Die Sektion „Sozialdaten für die zeitgeschichtliche Forschung: Wie bauen wir die digitale Infrastruktur aus?“ auf dem diesjährigen Historikertag knüpfte an gegenwärtige Diskussionen um die Nachnutzung von Sozialdaten als zeithistorische Quellengattung an. Diese junge Forschungsstrategie bietet nicht nur neue Erkenntnispotentiale, sondern es entstehen auch praktische Herausforderungen, die mit Fragen der Erschließung, Archivierung, den Auswertungsmethoden, rechtlichen und ethischen Dimensionen sowie konzeptionellen und darstellerischen Überlegungen verknüpft sind. Unter Sozialdaten sind dabei quantitative und qualitative Datenbestände amtlicher statistischer Erhebungen und zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Forschung sowie Marktforschung zu verstehen, wie CHRISTINA VON HODENBERG (London) betonte. Sie verwies damit auf die aktuelle Arbeitsdefinition der DFG-Projektgruppe „Sozialdaten als Quellen der Zeitgeschichte“, zu der neben Christina von Hodenberg auch Lutz Raphael, Pascal Siegers, Sabine Reh und Kerstin Brückweh gehören. Ziel der Sektion war es, den Dialog zwischen Datenkurator:innen, Wirtschafts- und Sozialhistoriker:innen, Zeithistoriker:innen sowie Vertreter:innen sozialwissenschaftlicher Nachbardisziplinen anzustoßen, um Impulse für die Weiterentwicklung laufender und zukünftiger Projekte und Infrastrukturen zu setzen. Die Schwerpunkte lagen dabei auf der Frage der Zugänglichkeit von Sozialdaten, den damit verbundenen ethischen, rechtlichen und archivalischen Hürden sowie der Weiterentwicklung des Ausbildungsangebotes für angehende Historiker:innen.
Die Vorsitzende des Historikerverbands, EVA SCHLOTHEUBER (Düsseldorf), eröffnete die Sektion mit einem Plädoyer für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft, welches sie mit der Forderung nach einem stärkeren Austausch innerhalb der historischen Subdisziplinen verband. So seien Sozialdaten nicht allein für die Zeitgeschichte relevant, sondern spielten auch in der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung eine wichtige Rolle. Es sei daher notwendig, interoperable Strukturen zu schaffen, die den jeweiligen fachlichen Standards gerecht würden. Hier sei beispielsweise die Einigung auf einen Metadatenstandard wünschenswert. So könnten durch möglichst einheitliche Informationen zur historischen Kontextualisierung und Genese von Daten unterschiedliche Datensätze verknüpft und vergleichend ausgewertet werden. Durch solch übergreifende Zusammenarbeit würden sich auf lange Sicht die Zuschnitte der Disziplinen verändern, was eine durchaus wünschenswerte Perspektiverweiterung des Faches darstelle. Darüber hinaus warf Eva Schlotheuber die Frage auf, wie es um die notwendigen Kenntnisse innerhalb des Faches bestellt sei, um Sozialdaten als Quellen zu nutzen. Es sei weitestgehend offen, wie angesichts der methodischen Neuerungen und sich verändernden Anforderungen die Ausbildung von Historiker:innen zukünftig beschaffen sein müsse.
NICOLE MAYER-AHUJA (Göttingen) brachte am Beispiel ihrer Erfahrungen mit dem Archiv eLabour vier zentrale Herausforderungen im Umgang mit Sozialdaten ein. Erstens forderte sie die Anerkennung von Sozialdaten als relevante und notwendige Quellen für die Zeitgeschichte. Das besondere Potenzial dieser Quellenart zeige sich gerade bei qualitativem Forschungsmaterial, an das sich neue Fragestellungen herantragen ließen und mit dem sich zum anderen die Lebenserfahrungen gesellschaftlich marginalisierter Gruppen rekonstruieren ließen. Gerade im Rahmen öffentlich finanzierter Forschung sei eine akkurate Dokumentation der Forschungsdaten verpflichtend. Zweitens hob Mayer-Ahuja die Zugänglichkeit der Daten, ethische Fragen des Datenschutzes und externe Archivierungszwänge aufgrund der Geldgeber als Herausforderungen hervor. Beim Aufbau der Forschungsdateninfrastruktur begegnete eLabour diesen Aspekten durch den Zusammenschluss der beteiligten Institutionen und eine Einigung in der Logik der Datenbank und der IT-Infrastruktur. Als dritten Punkt ging Mayer-Ahuja auf Nutzungsrechte ein. Das eLabour-Archiv folgt einer gestaffelten Lösung, um in Form von Risikoklassen den jeweiligen Schutzbedürfnissen von Forschenden und Beforschten, aber auch den Interessen der unterschiedlichen Nutzergruppen (Journalismus, Qualifikationsarbeiten, Lehre etc.) gerecht zu werden. Mit diesem Verfahren übernehmen die Datenhaltenden die Verantwortung für das Material und die Entscheidung über die Weitergabe, während die Anonymisierung der Daten für jeden Einzelfall angepasst wird. Als vierte Herausforderung sprach Nicole Mayer-Ahuja die langfristige finanzielle Unterstützung datenhaltender Institutionen an. Bisher würde oft zwar der Aufbau von Infrastrukturen, nicht aber ihre Aufrechterhaltung gefördert. Die notwendigen Kooperationsmaßnahmen gingen aber über die Zeitgeschichte hinaus, da in den Sozialwissenschaften verstärktes Interesse an historischen Fragestellungen bestehe und Historiker:innen zunehmend auf sozialwissenschaftlich erhobene Daten zurückgriffen.
