Der Workshop war der fünfte in einer Reihe von Workshops zur Geschichte, Überlieferung und Nachwirkung des Kriegsgefangenenlagers Stalag 326 (VI K) Senne, die seit Sommer 2019 im Rahmen der geplanten grundlegenden Umgestaltung der Gedenkstätte Expert:innen verschiedener Fachrichtungen und zivilgesellschaftlich Engagierte zum Austausch über die Forschung, Bewahrung, Gestaltung und Vermittlung der Geschichte des Ortes zusammenbringt.
In ihrer Begrüßung gab BARBARA RÜSCHOFF-PARZINGER (Münster) einen kurzen Einblick in den Stand der Planungen zur Neugestaltung der Gedenkstätte in Stukenbrock-Senne aus Sicht des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) und betonte die Notwendigkeit des fachlichen Austauschs im Rahmen der Workshop-Reihe angesichts der noch am Anfang stehenden Feinplanung zur Ausstellungsgestaltung. In diesem Zusammenhang kündigte MALTE THIESSEN (Münster) einen nächsten Workshop zum Thema Geschichtspolitik und Erinnerungskultur sowie ein Handbuch an, das die Beiträge der Veranstaltungsreihe bündeln und damit neue Forschungsansätze bieten soll. Anschließend führte er inhaltlich in den Workshop ein, erinnerte an die Forschungsgeschichte zur Quellengruppe historischer Fotografien sowjetischer Kriegsgefangenschaft und NS-Zwangsarbeit und wies auf ihren Charakter als überwiegende Täterdokumente hin, die entsprechende soziale Praktiken offenlegen könnten, aber auch die Gefahr der Reproduktion von gewaltvollen Bildregimen bergen.
In der ersten Sektion gab TIMO NAHLER (Münster) einen Einblick in eine vom LWL beauftragte Potentialanalyse fotografischer Bestände zum Thema sowjetische Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit in Westfalen. Die Erträge der breit angelegten Bestandsabfrage in verschiedenen Kulturdiensten des LWL, den Gedenkstätten und NS-Dokumentationszentren, in Kommunal- sowie Unternehmensarchiven sowie Heimat- und Kulturvereinen kategorisierte er in Lagerdokumentationen, private Aufnahmen / Schnappschüsse und professionelle Porträtaufnahmen. Er schlug mögliche Analyseansätze vor, die Erkenntnisse über praktisch-technische Abläufe (z.B. über die Betrachtung seriell angefertigter Porträtaufnahmen für erkennungsdienstliche Zwecke), individuelle Handlungsspielräume sowie visuelle Erinnerungs- und Fotokulturen im Kontext der Lagerwelt und Zwangsarbeit generieren könnten. Mit Abgleich von staatlichem Propagandamaterial ließen sich in den gesichteten Konvoluten beispielsweise Vorbilder und Leitnarrative wiedererkennen.
Daran anknüpfend untersuchte AXEL BANGERT (Frankfurt am Main) Täter- und Bystanderfotografien auf ihre soziale Praxis zwischen propagandistischer Prägung und Eigensinn. Er konzentrierte sich dabei auf die aus den Bildern sprechende Inszenierung und Ausübung von Macht über die Fotografierten in den Bereichen Propaganda, Wehrmacht, Arbeitseinsatz und wissenschaftliche Forschung. Diese gehe oftmals über den Tod der Fotografierten hinaus – nicht nur, so Bangert, wenn die Kameras der Täter die toten Körper oder die Gräber der Kriegsgefangenen in den Fokus nahmen, sondern auch durch die spätere Rezeption der Fotos. Dies stelle Wissenschaftler:innen und Kurator:innen vor besondere ethische und methodische Herausforderungen und verlange nach einer dekonstruierenden Auseinandersetzung mit ihnen. Wie Timo Nahler bereits aufzeigte, würden private Fotografien oftmals die propagandistischen Inszenierungsstrategien (die in Aufnahmen von Kriegsgefangenen auf Masse und „Typus“, Unterwerfung und vermeintlich selbstverschuldete Verwahrlosung abzielten oder im Fall von Zwangsarbeit auf Ordnung, Sauberkeit und Disziplin) imitieren; gelegentlich würden sie diese aber auch unterlaufen. Für eine zukünftige Ausstellung könnten hier, so Bangert, produktive Ansatzpunkte für eine kritische Reflexion der intendierten und erzielten Bildwirkung liegen.
