographien als Verknüpfung individueller Lebens- und Karriereverläufe mit den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Vielvölkerreiche des langen 19. Jahrhunderts, wie sie von Malte Rolf und Tim Buchen konzipiert wurde. Diese Biographien imperialer Akteure, Eliten und elitärer Untertanen der Romanow- und Habsburgermonarchie, des Osmanischen Reiches, aber auch der globalen Kolonialreiche, erlauben einen neuen analytischen Blick nicht nur auf jene Individuen, sondern auch auf die multiethnischen Staats- und Herrschaftskonstrukte, innerhalb derer sie agierten und reagierten.3 Der Workshop, der ursprünglich bereits im September 2020 stattfinden sollte, unterstrich aufs neueste die anhaltende Innovativität und Multiperspektivität dieses Konzepts. Als Hybridveranstaltung gelang es schließlich, ausgewählte Ost- und Mitteleuropahistoriker:innen zu versammeln, um das Konzept imperialer Biographien anhand neuer Studien und aktueller Forschungsprojekte facettenreich und gewinnbringend zu diskutieren.

BENEDIKT TONDERA (Oldenburg) stellte in seinem Eröffnungsbeitrag – gleichsam als diskursiven roten Faden der Veranstaltung – die Frage in den Vordergrund, inwiefern sich Individuen, denen eine imperiale Biographie zugeschrieben wird, auch in der Eigenwahrnehmung mit dem Imperium identifizierten. Mit Blick auf die neue Biographik und Imperiumsforschung warnte er dabei vor Schnellbefunden und einer simplifizierenden rückblickenden Labelung der imperial-biographischen Akteur:innen beispielsweise als Nationalist:innen, Separatist:innen oder religiöse Fundamentalist:innen. Stattdessen betonte er die Notwendigkeit einer Dekonstruktion der meist autobiographischen Selbstdarstellungen und das Hervorheben von Widersprüchlichkeiten.

MALTE ROLF (Oldenburg) griff dieses Dekonstruktionsgebot in seinem Eröffnungsbeitrag auf und thematisierte die Offenheit und Vielfalt der Konzeptidee. Die von ihm erläuterten drei Kernmerkmale einer imperialen Biographie – der Zusammenhang von Mobilität und Erfahrung, die Frage, in welchem Maße innerimperaler Wandel durch Transfer induziert wurde, sowie das Hervorheben der kontextuellen Zeithorizonte der biographischen Sujets – lassen sich allesamt auf ein Grundproblem zurückführen: das richtige Mischverhältnis eines biographischen Zeitstrangs und der zeitlich-lokalen Kontextualisierung. Das primäre Ziel der Veranstaltung sollte vor diesem Hintergrund laut Rolf die kritische Auseinandersetzung mit der imperialen Biographik und ihre konzeptuelle Weiterentwicklung sein.

Der Fokus des ersten Panels lag neben der Frage nach Mobilität und Netzwerkbildung folgerichtig auf einem Aspekt, der in der bisherigen Rezeption der imperialen Biographik kritisiert worden war: dem Fehlen weiblicher Akteurinnen. Dabei waren auch im patriarchal geprägten Kontext der Vielvölkerreiche Vorstellungen von Weiblichkeit und female agency keine Nebensächlichkeiten, sondern zentrale Bestandteile für das Funktionieren des imperialen Alltags. Nikolaj F. Bunakov, dessen Biographie FRANZISKA SCHEDEWIE (Jena/Heidelberg) thematisierte, war im Zarenreich nicht nur als Pädagoge und Publizist tätig, sondern auch als Lehrer:innenausbilder bzw. LehrerInnenausbilder. Das moderne Binnen-I erscheint in Bunakovs Fall besonders passend, da er der Frauenemanzipation und dem idealistischen Engagement von Lehrerinnen vergleichsweise aufgeschlossen gegenüberstand. Diese, aber auch andere Facetten seiner Tätigkeit in der Provinz Voronež – vor allem im Rahmen seines Engagements in der regionalen Selbstverwaltung (Zemstvo) ab 1864 – machten Bunakov aus der Perspektive der Herrschenden zu einem unbequemen Mitglied der Eliten. In seinen Motiven verkannt, betrachtete er sich und seine Arbeit gleichwohl als Stütze des Imperiums.

