Die unter den Stichworten „Political Correctness“ oder „Cancel Culture“ geführten Debatten der jüngsten Vergangenheit über Zensur und Meinungsfreiheit haben spätestens seit den medienwirksamen Denkmalstürzen im Rahmen der Black-Lives-Matter-Proteste im vorigen Jahr auch den Kulturerbe-Diskurs maßgeblich mitbestimmt. Doch was genau bedeutet Zensur im Kontext kultureller Erbeprozesse? Welche Formen, Intentionen und Strategien sind damit verknüpft? Wie lässt sich der Begriff abgrenzen? Und ist er ausschließlich negativ oder kann er auch positiv konnotiert sein?
Diesen Fragen widmete sich die fünfte Jahrestagung des Graduiertenkollegs „Identität und Erbe“. In ihren Beiträgen umkreisten die Teilnehmer:innen den Begriff der Zensur und beleuchteten ihn aus unterschiedlichsten Perspektiven, verwendeten ihn jedoch nur selten in der klassischen Form der staatlichen, strukturellen Informationskontrolle, wie ihn der Präsident der Bauhaus-Universität WINFRIED SPEITKAMP (Weimar) einleitend erläuterte. In den vier Panels und der anschließenden Podiumsdiskussion wurde deutlich, dass der Tagung vielmehr ein erweitertes Verständnis von Zensur zugrunde lag, zu dem die Wissenschaftler:innen Konzepte und Fallbeispiele aus kunst-, kultur- und architekturhistorischer Sicht präsentierten. Sie alle basieren jedoch auf der Vorstellung von Erbe- als kollektiven Aushandlungsprozessen.
Das erste Panel befasste sich mit Zensurdebatten über Denkmäler, im Sinne von Statuen ebenso wie Bauwerken, als konstituierende Elemente. ARNOLD BARTETZKY (Leipzig) griff aktuelle Konflikte über ambivalente Statuen und Ausstellungen auf, um sie in der langen Tradition des Ikonoklasmus zu verorten. Dazu führte er Beispiele sowohl der Dekommunisierung als auch der Dekolonisierung an, zwei aktuellen Prozessen, deren Vergleich sich im Umgang mit umstrittener Kunst jedoch als hochkomplex herausstellte. Dennoch könne eine vergleichende Betrachtung Parallelen zwischen dem ideologisch motivierten Vorgehen autoritärer Regime (top-down) und dem moralisch motivierten Vorgehen sozialer Aktivist:innen (bottom-up) aufzeigen. Zensur in beiden Fällen als negierende, mitunter gewaltvolle Praktik gegen Objekte im öffentlichen Raum verstehend, plädierte Bartezky für den kommentierten und kontextualisierten Erhalt dieser „unbequemen Denkmäler“.
Den Bezug zum baulichen Erbe stellte RACHEL GYŐRFFY (Budapest) her, indem sie die Ablehnung gegenüber spätmodernistischen Bauten einerseits und den zunehmend stadtbildprägenden, durch staatlich-autoritäre Tendenziösität gekennzeichneten Rekonstruktivismus andererseits in Mittel- und Osteuropa zueinander in Beziehung setzte. Die Abwertung des spätmodernen Bauerbes sei eine psychologische Reaktion auf die bislang nicht ausreichend aufgearbeitete Nachkriegsgeschichte und führe, als eine Art Selbstzensur, zur Idealisierung einer weiter entfernten Vergangenheit, die sich, von neoliberalen Mechanismen aufgegriffen, in einem Rekonstruktionstrend niederschlage. Dieser lasse sich in Form ikonoklastischer Gesten über Musealisierungen bis hin zu Simulationen einer nicht-vorhandenen Geschichtlichkeit (Hyperrealität) beobachten.
KLÁRA ULLMANNOVÁ (Prag) konkretisierte dies am Beispiel des aktuellen und noch jungen Diskurses über die Nachkriegsarchitektur in Tschechien. Um die zwischen Verfall und Abriss, Erhalt und Denkmalschutz befindlichen Gebäude spanne sich eine Auseinandersetzung, in der sich die verschiedenen Interessengemeinschaften auch des diskursiven Instruments der Zensur bedienten.
