Wer besaß in der Antike die Deutungshoheit über das Wissen um die Zukunft? Antworten auf diese Frage zu finden ist kein einfaches Unterfangen, vereint der Begriff der antiken Divination in sich doch ein bisweilen unübersichtliches Konglomerat verschiedenster Konzepte, Methoden, Perspektiven und Techniken. Wie GREGOR WEBER (Augsburg) in seiner Einführung deutlich machte, handelte es sich im Fall der antiken Divination sogar um einen regelrechten „Kampfplatz unterschiedlicher Ansätze“, auf dem sich die verschiedensten sozialen Gruppen begegnen und ihre vielfältigen Deutungen der Götterzeichen zueinander in Konkurrenz stellen konnten. Die Sektion hatte sich zum Ziel gesetzt, die Motive und Argumentationen innerhalb dieser Deutungskämpfe anhand der Betrachtung dreier Texte der spätrepublikanischen bzw. kaiserzeitlichen Autoren Cicero, Plutarch von Chaironeia und Artemidor von Daldis, zu analysieren und diese in ihre sozialen, historischen und kulturspezifischen Kontexte einzuordnen.
Im ersten Vortrag von ANDREE HAHMANN (Peking), der den Deutungskämpfen innerhalb Ciceros „De Divinatione“ nachging, stand die Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Wahrsagung, welche Cicero seinem Bruder Quintus im ersten Buch seines Dialoges in den Mund legt. Der Figur des Quintus zufolge würden sich alle Formen der Wahrsagung entweder auf eine wissenschaftsbasierte Kunstlehre stützen oder aus der Natur hervorgehen. Hahmann verwies darauf, dass die meisten modernen Interpreten dieser Unterscheidung bislang davon ausgingen, dass Quintus hiermit grundsätzlich eine Position der Stoiker vertreten würde, mit deren Hilfe er die Existenz der Divination zu verteidigen suchte.
Eben jene Annahme problematisierte Hahmann im Verlaufe seines Vortrages, indem er deutlich machte, dass die von Quintus angeführte Unterscheidung von keiner Quelle für die stoische Philosophie bezeugt werden könne. Von dieser Basis ausgehend wurde ein Deutungskampf zwischen stoischer und peripatetischer Philosophie diagnostiziert, welcher sich in der Gestalt des literarischen Quintus manifestierte, dessen reales Vorbild an anderer Stelle stärker in die Nähe der Peripatetiker gerückt wird. Hahmann betonte, dass sich die Frage, welcher philosophischen Position die Apologie des Quintus für die Existenz der Divination zugeordnet werden kann, nur dann hinreichend beantworten lasse, wenn streng genug zwischen dem Autor Cicero, der literarischen Intention der innerhalb des Dialoges handelnden Figuren und den Positionen der darin erwähnten Philosophenschulen differenziert werden würde. Einen starken Indikator dafür, dass Cicero selbst mit Schwierigkeiten bei der Darstellung der Positionen der philosophischen Tradition in Bezug auf die Wahrsagung zu kämpfen hatte, sah Hahmann darin, dass es anders als in den vorangegangenen Dialogen des ciceronianischen Spätwerkes, in „De Divinatione“ nicht die Vertreter der hellenistischen Philosophenschulen seien, die ihre Sicht auf das gemeinsam verhandelte Thema darlegen, sondern hier lediglich Cicero selbst und sein ebenfalls philosophisch geschulter Bruder Quintus mittels der Argumente hellenistischer Philosophie über die grundsätzliche Plausibilität der Existenz der Wahrsagung diskutierten. Es sei daher plausibel, dass die Äußerungen des Quintus nicht lediglich als Wiedergabe des stoischen Dogmas zur Frage, ob die Divination in der Wirklichkeit gründet, aufzufassen sei, sondern es sich bei seinem Vortrag vielmehr um einen unabhängigen Standpunkt handle. Durch seine Äußerungen verfolge die Figur des Quintus in gebildeter und eklektischer Manier das Ziel, seinem Plädoyer für die Existenz der Wahrsagung einen möglichst plausiblen Unterbau zu verleihen, wofür er sich der Meinungen verschiedener Philosophen und philosophischer Schulen bediene, ohne zugleich den Anspruch zu verfolgen, dabei auf ein kohärentes System einer bestimmten Tradition zurückzugreifen. Hahmann schloss mit der Feststellung, dass sich die vermeintlichen Widersprüche in der Beweisführung des Quintus auflösen ließen, wenn bei der Lektüre des ersten Buches von „De Divinatione“ die Unterscheidung zwischen den einzelnen Deutungen und Deutungskämpfen sowie den unterschiedlichen philosophischen Denktraditionen ernst genommen würde.