Augenscheinlich außerhalb einer solchen imperialen Rahmung spielte sich das Leben Müveddet Gönensays ab, das BARBARA HENNING (Bamberg) anhand eines von dieser selbst verfassten autobiographischen Schreibmaschinenmanuskripts analysierte – eine bislang unbeachtete Quelle, auf die Henning auf einer türkischen Auktionswebsite gestoßen war. Gönenseys Autobiographie gibt vor allem Aufschluss über die alltäglichen Wahrnehmungsräume und Handlungsmöglichkeiten von Frauen innerhalb der republikanischen Türkei. Gleichzeitig fungiert die Quelle auch als Filter und Gegengewicht bei der Einordnung anderer Quellen osmanisch-kurdischer Familien- und Individualgeschichten – die Autorin war Mitglied der in der Geschichte der kurdischen Nationalbewegung prominent vertretenen Bedirhani-Familie. Es ist das scheinbar Unpolitische, vermeintlich Banale in Göneseys Erinnerungen – gerade das, was sie nicht sagt, nicht thematisiert –, das neue multiperspektivische Anschlussstellen für ihre eigene Geschichte und die ihrer weitverzweigten Familie erschließen lässt.

Dass Frauen durchaus aktive Rollen innerhalb der imperialen Politik übernehmen konnten, indem sie ihre elitären Familiennetzwerke nutzten, veranschaulichte ALEXA VON WINNING (Tübingen) in ihrem Doppelporträt der Schwestern Ekaterina und Natalia Mansurova. Beide biographischen Sujets können als imperiale Akteurinnen, konkret als empire builders verstanden werden, die durch ihre umfangreichen kirchlichen Bau- und Organisationsaktivitäten die Stellung der Orthodoxie in den baltischen Provinzen des Zarenreichs und damit die imperiale Herrschaft St. Petersburgs in jener Grenzprovinz zu stärken versuchten. Ungeachtet der zeitgenössischen restriktiven Geschlechterrollen nutzten die Mansurova-Schwestern das Potential ihres aristokratischen Familiennetzwerkes, wodurch sie implizit misogyne Strukturen herausforderten, ohne sie jedoch offen zu durchbrechen.

Dass Ekaterina und Natalia Mansurova, Nikolaj F. Bunakov und auch Müvdett Gönensay tatsächlich imperiale Biographien hatten, konstatierte IGOR NARSKII (Tscheljabinsk) in seinem Kommentar. Alle drei Beispiele verfügten über die Gemeinsamkeit multiethnischer und -lingualer Räume und Netzwerke, alle waren sie Akteur:innen im Rahmen einer Politisierung, vor deren Hintergrund sie zukunftsorientiert für den Erhalt ihrer spezifischen sozio-politischen Milieus handelten, für die das Imperium als Existenzgrundlage wiederum konstituierend war.

Das zweite Panel widmete sich dem vermeintlichen Widerspruch von Nation und Imperium. Auch dieser Aspekt der imperialen Biographie kann kritisch hinterfragt werden, hinderte doch die Verortung innerhalb einer bestimmten Ethnie zeitgenössische Akteur:innen in der Regel nicht daran, Loyalität gegenüber dem Imperium und der herrschenden Dynastie zu empfinden. Dass dieser flexible, supranationale Umgang mit gruppenidentitären Zuordnungen im späten 19. Jahrhundert nicht mehr selbstverständlich war, wurde im Verlauf der Panelvorträge und -diskussionen deutlich betont. FABIAN BAUMANN (Basel) argumentierte anhand der Doppelbiographien von Iakov Shul’gin und Dmitrii Pikhno, dass nationale Identitäten vornehmlich ein nachträgliches und vor allem bewusstes Konstrukt darstellten, beeinflusst durch soziale Milieus, Familien und politische Weltbilder. Beide Akteure entstammten einem soziokulturell vergleichbaren elitären ukrainisch-russischen Milieu, wählten jedoch unterschiedliche Lebenswege: Während Pikhno eine Aufsteigerkarriere im Dienste der Romanowmonarchie durchlief und ein Anhänger des kleinrussischen Nationalismus wurde, wählte Shul’gin die Seite der Opposition gegen die zarische Herrschaft und propagierte einen ukrainischen Nationalismus. Beide Biographien, zeitlich, örtlich und kulturell eng miteinander verwoben, veranschaulichen die wachsenden nationalen Spannungen innerhalb des späten Vielvölkerreichs, die individuellen Entscheidungen, vor die diese Entwicklung Akteure wie Shul’gin und Pikhno stellte und die unterschiedlichen biographischen Konsequenzen, die sich daraus ergaben.