Daran anknüpfend befasste sich das zweite Panel mit Ursachen und Folgen der Zensur in der Kommunikation, insbesondere im deutschen NS-Erbe-Diskurs der 1950er- bis 1980er-Jahre sowie der globalen Kunsttheorie seit Beginn des 20. Jahrhunderts. LUKAS RATHJEN (Zürich) präzisierte mit Blick auf die Diskursgeschichte der frühen Bundesrepublik das vielzitierte „Schweigen der Nachkriegszeit“ als eine operationelle Verschiebung. Am Beispiel der Metonymie „Buchenwald – Weimar“ zeigte er, wie die Technik der Verschiebung in der Gesprächskultur nicht nur als rhetorisches Ausweichmanöver, sondern als strategisches Mittel genutzt wurde. Die metaphernreiche Sprache habe in den 1950er- und 1960er-Jahren großen Anklang gefunden, da sie in ihrer Uneindeutigkeit auf heterogene Erfahrungen bezogen werden konnte. Verschiebungen seien dabei weniger als Phänomen der Zensur selbst, denn als Mittel zur Vermeidung der Zensur zu begreifen.
ANATOL RYKOV (St. Petersburg) beleuchtete Zensurdebatten in der Kunsttheorie anhand des Konflikts zwischen der Wiener und der St. Petersburger Schule, bei dem Kunsthistoriker wie Alois Riegl und Nikodim Kondakov um das grundlegende Verständnis von Zensur in der Kunst rangen. Zudem schilderte er, wie Ernst Gombrich diese Argumente später wieder aufgriff, und fragte, inwiefern sich diese auch in aktuellen Diskursen der Kunstkritik widerspiegelten.
NATALIE REINSCH (Hannover) knüpfte an Rathjens Vortrag an und präsentierte den wahrscheinlich konkretesten Fall von „klassischer“ Zensur: den Zensurstreit zwischen Horst Brandstätter und der Stadt Stuttgart im Jahr 1987, ausgelöst durch die Kritik des Autors an der Benennung einer Veranstaltungshalle nach Hanns Martin Schleyer. Nachdem ein Text Brandstätters ohne die entsprechende Passage in einem Katalog der städtischen Galerie erschien, bezichtigte Brandstätter den damaligen Oberbürgermeister Rommel der Zensur, während sich dieser auf sein Herausgeberrecht berief, woraufhin sich eine mehrwöchige Mediendebatte entfachte. In der räumlichen Verdichtung des Stuttgarter Beispiels werde zehn Jahre nach dem „deutschen Herbst“ die Verschränkung im Konflikt über das Erbe des Linksterrorismus und Nationalsozialismus besonders anschaulich.
STEPHANIE HEROLD (Berlin) legte in einer Zwischenbilanz erste Erkenntnisse im Hinblick auf das Verständnis von Zensur im Kulturerbe-Kontext dar. Demnach sei Zensur erstens in der Form der Handlung und Kommunikation zu unterscheiden, dabei jedoch immer in Prozessen der Machtaushandlung zu verorten. Zweitens sei die Intention, das heißt die Zukunftsvision der Zensoren entscheidend: Dient die Zensur der Stabilisierung oder Destabilisierung? Und drittens ließen sich die Strategien zwischen einer Moralisierung und einer Degradierung der Anderen differenzieren.
Zu Beginn des dritten Panels standen zunächst die Begriffe „Deutungsmacht“ und „Dissens“ im Vordergrund, wobei unter Betrachtung materiellen und immateriellen Kulturerbes konflikthafte Erbekonstruktionen diskutiert wurden. FRRIEDERIKE LANDAU-DONELLY (Nijmegen) führte mit dem Begriff „gespenstisches Kulturerbe“ entlang bunter Wandgemälde, den murals, durch Vancouvers Chinatown und legte so dessen Wesen offen. In all seinen raumzeitlichen Beziehungen handele es sich hierbei nämlich um disputables kulturelles Gewebe. Gekennzeichnet durch seine sowohl materiellen als auch immateriellen Eigenschaften, sprach es von bis dato nicht erzählten Geschichten des urbanen Raumes. Als blinder Fleck, als ein Schweigen oder gar Verschweigen, als eine Form von Zensur, stellte dieses vorenthaltene Wissen ganz klar Fragen nach zeitgenössischen Formen eines kulturell nachhaltigen und gerechten Erbens.
