HT 2021: Contested Visions of Europe in Israeli History

HT 2021: Contested Visions of Europe in Israeli History

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2022 - 08.10.2022
Url der Konferenzwebsite
Von
Tom Würdemann, Heidelberg Center for Transcultural Studies

Die Geschichte der kulturellen und politischen Beziehungen Israels mit Europa ist lang und kompliziert. Geografisch ist der jüdische Staat Teil des Nahen Ostens. Durch die langanhaltend feindschaftlichen Beziehungen zu den meisten Nachbarstaaten hat Israel auch eine lange Geschichte der institutionellen Bindungen an Europa. Dennoch ist Israel kein ‚europäisches‘ Land. Demografisch, kulturell und politisch hat Israel mehr Gemeinsamkeiten mit seinen Nachbarstaaten als viele Israelis – oder ihre Nachbarn – zugeben wollen. In diesem Panel wurden kontroverse israelische Vorstellungen von ‚Europa‘ analysiert, und wie diese Vorstellungen die israelisch-europäischen Beziehungen prägen.

ORIT ROZIN (Tel Aviv) analysierte die Bezugnahme auf ‚europäische Zivilisation‘ in israelischen Debatten des ersten Jahrzehnts nach der Staatsgründung im Kontext von Diskussionen um das israelische Rechtssystem. „Having a European Identity in Mind“ sei für die Generation der Staatsgründung eine Erfolgsbedingung des neuen Staates gewesen. Die jüdische Tradition sei explizit zurückgewiesen worden, und die „medina metukenet“, der gut funktionierende und zivilisierte Staat, stellte das politisch-kulturelle Ideal dar. Bis zu den 1970er-Jahren, als die USA die Referenzfunktion übernahmen, seien vor allem Frankreich und England Vorbilder gewesen.

Beispielhaft hierfür erforscht Rozin die Diskussion um die Todesstrafe und das „Gesetz zur Verhinderung von Infiltration“ in den frühen 1950er-Jahren. Die Diskussion dieser Rechtsfragen in der israelischen Politik habe um die Frage der zivilisatorischen Rechtfertigungsgrundlage gekreist. Hierbei hätten Europa-Bezüge eine zentrale Rolle gespielt. In den passionierten Debatten um die Abschaffung der Todesstrafe in Israel habe Justizminister Pinchas Rosen wiederholt „fortschrittliche“ und „zivilisierte“ Staaten Westeuropas als natürliche Vorbilder Israels zitiert, und die Todesstrafe mit einem Mangel an Zivilisation („Blutrache“) assoziiert. Die Zurückweisung des „rächenden“ Motivs war bestimmend für die Argumentation gegen die Todesstrafe.

Die Gegner der Abschaffung wie Verteidigungsminister Pinchas Lavon hätten in ähnlicher – aber umgekehrter – Weise argumentiert: Europäischer „Idealismus“ und moralische „Abstraktion“ seien untauglich um in der feindlichen, arabischen Umgebung zu bestehen. Der Krieg verlange Härte und Kompromisslosigkeit. Rozin sieht hier ein Element kolonialen Denkens: In einer unzivilisierten Umgebung könne Israel sich Zivilisation nicht leisten, Gewalt und Brutalität seien notwendige Zugeständnisse an die Gegebenheiten.

Nachdem 1955 zwei israelische Geheimagenten in Ägypten gehenkt worden waren, wurden in Israel Rufe nach Vergeltung laut, und die Diskussion um die Todesstrafe wurde erneut geführt. Erneut waren es zivilisatorische Bezüge, die ein zentrales Gegenargument bildeten: Israel sei kein nahöstliches, „levantinisches“ Land, und könne Rache nicht zum Teil des Gesetzes machen. Schlussendlich endete die Diskussion um die Todesstrafe 1956 mit einem Machtwort David Ben-Gurions, der sie als „undenkbar“ verwarf.

Im zweiten Vortrag beschäftigte sich JENNY HESTERMANN (Frankfurt am Main) mit der Frage israelischer Europabilder im 20. Jahrhunderts. Die Metapher von Israel als der demokratischen „Villa“ im „Dschungel“ der arabischen Welt, die Ehud Barak in den 1990er-Jahren prägte, steht stellvertretend für eine Facette israelischer Selbst- und Europabilder. Diese Bilder, so Hestermann, seien in einem beständigen Transformationsprozess, oft konflikthafter Natur. Sie hätten die Debatten des Zionismus von Anfang an geprägt, und übten noch heute großen Einfluss auf die politische Kultur Israels aus. Hestermanns Fragestellung ist, wie die Bilder von Europa sowohl als Kontinent wie auch als Kulturraum sich über die Zeit verändert hätten, und wie sie die israelisch-europäischen Beziehungen geprägt hätten. Ein Fokus liege auf dem noch diasporisch geprägten zionistischen Blick vor der Staatsgründung, ein anderer auf dem durch zwischenstaatliche Beziehungen bestimmten Europabild nach der israelischen Unabhängigkeit.