Dass diese innerimperialen Nationalisierungstendenzen sowohl als Bedrohung gesehen als auch als Legitimierungsstrategie von Dynastie und Staat genutzt werden konnten, analysierte PHILIPP SCHEDL (Oldenburg) am Beispiel der publizistischen Tätigkeit des Grenzlandnationalisten Anton S. Budilovič. Als Anhänger und selbststilisierte Avantgarde des russischen Nationalismus forderten Grenzlandnationalisten wie Budilovič für sich ein, in der Peripheriepolitik des Imperiums eine aktive Rolle zu spielen, um dort die russische Staatlichkeit und die russische Nation gegen ihre reellen oder vermeintlichen Gegner zu verteidigen. Budilovič stand dabei im organisatorischen Mittelpunkt eines publizistischen wie politischen Grenzländernetzwerks, dessen Ziel es war, eine Interessenvertretung für alle Russ:innen aufzubauen, die in den überwiegend von nicht-russischen Ethnien bevölkerten Grenzprovinzen lebten und agierten.

Ausgehend von diesen Fallbeispielen nationaler Antagonismen und Dynamiken betonte HANS-CHRISTIAN PETERSEN (Oldenburg) das Potential der biographischen Sonde. Gerade die Biographik als methodologische Perspektive auf die Imperien des späten 19. Jahrhunderts erlaube synchrone Vergleiche, wobei Petersen auch die Frage aufwarf, inwiefern imperiale Biographien in ihrer Widersprüchlichkeit transitorischer Natur seien.

Im dritten Panel wurde die Selbst- und Fremdwahrnehmung imperialer Akteursgruppen thematisiert. DARIUS STALIUNAS (Vilnius) widmete sich der Frage, welche spezifische Rolle Nikolai Klingenberg, Gouverneur der Provinz Kovna, im Kražiai-Massaker von 1893 spielte und was sich aus diesem gewaltsamen Ereignis allgemein über die zarische Herrschaft in den Grenzländern des Imperiums schließen lässt. Klingenbergs Tätigkeit fiel in eine Zeit sich zusehends verschärfender religiös-kultureller Spannungen zwischen der russisch-orthodoxen Herrschaftselite und der litauischen katholischen Bevölkerung. Seine repressive Administrationspolitik gegenüber dem Katholizismus – insbesondere erzwungene Kirchen- und Klosterschließungen – könnten jedoch nicht mit dem simplifizierenden Label „Russifizierung“ charakterisiert werden, da eine solche in Kražiai nie intendiert gewesen sei. Indem Klingenberg als Vertreter der Romanowmonarchie auch gewaltsam gegen den vermeintlichen inneren Feind derselben – den Katholizismus –vorging, trug er im Vorfeld der Russischen Revolution von 1905 maßgeblich dazu bei, pragmatischere Konzepte einer zarischen Nationalitätenpolitik unmöglich zu machen und die Petersburger Position an der Peripherie zu unterminieren.

Ein vergleichsweise erfolgreicheres Beispiel innerimperialer Integration analysierte TAMARA SCHEER (Wien/Rom) im Kontext der multilingualen und multiethnischen Armee der Habsburgermonarchie. Die sogenannten Tornisterkinder – Offiziersväter und -söhne aus allen Provinzen des Imperiums – identifizierten sich vorrangig mit Staat und Dynastie, weniger mit ihrer augenscheinlichen Herkunftsnationalität; sie waren mehrsprachig, ihre Militärkarrieren im innerimperialen Kontext von vergleichsweise hoher Mobilität geprägt. Mit dem Untergang der Habsburgermonarchie 1918 verloren sie ihren elementaren biographischen Bezugspunkt, die Integration in die national geprägten Nachfolgestaaten gestaltete sich schwierig.