ANNA ANGELICA AINIO (London) führte diesen Diskurs fort. Sie widmete sich, wie bereits zuvor Arnold Bartetzky, dem Denkmal für Robert E. Lee in Richmond. Als Ergänzung und Kommentar erweiterte Ainio die Auseinandersetzungen mit den Konföderierten-Denkmälern und erinnerungskulturellen Debatten um die von der Situationistischen Internationale geprägte Methode des detournement. Zur Veranschaulichung zog sie eine Parallele zum Pasquino, einer der letzten „sprechenden“ Statuen Roms. Als Äquivalent zu seiner mit Pamphleten überzogen Haut fungierten ebenfalls die Graffítis, das Denkmal Robert E. Lees übersäend, als Ausdruck von Widerstand gegen fortbestehende Machtkonstellationen. Die Referentin betonte, dass Denkmäler mittels detournement, einer „Verfälschung“, eine Transformation ihrer ursprünglichen Bedeutung erfahren könnten. Ainios Vortrag enthüllte somit die zuweilen fragile und fluide Natur kritischen Erbes und offenbarte die produktive Energie, die dem Akt der Transformation zu eigen ist.
NASIMA ISLAM (Calcutta) ergänzte diesen Gedanken mit ihrem Beitrag über die aus Bengalen stammenden Muslime im Bundesstaat Assam in Indien. Im Zuge staatlicher Zensur hatte man ihnen den Namen „Miya“ gegeben, der, als Ausdruck vermeintlich vorhandener verbrecherischer Grundzüge, ihre eigene Identität zu überschreiben versuchte. In Referenz auf Judith Butlers Text „Hass spricht“ (1997) beleuchtete Islam, wie sich die Miya mithilfe von Poesie, als Dichtergemeinschaft, gegen die eigene Marginalisierung und Exklusion zur Wehr setzten und für ihre Identität kämpften.
Im folgenden vierten Panel wurden die Themen Verortung und Bewahrung, insbesondere vor dem Hintergrund institutioneller Praktiken untersucht. PATRICIA LENZ (Zürich) machte auf die Schließung der Ausstellung „After, Freedom of Expression?” aufmerksam, die im Rahmen der Aichi Triennale in Nagoya im August 2019 stattgefunden hatte. Grund dafür sei ein Sicherheitsrisiko gewesen, ausgelöst von heftigen Protesten seitens rechter Lobbyist:innen. Man hatte versucht, mithilfe der Ausstellungsinhalte das Thema des Zweiten Weltkrieges diskursiv aufzuarbeiten. Lenz machte deutlich, dass der Einfluss der geschichtsrevisionistischen Regierung Japans zur gezielten Negierung von Inhalten führe, insbesondere jener, die mit einem spezifischen Narrativ der japanischen Vergangenheit brechen. Diese Art von Zensur erschwert nicht nur das Erinnern eines kritischen Erbes, sondern macht es nahezu unmöglich.
Die durch institutionelle Zensur erschaffene Leere trat auch bei IRAKLI KHVADAGIANI (Tiflis) in Erscheinung, der vom Scheitern der Restrukturierung einer neuen Gesellschaft Georgiens berichtete. Nach dem Ende des totalitären Sowjetregimes (1921-1991) hätten sowohl die andauernde Restriktion der Zugänglichkeit zu den Archiven als auch das scheinbare Verlorensein zahlreicher belastender Dokumente zu diesem Scheitern beigetragen.
Den Vortragspanels schloss sich eine Podiumsdiskussion an. KRISTINA LEKO (Berlin), NNENNA ONUOHA (Cambridge/Potsdam) und NILOUFAR TAJERI (Berlin) diskutierten unter der Moderation von JOCHEN KIBEL (Berlin) diverse Positionen zur Erscheinung von Zensur. Die Podiumsgäste hinterfragten, wie dieses Sichtbarwerden im öffentlichen Diskurs zur Sprache gebracht wird, welche spezifischen Gestalten Zensur annehmen kann und wie sie von Vertreter:innen des politischen Aktivismus, der wissenschaftlichen Analyse und der künstlerischen Reflexion kommentiert wird. Letztlich blieb die Frage, welche Freiheit dem Kommentieren als einem Akt des Widerstands im öffentlichen Raum gegeben wird, wo sich doch ebenjener in Machtverhältnissen verortet sieht, die Zensur erst produzieren.