Einem philosophischen Dialog widmete sich auch der anschließende Vortrag von Christopher Schliephake, der es unternahm, sich den divinatorischen Deutungskämpfen im Werk des Plutarch von Chaironeia anzunähern. Dabei legte Schliephake den Schwerpunkt seines Interesses auf den Bereich der Traumdeutung und ging dabei der Frage nach, welchen Stellenwert Träume in den Überlegungen Plutarchs zur Divination einnahmen. Exemplifiziert wurde dies anhand eines Deutungskonfliktes in „De genio Socratis“, einem der kontroversesten philosophischen Texte im Werk Plutarchs. Zu Beginn seiner Ausführungen bestimmte Schliephake den Umgang mit den Träumen in der Antike als soziales Unterfangen, durch welches Träume auf der „diskursiven Ebene“ im Sinne Foucaults aktiv diskutiert werden konnten. Daran anschließend wurde festgestellt, dass der Gesamtdiskurs über die Traumdeutung während der Hohen Kaiserzeit hauptsächlich zwischen zwei „Gruppen von Wissensträgern“ ausgetragen wurde. Befand sich auf der einen Seite das philosophische Nachdenken über das abstrakte erkenntnistheoretische Potential von Träumen, bildete dessen Gegenpart das praxisorientierte Interesse der professionellen Deuter, den es hauptsächlich darum ging, durch die Symbolkraft der Traumerlebnisse möglichst präzise und erfolgreich den Verlauf der Zukunft auszulegen.
Die Spannungen zwischen beiden Polen scheinen im Verlauf von „De genio Socratis“, einem Text, welcher durch seine Schilderung der Ereignisse am Vorabend des thebanischen Aufstandes von 379 v. Chr. zugleich in den Kontext eines historischen Ereigniskomplexes gestellt wurde, immer wieder durch. Hierbei erhält der durch philosophische Diskurse angereicherte Dialog zugleich einen erhöhten Praxisbezug, da sich die Verschwörer durch die enorme Unsicherheit ihrer Situation in einer akuten Krisenlage befänden und mittels der Auslegung von Vorzeichen versuchen würden, sich mit dieser zu arrangieren. In diesen Kontext gehört auch das Beispiel, anhand dessen Schliephake die Deutungskonflikte zwischen Philosophen und Deutern illustrierte. So kommt es im Verlaufe des in „De genio Socratis“ beschriebenen Gespräches zu einer Kontroverse um die Auslegung des sogenannten „Traum des Hypatodoros“, wobei sich die philosophische Deutung und diejenige eines Sehers fundamental unterscheiden würden: Während erstere die Zeichen nach ihrem offensichtlichen Inhalt auslegen und zur Vorsicht mahnen würde, wäre es letzterer durch eine genaue Analyse der symbolischen Ebene möglich, den Traum positiv zu deuten. Schliephake machte darauf aufmerksam, dass diese Deutungen eines Traumes im philosophischen Werke Plutarchs einzigartig seien, da Träume zumeist nur nach deren Inhalt zitiert würden. Einen weiteren Deutungskonflikt sah Schliephake in der Vereinbarkeit der Trauminhalte mit öffentlichen Formen der Mantik, die aus der Sicht der Deuter lediglich ein Mechanismus der Machthaber zur Legitimierung ihrer Politik seien. Die professionell durchgeführte Traumdeutung sei hingegen ein Geheimwissen, durch welches eine freiere Kommunikation mit den Göttern ermöglicht würde. Abschließend behandelte Schliephake die Position der Philosophen gegenüber der Traumdeutung und machte deutlich, dass es aus der Sicht Plutarchs die Aufgabe der Philosophie gewesen sei, Differenzierungen zwischen mantischen Praktiken und individuellen Vorstellungen der Fantasie vorzunehmen und mittels einer von den Leidenschaften befreiten Sicht einen „Weg zur Wahrheit‘“ aufzuzeigen. Schliephake kam so zu dem Schluss, dass das von Plutarch behandelte Wissen über die Traumdivination ein relationales sei, welches fundamental von der eigenen Positionierung abhing und mittels seines „diskursiven, prozessualen Charakters“ ständig ausgebaut werden konnte, da auch die Ansätze zu rationalen Erklärungen der Divination aufgrund von deren mangelnder empirischer Fassbarkeit in einem „liminalen Bereich“ angesiedelt seien, dem sich mittels Sprache stets nur angenähert werden könne.