Den Aspekt der Mobilität als Schlüsselkategorie imperialer Biographien stellte BENEDIKT TONDERA (Oldenburg) am Beispiel der Beamtenelite des Zarenreichs in den Mittelpunkt seines Beitrags. Dabei unterschied er zwischen mobilen und mobilisierten Eliten – eine Unterscheidung, die sich am Grad der individuellen Karriere- und Alltagsautonomie der Beamten gegenüber dem Staat messen lässt. Während die mobilen Eliten sich in der materiellen und habituellen Lage befanden, das biographische Potential des Imperiums strukturell und translokal auszunutzen, besaßen die mobilisierten Eliten diese privilegierten Voraussetzungen nicht. Es waren jedoch letztere, auf die das Imperium personell und funktional zusehends angewiesen war, da sie im Gegensatz zu den traditionellen Eliten einen hohen Grad an spezialisiertem Fachwissen und Regionalkompetenz mitbrachten.

ROLAND CVETKOVSKI (Frankfurt an der Oder/Potsdam) verwies in seinem Kommentar auf die Notwendigkeit, die vermeintliche Kohärenz von Biographien kritisch zu hinterfragen. Er plädierte dafür, die Fragmentierung autobiographischer Lebensdarstellungen in deren Analyse zu integrieren, anstatt sie einer konstruierten Linearität zu unterwerfen.

Während die ersten drei Panels sich mit Fragen komparativ-inhaltlicher Natur beschäftigten, nahm das vierte Panel eine Sonderrolle ein: Hier lag der Fokus auf der Methodologie, konkret auf der digitalen Auswertung und Präsentation von biographischen Quellen und Rechercheergebnissen. FLORIAN WINDHAGER (Krems) stellte das H2020-Projekt In/Tangible European Heritage – Visual Analysis, Curation and Communication vor, eine Online-Datenbank, die unterschiedliche europäische Nationalbiographien vor allem von Künstlerinnen und Künstlern multiperspektivisch zusammenführt und visualisiert. Die integrierte graphische Darstellung von Leben und Werk der ausgewählten Akteursgruppen erleichtert die Vermittlung der Ergebnisse wissenschaftlicher Biographik gegenüber einer interessierten Öffentlichkeit: Biographische Lexika können so etwa als Beziehungsnetzwerke dargestellt, verschiedene Lebensstationen auf eine Karte projiziert werden.

Auch für die interdisziplinäre Forschung bieten die digitalen Recherche- und Visualisierungstools neue Perspektiven und Methoden in Ergänzung zu den traditionellen geschichtswissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten. Diesen Punkt veranschaulichte JANA OSTERKAMP (München) anhand des Forschungsprojekts Der Schreibtisch des Kaisers. Die Kabinettskanzlei von Franz Joseph (1848–1918). Ein Ort politischer Entscheidung? Mit Kaiser Franz Joseph steht ein imperialer Akteur par excellence im Mittelpunkt einer multiperspektivischen Digitalanalyse der Protokollbücher der Wiener Kabinettskanzlei als einer zentralen Quelle des politischen Entscheidungsprozesses des Vielvölkerreichs. Die statistische Auswertung der etwa 250.000 Einzelentscheidungen erlaubt eine sowohl quantitative als auch qualitative Analyse der Transformationsprozesse einzelner Politikbereiche unter der knapp 68-jährigen Herrschaft des Monarchen. Auf dem virtuellen Schreibtisch des Kaisers lassen sich Zentrum und Peripherie des Imperiums sowie deren unterschiedliche Administration durch Wien visualisieren. Zudem präsentierte Osterkamp das noch in der Vorbereitungsphase befindliche Projekt Habsburg digital von unten, in dem Massenpetitionen an Monarch und Monarchie während der Revolution 1848/49 digital-automatisiert untersucht und geographisch-kartographisch visualisiert werden sollen.

Sowohl CHRISTOPH KAMISSEK (Berlin) als auch TIM BUCHEN (Dresden) hoben in ihren Kommentaren die Analyse- und Präsentationsmöglichkeiten sowie die durch den Einsatz digitaler Tools neu entstehenden Arbeitsfelder hervor. Auch wenn die Personal- und Materialkosten sowie die Einarbeitungszeit vergleichsweise hoch sind und die Nutzung für nicht wenige Historiker:innen eine Herausforderung darstellen mag, lohnt sich diese Investition als langfristige Chance der Geschichtswissenschaft allgemein und der imperialen Biographik im Speziellen.