Für ein gemeinsames Suchen nach praktikablen und an der Arbeitsrealität der jeweiligen Akteure orientierten Lösungen plädierte auch PASCAL SIEGERS (Köln). Er verwies darauf, dass sich die sozialwissenschaftliche Forschung derzeit in einem Umbruch befinde. Deswegen habe GESIS die vor allem für historische Zeitreihen von Historiker:innen verwendete Datenbank HISTAT aus dem Programm genommen. Siegers machte auf den Unterschied zwischen sozialwissenschaftlichen und historischen Forschungspraktiken aufmerksam, die von den datenhaltenden Institutionen berücksichtigt werden müssten. So sollten die Nutzer:innen von Infrastrukturen in ihrer jeweiligen Forschungspraxis abgeholt werden und das Datenmanagement jeweils anhand von fachspezifischen Kriterien organisiert werden. Insgesamt fehle es zudem im Feld an Professionalität hinsichtlich des Mitdenkens rechtlicher Rahmenbedingungen für die Nachnutzung. Da die Forschungspraxis das Datenmanagement bestimme, sei es notwendig, dass Datenhalter und Nutzer gemeinsame Lösungen entwickelten.
Mit der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung brachte SABINE REH (Berlin) die Sichtweise einer weiteren datenhaltenden Institution ein, die mit qualitativen und quantitativen bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Forschungsdaten vielfältiges Material bereithält. Die Nutzung dieser Daten sei, so Reh, allerdings voraussetzungsreich und auch durch traditionelle Frontstellungen zwischen empirisch forschenden und wissenshistorisch kritisch arbeitenden Wissenschaftler:innen erschwert. Vor allem die Differenziertheit der Daten, unterschiedliche Formate, dahinterstehende Forschungsparadigmen und mentale Konstruktionsleistungen machten eine fundierte Quellenkritik zu einem notwendigen, aber aufwendigen Unterfangen. Hier schloss Sabine Reh an die Diskussion um die notwendigen Qualifikationen und Anpassungen in der Ausbildung von Historiker:innen an.
LUTZ RAPHAEL (Trier) lenkte die Perspektive erneut auf die Ausbildungsbedingungen für die historische Arbeit mit Sozialdaten, deren Mehrwert und die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Bisher seien die Zeithistoriker:innen, die Sozialdaten nutzen, vorwiegend Autodidakten. Das berge viele Risiken, weshalb die Ausbildung intensiviert werden müsse. Die Forschungshintergründe der quellenerzeugenden Primärforscher:innen müssten verstanden und nachvollzogen werden können. Hier sei die Hinwendung zu digitalen Auswertungsmethoden eine wünschenswerte Entwicklung. Das besondere Potential in der Arbeit mit Sozialdaten bestehe in der historisch-kritischen Perspektive, die als Kernkompetenz der Geschichtswissenschaft zu sehen sei und die bisherige Forschung durch neue Fragestellungen und eine kritische Reflektion früherer sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse bereichern könne.
In der Folge stellte Christina von Hodenberg stellvertretend für die Forschungsgruppe die Zwischenergebnisse einer fachübergreifenden Erhebung vor, die auf 14 Gesprächen mit Historiker:innen und einer Sichtung der universitären Curricula beruhte. Sie nannte als häufige Begleiterscheinungen der Arbeit mit Sozialdaten die teilweise fehlenden Ressourcen für die Archivierung von Datenerhebungen, den hohen (und im Fach nicht anerkannten) Zeitaufwand bei der Erschließung und Bearbeitung dieser Quellen, die notwendige Klärung datenschutzrechtlicher und ethischer Fragen sowie die Potentiale und Herausforderungen vernetzten, oft auch fächerübergreifenden Arbeitens.
In der Folge diskutierten die Teilnehmenden die Relevanz einer „Data Literacy“ für Historiker:innen und brachten ein, dass dies nicht nur für die Zeitgeschichte, sondern für alle Epochen gelte. Ob Kompetenzen bereits während des Grundstudiums, in spezialisierten Masterstudiengängen oder im Rahmen von Angeboten für Promovenden vermittelt werden sollen, wurde kontrovers debattiert. Besonders der Erwerb von quantitativen Auswertungsmethoden wie die Fähigkeit, einfache Kreuztabellen zu lesen und zu erstellen, wurde betont. Eine Regressionsanalyse mit SPSS, so einige Diskutanten, sei weniger zentral als die Fähigkeit, in R oder Python zu programmieren, wiederkehrende Muster oder Relationen in den Daten zu erkennen. Von Seiten der anwesenden Historiker:innen wurde betont, dass die Digitalisierung zwar das Erlernen von neuen Methoden notwendig mache, diese sich aber in die bewährten Verfahren der geschichtswissenschaftlichen Quellenkritik bruchlos einfügten. Insofern müsse die lange Tradition der historischen Quellenkritik, der Hermeneutik und der Quellenvielfalt in die digitale Welt transformiert werden. Insgesamt zeigte sich bei den Beteiligten ein großes Interesse an empirisch innovativen Formaten und transdisziplinärem Austausch. Eine stärkere Öffnung des Faches sei hier notwendig, um die Potentiale und Anschlussfähigkeit historischer Forschung im digitalen Zeitalter zu fördern, so das Fazit der Sektion.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Christina von Hodenberg (London)
Lutz Raphael (Trier)
Nicole Mayer-Ahuja (Göttingen)
Eva Schlotheuber (Düsseldorf)
Pascal Siegers (Köln)
Sabine Reh (Berlin)