HT 2021: Wie die Tiere? Analogien und Differenzierungen zwischen Animalischem und Humanem im 20. Jahrhundert

HT 2021: Wie die Tiere? Analogien und Differenzierungen zwischen Animalischem und Humanem im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Brigitta Bernet, Forschungszentrum Europa, Universität Trier / Universität Zürich

"Lass es uns doch einmal wie die Tiere machen!", beginnt ein schlüpfriger Witz, der im Brenner-Roman "Wie die Tiere" in mehreren Anläufen erzählt wird. Mensch-Tier-Analogien lassen sich verschieden ausdeuten, folgen unterschiedlichen Logiken und legen diverse Handlungen nahe. Dieser Beobachtung verdankt sich nicht nur die Pointe des Witzes, die Wolf Haas im letzten Satz des Brenner-Buches schließlich doch noch setzt. Sie bildete auch den Ausgangspunkt der gut besuchten Sektion, die unter dem Titel "Wie die Tiere. Analogien und Differenzierungen zwischen Animalischem und Humanem im 20. Jahrhundert" nach dem Wandel der Deutungen von Mensch und Gesellschaft im Medium der Tieranalogie fragte. Wie Sektionsleiter RÜDIGER GRAF (Potsdam) einleitend festhielt, handelt es sich beim "Denken mit Tieren" zwar um ein epochenübergreifendes Phänomen. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erreichte die Analogiebildung und Differenzierung von Mensch und Tier jedoch eine neue Qualität: Sie verwissenschaftlichte sich in einem Zeitraum, da die physische Distanz zwischen Menschen und Tieren durch Industrialisierung, Automobilisierung und Urbanisierung vielerorts zunahm. Insbesondere Darwinismus und Behaviourismus brachten die vormals stabilen heuristischen Grenzen zwischen Tier und Mensch beträchtlich ins Wanken. In den 1930er-Jahren gingen diese Wissensgebiete neue Verbindungen ein und die Produktion von "Verhaltenswissen" explodierte. Während Konrad Lorenz und Robert Yerkes Tiere in der Natur beobachteten und daraus Rückschlüsse auf menschliches Verhalten zogen, setzte B.F. Skinner Ratten in Experimentierkäfige und testete an ihrem Exempel den Einfluss wechselnder Umwelteinflüsse auf die menschliche Lernfähigkeit. Im Zentrum der vier interdisziplinären Vorträge stand der Wandel der Mensch-Tier-Analogie im 20. Jahrhundert, wobei ein spezielles Augenmerk auf den Interessen und politischen Implikationen lag, die dem "Denken mit Tieren" vorausgingen und nachfolgten.

Aufschlussreich war diesbezüglich der Vortrag des Philosophen GEORG TOEPFER (Berlin), der den Titel der Sektion umdrehte und danach fragte, wie Tiere im 20. Jahrhundert zu Sprache, Geist und Kultur fanden – und wie es also kam, dass in der Gegenwart problemlos von einer "Sprache der Tiere" oder von einem "kulturellen Leben der Tiere" die Rede sein kann. Toepfer machte deutlich, dass traditionelle Distinktionsbegriffe ( wie "Sprache", "Geist" und "Kultur") im 20. Jahrhundert ihre Funktion verloren, die Welt des Menschen als eine vom Tier gesonderte zu markieren. Wie er indes zu bedenken gab, führte der begriffliche Einzug der Tiere in diese ehemals dem Menschen vorbehaltenen Sphären keinesfalls zu einer Verbrüderung respektive Verschwesterung von Mensch und Tier etwa in der Rechtspraxis. Nicht die Grenzen, nur die Konzepte wurden durchlässig und unscharf. Vor diesem Hintergrund plädierte Toepfer für eine Arbeit am Begriff, welche die faktische Grenzziehung wieder benennen könne – zumindest bis zum Tag, da Mensch und Tier in der Rechtspraxis gleichgestellt seien.

Unter dem Titel "Animal Spirits und Decision-Making-Organisms" wandte sich RÜDIGER GRAF der animalischen Deutung wirtschaftlichen Verhaltens zu. Sein erhellender Vortrag setzte mit Werner Sombart ein, der vom Menschen in den 1930er-Jahren als einem Wesen sui generis sprach, das im Gegensatz zum Tier sinn- und nicht instinkthaft handle. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geriet dieser menschliche Exzeptionalismus indes auch in der Ökonomie ins Wanken. In der Grundlagenreflexion und der Verhaltensökonomie tauchten neben dem Homo oeconomicus bald überraschend viele Tiervergleiche auf. Herbert Simon etwa forderte in den 1950er-Jahren, man müsse sich den Menschen nicht gott-, sondern rattenähnlich vorstellen. Mit der Verhaltensökonomie gewann in der Folge ein Forschungsgebiet an Kontur, das die Rationalitätsannahme des Homo oeconomicus weiter relativierte. Nicht bewusste, sondern unbewusste – gleichsam animalische – Entscheidungen erschienen darin als Regelfall. Dass Tierbezüge dabei auch stark politisch eingefärbt waren, illustrierte Graf überzeugend an Friedrich Hayek, der aus der animalischen Grundstruktur menschlichen Verhaltens eine Kritik am Vernunftprimat der Aufklärung ableitete: "Reason does not lead; it is being led", lautete sein Fazit, das für Menschen ebenso wie für Gesellschaften das Recht der Tradition vor jenes der Vernunft setzte.