In seinem abschließenden Kommentar resümierte DAVID FEEST (Lüneburg) die Formen und Methoden der neuen Biographik, darunter vor allem den in den Paneldiskussionen wiederholt kontrovers thematisierten konzeptuellen Vorschlag, die stringente Lebenserzählung in einzelne zeitliche Momentaufnahmen aufzubrechen, um nicht Bourdieus biographischer Illusion zu erliegen. Feest plädierte dafür, die kontextuelle Logik, im Fall der im Workshop vorgestellten Beispiele konkret den imperialen Kontext, in die Lebenserzählungen der individuellen Akteur:innen einzubinden. In der Verknüpfung klassischer kultur- und sozialwissenschaftlicher Ansätze mit der neuen Biographik liege die Stärke derselben im Allgemeinen und im Speziellen die der imperialen Biographie als Methode – eine mehr als treffende Tagungsbilanz.

Konferenzübersicht:

Eröffnung

Benedikt Tondera (Oldenburg) / Malte Rolf (Oldenburg)

Panel I: Mobilität, Gender und Netzwerkbildung – Fallstudien imperialer Biographien

Franziska Schedewie (Jena/Heidelberg): Der Pädagoge Nikolaj F. Bunakov: Sein Leben „in Verbindung mit dem allgemeinrussischen Leben, vor allem in der Provinz“

Barbara Henning (Bamberg): Die Erinnerungen Müveddet Gönensays im Kontext ihrer osmanisch-kurdischen Familiengeschichte

Alexa von Winning (Tübingen): Ekaterina and Natalia Mansurova als female empire builders in Riga (1887–1914)

Kommentar: Igor Narskii (Tscheljabinsk)

Panel II: Nationale und imperiale Selbstentwürfe in Konkurrenz

Fabian Baumann (Basel): Nationality as Choice of Path: Iakov Shul‘gin, Dmitrii Pikhno, and the Russian-Ukrainian Crossroads

Philipp Schedl (Oldenburg): Anton S. Budilovič – das Russische Imperium durch das Prisma seiner Grenzländer sehen

Kommentar: Hans-Christian Petersen (Oldenburg)

Panel III: Selbst- und Fremdwahrnehmung imperialer Akteursgruppen

Darius Staliunas (Vilnius): Kovna Governor Klingenberg and the Kražiai Massacre

Tamara Scheer (Wien/Rom): Nationale Kategorisierung und Konstruktion von Identitäten in der österreichisch-ungarischen Armee, 1867–1914

Benedikt Tondera (Oldenburg): Mobile Eliten oder mobilisierte Eliten? Mobilität als soziale Frage unter den hohen Beamten im Zarenreich

Kommentar: Roland Cvetkovski (Frankfurt an der Oder/Potsdam)

Panel IV: Methodologie

Florian Windhager (Krems): Visuelle Analyse und Kuratierung von Biographiedaten

Jana Osterkamp (München): Der Schreibtisch des Kaisers: Statistische und digitale Zugänge zu imperialen Akteuren

Kommentare: Christoph Kamissek (Berlin) und Tim Buchen (Dresden)

Abschlussdiskussion: Entwicklungspotentiale der „Imperialen Biographien“

Kommentar: David Feest (Lüneburg)

Anmerkungen:
1 Siehe ausführlich die Darstellung des Forschungsdiskurses bei Hans Erich Bödeker, Biographie. Annäherung an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand, in: ders. (Hrsg.), Biographie schreiben, Göttingen 2003, S. 9–63.
2 Siehe pars pro toto Ulrich Raulff, Das Leben – buchstäblich. Über neuere Biographik und Geschichtswissenschaft, in: Christian Klein (Hrsg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Berlin 2002, S. 55–68; Simone Lässig, Die historische Biographie auf neuen Wegen?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60 (2009), S. 540–553; Wolfram Pyta, Geschichtswissenschaft, in: Christian Klein (Hrsg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 331–338.
3 Vgl. Malte Rolf (Hrsg.), Imperiale Biographien. Themenheft Geschichte und Gesellschaft, 40:1 (2014); ders. / Tim Buchen (Hrsg.), Eliten im Vielvölkerreich: Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918) / Elites and Empire: Imperial Biographies in Russia and Austria-Hungary (1850–1918), Berlin 2015.