Mit einer kritischen Reflexion über eine laute Stimme sich scheinbar kontinuierlich erhaltender und Macht ausübender Strukturen unserer Welt neigte sich die Tagung dem Ende zu. NIKOLAI ROSKAMM (Erfurt) ließ die vergangenen Tage noch einmal Revue passieren und rief den eingangs beschriebenen Begriff „erweiterte Zensur“ ins Gedächtnis. Dessen Vielgestaltigkeit hatte sich in den Vorträgen der Referent:innen im Kontext kultureller Erbeprozesse in mannigfaltiger Form gezeigt. Roskamm bemerkte abschließend, dass es weniger die in den Medien so präsenten Begriffe „Political Correctness“ und „Cancel Culture“ gewesen sind, die die Tagungsinhalte maßgeblich bestimmt hatten, sondern vielmehr die Debatte über das Sagbare und die Grenzen des Sagbaren, über Verdrängung und Verschiebung und nicht zuletzt über das Schweigen und Zum-Schweigen-Bringen.
Konferenzübersicht:
Begrüßung und Einführung
Winfried Speitkamp (Präsident der Bauhaus-Universität Weimar), Marta Torres Ruiz (Graduiertenkolleg „Identität und Erbe“)
Panel I: Identität und Erbe: Zensurdebatten als konstituierendes Element
Moderation: Svenja Hönig (Berlin)
Arnold Bartetzky (Leipzig): Zensur von unten? Aktuelle Auseinandersetzungen um unbequeme Denkmäler und umstrittene Kunstwerke
Rachel Györffy (Budapest): Zwischen Ikonoklasmus und Nostalgie: Rekonstruktivismus in Mittel- und Osteuropa. Kuratorische Praxis, Cancel Culture oder Musealisierung? Eine Annäherung
Klara Ullmannova (Prag): Der Gegenwartsdiskurs über „die Nachkriegsarchitektur“ in Tschechien
Panel II: Diskurs und Differenzierung: Langzeitperspektiven auf den Begriff Zensur
Moderation: Oliver Trepte (Weimar)
Lukas Rathjen (Zürich): Nachkriegsverschiebungen. Humanistische Rhetorik zwischen Erbe und Zensur
Anatol Rykov (St. Petersburg): Zensur in der Geschichte der Kunstwissenschaften
Natalie Reinsch (Hannover): „… der gnädige Schleier des Vergessens …“. Der Zensurstreit zwischen Horst Brandstätter und der Stadt Stuttgart im Jahr 1987 als Aushandlungsprozess um das mit der Person Hanns Martin Schleyer verschränkte Erbe des Linksterrorismus und des Nationalsozialismus
Zusammenfassung
Stephanie Herold (Universität Berlin)
Panel III: Deutungsmacht und Dissens: Konflikthafte Erbekonstruktionen Moderation: Zvi Efrat (Tel Aviv)
Friederike Landau-Donnelly (Nijmegen): Gespenstisches Kulturerbe. Erkundung widersprüchlicher Bedeutungen einer Ortsgeschichte in Vancouvers Chinatown
Anna Angelica Ainio (London): Lasst sie, wie sie sind. Die Demontage des Denkmals für Robert E. Lee
Nasima Islam (Calcutta): Die Entstehung der „Miya“. Eine Untersuchung des Widerstands zensierter Identitäten im Indischen Bundestaat Assam
Panel IV: Verortung und Bewahrung: Institutionelle Praktiken
Moderation: Darja Jesse (Berlin)
Patricia Lenz (Zürich): „After, Freedom of Expression?“. Japanische Künstler:Innen zwischen Nationalismus und vorauseilendem Gehorsam
Irakli Khvadagiani (Tiflis): Die Vergangenheit besitzen – die Gegenwart kontrollieren. Post-sowjetisches Know-how in Georgien
Podiumsdiskussion: Zensur und Öffentlichkeit in Zeiten des Denkmalsturzes Moderation: Jochen Kibel, Berlin
Kristina Leko (Berlin), Nnenna Onuoha (Cambridge/Potsdam), Niloufar Tajeri (Berlin)
Verabschiedung
Nikolai Roskamm (Erfurt)
Hans-Rudolf Meier (Sprecher des Graduiertenkollegs)