Zu Beginn der zweiten Sektion, die die aktuelle Forschungs-, Sammlungs- und Vermittlungsarbeit in der Gedenkstätte Stalag 326 vorstellte, zeigte OLIVER NICKEL (Stukenbrock) auf, wie die Fotografische Sammlung der Gedenkstätte über Schenkungen und Ankäufe gewachsen ist und wie mit ihr in der Ausstellung und Vermittlung gearbeitet wird. Aus neuen Forschungsergebnissen ergäben sich Impulse für die Interpretation einzelner Fotografien, und andersherum würde das Zugänglichmachen von historischen Fotografien zu Erkenntnissen über Inhaftierte führen – etwa, wenn Angehörige ihre Nächsten auf veröffentlichten Fotos wiedererkennen. Mit Verweis auf die Würde der Abgebildeten sprach sich Nickel aber deutlich dafür aus, insbesondere in der pädagogischen Arbeit konsequent auf entwürdigende Fotografien zu verzichten oder sie entsprechend zu zensieren. Zur Erzählung der Lagergeschichte seien historische Fotografien nicht zwingend nötig, wie er mit Beispielen aus der Vermittlungsarbeit zeigte.
JENS HECKER (Münster) stellte Ergebnisse seiner Recherche nach Gegenbildern vor, die einen Kontrapunkt zu den oftmals auch für die Geschichte des Stalag 326 schon kanonisierten, aus Täterperspektive entstandenen Fotografien setzen könnten. So könnten beispielsweise Aufnahmen, die der ehemalige Kriegsgefangene Viktor Choperskij zur Dokumentation des Tatkomplexes des Kriegsgefangenenlagers unmittelbar nach der Befreiung anfertigen ließ, dabei helfen, einen anderen Blick auf das Lager einzunehmen. Das Fotoalbum Kobsar/Mischke, das 2019 an die Gedenkstätte übergeben wurde, könnte ebenfalls ein Schlüsselobjekt der neuen Ausstellung werden. Es gehörte Alexandra Iosivowna Kobel, einer ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterin in Rheda-Wiedenbrück. Das Album besäße mehrere Erinnerungsebenen, da es nicht nur die Fotografien des befreiten Stalag aus der Perspektive der Überlebenden zeige, sondern ein zentrales Objekt der privaten Familienerinnerung sei, das von Selbstbehauptung gegenüber gesellschaftlicher Stigmatisierung von Rückkehrer:innen aus Nazi-Deutschland in der Sowjetunion zeugt. Genuin digitale Erinnerungsräume im post-sowjetischen Raum können nach Hecker ebenfalls als Gegenbilder zu nationalsozialistischer Täterfotografien fungieren – interessanterweise indem sie diese mitunter einbeziehen und umwidmen: Als Beispiel nannte er u.a. das private Website-Projekt des Schwiegersohns Viktor Choperskijs1, das zugleich die umfangreichste Online-Dokumentations- und Gedenkinitiative zur Geschichte des Stalag 326 darstelle. Der Vortrag zeigte auf, wie das Internet nicht nur als Fundort von Gegenbildern fungieren kann, sondern auch als Raum für erinnerungskulturelle Praxis. Dabei stellt sich aber auch die Frage, wie diese langfristig erhalten und damit dauerhaft zugänglich gemacht werden können.
In der dritten Sektion ging es in zwei gut aufeinander abgestimmten Vorträgen um Überlegungen und Erfahrungen aus der Vermittlungs- und Ausstellungsarbeit. CHRISTINE GLAUNING (Berlin) gab Einblicke in den Umgang mit historischen Fotografien der NS-Zwangsarbeit in der 2013 eröffneten Dauerausstellung des Dokumentationszentrums in Berlin-Schöneweide. BABETTE QUINKERT (Berlin) legte den Fokus auf die kuratorische Praxis in Ausstellungen zum Komplex der sowjetischen Kriegsgefangenschaft, darunter in der ebenfalls 2013 überarbeiteten Dauerausstellung des Deutsch-Russischen Museums Karlshorst und der aktuellen Wanderausstellung „Dimensionen eines Verbrechens“. Anhand konkreter Beispiele betonten beide Referentinnen die Bedeutung des jeweiligen „Kontext- und Vermittlungsraums“ (Glauning), in dem historische Fotos eingesetzt werden und entsprechend unterschiedlich wirken können. Es mache einen Unterschied, ob die Fotografien am historischen Ort gezeigt werden und dort innerhalb des Ausstellungszusammenhangs einen dokumentarischen Charakter entfalten (Glauning), oder ob sie in einem anderen (temporären) Ausstellungskontext z.B. eine Repräsentationsfunktion erfüllen (Quinkert mit Verweis auf eine Fotografie aus der Gedenkstätte Stukenbrock, die in der Ausstellung „Dimensionen eines Verbrechens“ im Kapitel „Hungersterben“ gezeigt wird). Selbstkritisch hinterfragte Glauning auch, ob es nötig sei, historische Fotografien mit einer eher illustrativen Absicht auf Programmflyer zu drucken, die mitunter sogar im Kneipenkontext ausliegen könnten. Die Entscheidung über die vielfältigen Präsentationsformen von historischen Fotografien (z.B. Auswahl aus einem Konvolut, Größe, Bearbeitungen, Wahl eines Ausschnitts) bewege sich im Spannungsfeld zwischen kuratorischen Überlegungen (Wirkung, Zusammenspiel mit anderen Objekten), solchen des Vermittlungsbedarfs und des Erhalts des Quellencharakters (Quinkert). Beide Referentinnen zeigten darüber hinaus auf, dass der Anspruch der Gedenkorte auch darin besteht, in entsprechenden Medienstationen Besucher:innen zur selbstständigen Quellenkritik zu befähigen.