Mit der antiken Traumdeutung befasste sich auch der letzte Vortrag der Fachsektion, in dem RAFAL MATUSZEWSKI (Salzburg) die Deutungskämpfe in den „Oneirokritika“ des Artemidor von Daldis untersuchte. Die zentrale Fragestellung bezog sich darauf, ob und wie Artemidor sein eigenes Verhältnis zur Divination in seinem Traumdeutungsschlüssel reflektierte. Matuszewski begann mit der Feststellung, dass sich die Pluralität der divinatorischen Ansätze, die im griechischen Osten des ausgehenden 2. Jh. n. Chr. präsent war, auch in den „Oneirokritika“ spiegelt. So erwähnt Artemidor insgesamt siebzehn mantische Methoden, stuft diese allerdings als unterschiedlich plausibel ein und bezeichnet auch deren Vertreter entweder als Hochstapler und Betrüger oder als Experten. Wie Matuszewski am Beispiel der Physiognomie deutlich machte, lagen die Gründe für die Bewertung einer divinatorischen Disziplin im Falle Artemidors nicht ausschließlich im Bereich fachlicher Überlegungen, sondern konnten auch biographisch motiviert sein. Auch hätte Artemidor Ansätze zurückgewiesen, welche die Plausibilität seines eigenen Ansatzes untergraben würden, was anhand der Astrologie nach Horoskopen vorgeführt wurde. Insgesamt zeigte Matuszewski, dass Artemidor besonders jene Ansätze respektierte, die sowohl auf eine lange Tradition zurückblicken als auch integraler Bestandteil römisch-griechischer Religion waren und über ein ausgeprägtes Expertentum verfügten. Da Artemidors eigene Profession im Vergleich zu Methoden wie der Opferschau oder der Ornithomantie nicht über eine hohe Reputation verfügte, verfolgte er mit seiner Konzeption das Ziel, der Traumdivination zu erhöhtem Ansehen zu verhelfen. Zu erreichen suchte er dies mittels der systematischen Auswertung und Kritik der Fachliteratur, welche er mit seinen eigenen Erfahrungen in der traumdeuterischen Praxis. Aus dieser Feststellung konnte Matuszewski ableiten, dass es Artemidor vor allem darauf ankam, seinem Ansatz einen wissenschaftlichen Anspruch zuzuordnen, welcher auf einer starken empirischen Basis fußte. Insbesondere die Möglichkeit, sein Wissen an der Erfahrung zu erproben, hätte diesem Autorität verliehen. Abschließend wurde die Frage behandelt, ob Artemidor bei der Ausarbeitung seiner Methode bei anderen Disziplinen schöpft, welche zu ihm z.T. in Konkurrenz standen. Hier verwies Matuszewski darauf, dass Artemidor zu Beginn des vierten Buches Elemente aus der Physiognomie anführt und auch der Einfluss der Astrologie an manchen Stellen spürbar sei. Als Fazit wurde noch einmal betont, wie sehr sich Artemidor bemüht habe, seine Kunst als seriöse Wissenschaft zu etablieren, wozu er sich konsequent sowohl von anderen Disziplinen als auch von Vertretern seines eigenen Metiers distanzierte und die Deutungskämpfe um die richtige Form der Traumdeutung zuletzt auch mit einem Verweis auf die Zustimmung Apollons legitimierte.
Abgerundet wurde die Fachsektion durch einen Kommentar von SARA CHIARINI (Hamburg), in dem zunächst noch einmal die Kernfrage nach der Verortung und des Umfangs der Deutungskämpfe bei allen drei Autoren gestellt wurde. Wie Chiarini feststellte, lagen die Konfliktpunkte sowohl bei Cicero als auch bei Plutarch im Inneren der Autorenperspektive. So sei Cicero zwischen seinen entgegengesetzten Interessen für die Philosophie und der Erhaltung der traditionellen Institutionen der res publica hin und her gerissen gewesen, was sich in seinem Versuch ausgedrückt habe, die klassische Form der althergebrachten Religion mit dem kritisch-wissenschaftlichen Denken der Griechen zu verbinden. Dass sich der Fokus der Forschung mittlerweile auf das erste Buch von „De Divinatione“ und auf die Figur des Quintus gelegt habe, beschrieb Chiarini als wichtige Akzentverschiebung, die konsequent auf neueren Forschungen aufbauen. Auch im Falle von Plutarch klafften die Meinungen zwischen der öffentlichen Funktion der Mantik und deren philosophisch-theologischer Betrachtung weit auseinander. Plutarch gelänge es jedoch den Konflikt durch eine Synthese zwischen platonischer und stoischer Philosophie aufzulösen, indem er die Auslegungen von Zeichen durch Menschen, von der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit der Divination trennte. Von Cicero und Plutarch würde sich Artemidor vor allem dahingehend abheben, dass dieser keinerlei Zweifel an der Mantik an sich erkennen ließe und diesen auszuräumen suche. Vielmehr wäre Artemidor ein Einzelkämpfer gewesen, der mit seinem Werk eine Kampfansage sowohl an seine Kritiker als auch an die Verächter der Divination verfasst hätte, weshalb die Deutungskonflikte Artemidors daher im Äußeren zu finden und von der Konkurrenz zu anderen geprägt worden seien, nach deren Identität und Stärke von Chiarini perspektivisch als Ausgangspunkt für weitere Forschungen fragte.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Gregor Weber (Augsburg) / Christopher Schliephake (Augsburg)
Andree Hahmann (Peking): Deutungskämpfe in Ciceros „De Divinatione“
Christopher Schliephake (Augsburg): Deutungskämpfe im Werk des Plutarch von Chaironeia
Rafał Matuszewski (Salzburg): Deutungskämpfe in Artemidors ‚Oneirokritika‘
Sara Chiarini (Hamburg): Kommentar