Mit MARCUS BÖICK (Bochum) wandte sich die Sektion unter dem Titel "Das Tier im Täter" der Betrachtung von Gewaltverbrechen im Spannungsfeld von Kriminologie, Politik und medialer Berichterstattung zu. Ob Jack the Ripper, Hannibal Lecture oder der Todespfleger Niels Högel: Wie Böick einleitend festhielt, erzeugen Fälle extremer Gewaltverbrechen in Öffentlichkeit und Politik ein intensives Bedürfnis nach rationalen wissenschaftlichen Erklärungen, um diese irrational scheinenden Verhaltensweisen zu deuten. Gerade in den Medien ist ein Vergleich mit tierischem Verhalten (als "viehisch", "bestialisch", …) schnell gemacht. Für das 20. Jahrhundert beobachtete Böick eine gegenläufige Entwicklung: Während sich in der Kriminologie eine Abnahme von "animalischen Argumenten" verzeichnen lasse, nahmen Täter-Bestialisierungen in Medien und in der Politik stetig zu. Wie man diese gegenläufigen Entwicklungen deuten könnte, blieb etwas unterbelichtet zugunsten der Schlussfrage, ob kriminologisches Wissen und mediale Inszenierung letztlich nicht doch mehr zusammen- als gegeneinander wirkten.

Im Vortrag "Streitfall Verhalten – Verhaltensbiologie zwischen Tierforschung und Sozialhygiene" blendete SOPHIA GRÄFE (Marburg) auf die Verhaltensforschung in der DDR der 1960er- und 1970er-Jahre. Anders als im Westen entwickelte sich die Verhaltensbiologie dort in einer materialistischen Tradition, die das menschliche Verhalten nicht als biologisch bedingt, sondern als sozial bestimmt zu betrachten empfahl. Am Beispiel der Isolationsexperimente mit Rotfüchsen, die der Ethologe Günther Tembrock an der Berliner "Forschungsstätte für Tierpsychologie" durchführte, fragte Gräfe nach den Konfliktlinien dieses Wissensfeldes. Anschaulich zeichnete sie das epistemische System der Forschungsstätte nach, das nicht nur ein sogenanntes Fuchszimmer im Westflügel des Museums für Naturkunde und später auch dessen Gartenanlage umfasste, sondern bald auch die Privatwohnungen der Projektmitarbeiter:innen. Dass sich diese Versuchsanordnung in die Forschungsresultate einschrieb, war ein interessantes Ergebnis des Vortrags. Um darzulegen, wie Mensch-Tier-Analogien indes vergleichsweise neu ins Spiel gebracht wurden und wo die Konfliktlinien exakt verliefen, reichte die Zeit leider nicht aus.

Alles in allem: Ein inspirierendes Panel, das geschickt ein breites Spektrum von Themen arrangierte und interessante Fragen aufwarf, die sich zukünftig in verschieden Richtungen weiter ausarbeiten ließen. Reizvoll wäre beispielsweise ein intensiverer Dialog mit der Geschichte der "politischen Zoologie", gehört die Mensch-Tier-Analogie doch zu den besonders traditionsreichen politischen Denkmodellen, von denen Machiavellis Fürst, der Fuchs und Löwe sein muss, ebenso zeugt wie die notorischen Vergleiche zwischen den Staatswesen der Menschen und den "Staaten" der Insekten. Die politischen Vektoren sind bei Machiavelli oder Mandeville natürlich offensichtlich. Sie finden sich aber auch im wissenschaftlichen Sprechen über menschliches Verhalten und sind für dieses weiterhin konstitutiv. Diese Einsicht, deren Potential gerade in Grafs Vortrag anschaulich wurde, zeigt eine Richtung an, in die man weiter gehen könnte.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Rüdiger Graf (Potsdam)

Rüdiger Graf: Einleitung

Nina Verheyen (Essen/Köln): Moderation

Georg Toepfer (Berlin): Wie die Menschen! Wann und warum die Tiere im 20. Jahrhundert zu „Sprache“, „Geist“ und „Kultur“ fanden

Rüdiger Graf: Animal Spirits und Decision-Making Organisms. Tierische Perspektiven auf wirtschaftliches Verhalten

Marcus Böick (Bochum): Das Tier im Täter: Kriminologische Diskurse über menschliches Gewaltverhalten

Sophia Gräfe (Marburg): Streitfall Verhalten – Verhaltensbiologie zwischen Tierforschung und Sozialhygiene


Redaktion
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