Eine kritische Einordnung des Gehörten und Gesehenen aus Sicht der Vermittlungsarbeit boten anschließend KSENJA HOLZMANN (Bremen) und JENNIFER FARBER (Dortmund). Mit Blick auf den historisch-politischen Bildungsanspruch der NS-Gedenkstätten verschoben sie den Schwerpunkt vom Historischen auf das Politische und auf die Gegenwart. Sie forderten, dass Gestaltungskonzepte von Anfang an Vermittlung mitdenken müssten. Dafür sei es zunächst nötig anzuerkennen, dass Gedenkstätten Teil einer radikal vielfältigen Gesellschaft (Max Czollek) seien. Dies spiegele sich aber noch nicht genug in ihren Konzepten (und ihrem Personal) wider. Holzmann und Farber schlugen vor, in der kuratorischen Arbeit stärker über gegenwärtigen (antislawischen) Rassismus, Antibolschewismus und Sexismus nachzudenken, dies u.a. in Überlegungen zu Begriffsverwendungen einzubeziehen, postkoloniale Theorie zu berücksichtigen und (post-)migrantisch situiertes Wissen aufzunehmen. Für die geplante Ausstellungs- und Vermittlungsarbeit der Gedenkstätte Stalag 326 regten sie an, Besucher:innen individuell darüber entscheiden zu lassen, ob und wie sie sich mit gewaltvollen Bildern beschäftigen möchten, auf ihre vorhandene Medienkompetenz zu setzen und mit Menschen der sogenannten Post-Ost-Community ins Gespräch zu kommen. Mit ihrer Frage: „Wenn wir uns alle einig sind, warum läuft dann noch so viel schief?“ holten Holzmann und Faber die ca. 60 Teilnehmenden des Workshops aus ihren gedanklichen Komfortzonen und boten Anknüpfungspunkte für die Diskussion.
Der Workshop war gut konzipiert, die Vorträge ergänzten sich produktiv und verbanden Einblicke in den Status quo der Forschungs- und Vermittlungsarbeit mit theoretischen und praktischen Überlegungen sowie Impulsen und Erfahrungen aus anderen Gedenk- und Dokumentationsstätten. Erfreulich war darüber hinaus die paritätische Besetzung der Sektionen.
Mit Blick auf die Neugestaltung der Gedenkstätte Stalag 326 lässt sich resümierend festhalten, dass auf historische Fotografien nicht verzichtet werden kann. Sie sind wichtige Überlieferungsbestandteile der Geschichte des Ortes und können mitunter Leerstellen füllen, wo andere Quellen schweigen. Insbesondere für das Stalag 326 und die Verbrechenskomplexe Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit in Westfalen ist die Überlieferungslage außerdem verhältnismäßig ergiebig – Filmaufnahmen scheint es dagegen nicht zu geben. Aus kuratorischer Sicht sind historische Fotografien aufgrund der visuellen Erfahrung, die Ausstellungen bieten, unerlässlich; wegen der menschenverachtenden Perspektive des vornehmlich von Tätern erstellten Bildmaterials gilt es, so früh wie möglich ein inhaltlich gut begründetes Konzept zu erarbeiten und erst dann an ein Gestaltungsbüro heranzutreten. Anregungen für ein solches Konzept gab der Workshop: Als eigene Quellengruppe ernst genommen, regen historische Fotografien sowjetischer Kriegsgefangenschaft und NS-Zwangsarbeit dazu an, nicht nur ihren spezifischen Charakter und ihre (technischen) Entstehungsprozesse zu thematisieren – sondern auch die hinter ihnen stehenden und in ihnen aufscheinenden sozialen Praktiken. Sie können etwa als Mittel entlarvt werden, mit dem Propaganda und Ideologie eingeübt, reproduziert oder (in seltenen Fällen) unterlaufen wurde; sie können als Instrument der Machtausübung erkannt und unterschiedlich dekonstruiert werden. Als Tauschobjekte können sie auch Mitteilung über erinnerungskulturelle Praktiken machen, oder – im Fall von Gegenbildern – individuelle Selbstbehauptung bezeugen.
Dementsprechend sollte ein Bestandteil des Ausstellungs- und Vermittlungskonzepts der zukünftigen Gedenkstätte in Stukenbrock Ideen dazu beinhalten, wie die Besucher:innen dazu angeleitet werden können, diese historischen Quellen kritisch zu lesen. An die Medienkompetenz von Besucher:innen anzuknüpfen, ist ebenso wichtig wie ihre ganz individuellen Blicke auf die Fotografien zu berücksichtigen. Bezüglich des Umgangs mit gewaltvollen und menschenverachtenden Fotografien hat die Gedenkstätte bereits verschiedene Wege erprobt, die auf das Zeigen solcher Fotos verzichten. Weitere Anregungen beinhalteten, beispielsweise Triggerwarnungen auszusprechen oder verstärkt (private) Gegenbilder zu nutzen, deren Bestände möglicherweise durch weitere Recherchen (u.a. in osteuropäischen Archiven) noch vergrößert werden könnten.
Ein praktischer Aspekt, den ein zukünftiges Konzept ebenfalls berücksichtigen sollte, betrifft die Bewahrung und den Einsatz von originalen Fotoquellen in der Gedenkstätte. Im Workshop wurde überwiegend über (digitale und analoge) Reproduktionen gesprochen, die in der Ausstellung auf vielfältige Weise präsentiert werden können. Der Begriff des Originals ist bei dem auf Reproduzierbarkeit angelegten Medium der Fotografie auch ein relativer. Dennoch liegen visuelle Überlieferungen in unterschiedlichen (und unterschiedlich empfindlichen) Ausgangsträgermaterialien vor – oder werden in Zukunft genuin digital sein. Die archivgerechte Lagerung von Fotografien ist im Vergleich zu Dokumenten aufwendiger und kostspieliger – von der digitalen Langzeitarchivierung einmal abgesehen. Zu einem Konzept der neugeplanten Gedenkstätte gehört es daher auch zu überlegen, wie die Fotografische Sammlung zukünftig bewahrt, erhalten, nachgenutzt und in der neuen Ausstellung eingesetzt werden kann. Entsprechende Ressourcen sind dafür einzuplanen.
Konferenzübersicht:
Begrüßung
Barbara Rüschoff-Parzinger (LWL-Kulturdezernentin) und Malte Thießen (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster)
Sektion 1: Visuelle Überlieferung zu Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit
Moderation: Falk Pingel (Gegen Vergessen – für Demokratie, Bielefeld)
Timo Nahler (LWL-Medienzentrum, Münster): Sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter:innen in fotografischer Überlieferung in Westfalen – ein Werkstattbericht
Axel Bangert (Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main): Zwischen Unterwerfung und Annäherung: Sowjetische Kriegsgefangene in Bildern von der Heimatfront
Sektion 2: Der Umgang mit der visuellen Überlieferung in der Gedenkstätte Stalag 326 (VI K) Senne
Moderation: Andreas Neuwöhner (Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Paderborn)
Oliver Nickel (Gedenkstätte Stalag 326, Stukenbrock): Der Umgang und der Einsatz von Bildquellen am Beispiel des Fördervereins Gedenkstätte Stalag 326 (VI K) Senne
Jens Hecker (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster): Von Verfolgten zu Akteur:innen. Ein Quellenbestand des Fördervereins mit (post-)sowjetischer Provenienz
Sektion 3: Wie können visuelle Überlieferungen in einer zukünftigen Gedenkstätte einbezogen werden?
Moderation: Christina Morina (Universität Bielefeld)
Christine Glauning (Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide): Der Umgang mit bildlichen Quellen im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit
Babette Quinkert (Deutsch-Russisches Museum Karlshorst): Fotografien sowjetischer Kriegsgefangener – kuratorische Aspekte
Ksenja Holzmann (Landeszentrale für politische Bildung Bremen, Denkort Bunker Valentin) und Jennifer Farber (Arbeitskreis Räume Öffnen, Dortmund): Perspektiven auf den Umgang mit visuellen Quellen in der Vermittlung
Reflexion und Abschlussrunde
Moderation: Markus Köster (LWL-Medienzentrum, Münster)
Anmerkung:
1https://sites.google.com/site/stalag326/.