Hestermann formulierte zwei Kernthesen: Erstens, der israelische Europadiskurs war stets ein Elitenprojekt aschkenasisch-stämmiger Intellektueller. Zweitens: je konkreter der Zionismus, später der Jischuv und schließlich der Staat Israel wurden, desto stärker wurde der Europadiskurs durch politische Praktikabilität und Opportunität bestimmt.

Die Attitüde des ursprünglichen Zionismus gegenüber Europa sieht Hestermann im Buchtitel „Glorious Accursed Europa“ von Reinharz und Shavit gut zusammengefasst; die Zionisten sahen sich gleichzeitig als Europäer wie als verfolgte, aus Europa fliehende Minderheit. Obwohl der Zionismus die Diaspora negierte, sei die zivilisatorische Zugehörigkeit zu Europa stets Teil seines Diskurses geblieben, insbesondere im deutschen Zionismus.

Nach der Staatsgründung seien europäische Elemente zu Kernbestandteilen des neuen Staats geworden: Britische Kolonialgesetze seien übernommen worden, das israelische Universitätssystem dem deutschen nachempfunden. Teil dieser Institutionalisierung sei die Diskriminierung der nicht-europäischstämmigen Juden in Israel gewesen. Diese seien qua Herkunft aus dem ambivalenten Europa-Diskurs, der ein zentrales Trauma (die Shoah) und ein Gefühl zivilisatorischer Zugehörigkeit beinhaltete, ausgeschlossen geblieben. Ausgehend davon beschreibt Hestermann zwei israelische Kerndiskurse zu Europa: erstens die Annäherung an Europa in der Regierungszeit von Mapai, insbesondere unter David Ben-Gurion. Damals sei versucht worden, Israel zu einem außereuropäischen Teil Europas zu formen, der mit dem Kontinent Europa auf Augenhöhe und in zivilisatorischer Intimität verkehren könne. Damit verbunden war die Vorstellung von Bündnissen wie auch enger wirtschaftlicher Kooperation. Ab den 1970er-Jahren jedoch hätte dieses Zugehörigkeitsgefühl sich in Richtung der USA verschoben. Zweitens: Das mizrahische Empowerment – die so genannte Mahapach (Revolution) in den 1970er- Jahren, die sich zunächst vor allem in Wahlergebnissen und dem Sturz der Arbeiterpartei niederschlug. Die Ziele dieser Bewegung waren praktischer Natur – Verbesserung der Lebensbedingungen mizrahischer Israelis – aber veränderten auch die politischen Verhältnisse nachhaltig; die eurozentrische Hegemonie wurde gebrochen.

Abschließend illustrierte Hestermann ihre These, Israel solle nicht als europäischer Außenposten betrachtet werden, mit Beispielen vom Aussterben der letzten Archipele „europäische“ Kultur in Israel, wie dem Ende der „jeckischen“ Café-Kultur in Tel Aviv. Gleichzeitig betonte Hestermann, dass die israelisch-europäischen Beziehungen keineswegs am Ende oder in einer Sackgasse angekommen seien; so würde die Zunahme von doppelten Staatsbürgerschaften (israelisch/europäisch) eine neue Ebene der Beziehungen zu Europa darstellen.

DANIEL MAHLA (München) untersuchte kulturhistorisch am Beispiel des Eurovision Song Contest Aushandlungsprozesse der europäisch-israelischen Beziehungen. Die Kernthese ist dabei, dass die israelischen Beiträge und die gesellschaftliche Reflexion des ESC als Spiegelbilder der europäisch-israelischen Beziehungen gelesen werden könnten. Trotz des schlechten Leumunds der Veranstaltung in Bezug auf ihren künstlerischen Wert erlaube sie einen Einblick in israelische Europa- und Selbstbilder und könne als kultureller Kommunikationskanal Israels zu Europa betrachtet werden.

Die israelische Teilnahme am ESC sei bereits eine Besonderheit; denn Israel ist kein geografischer Teil Europas. Die erste Teilnahme Israels fand im Jahr 1973 statt, doch zu einem breiten Massenphänomen wurde der ESC 1978, als Izhar Cohen den Wettbewerb gewinnen konnte, und Israel dadurch für das nächste Jahr zum Gastgeber wurde. Das Motto des Songcontest 1979 war – in Einklang mit dem jüngst erfolgten Camp-David-Abkommen – der „Frieden“.

In den 1980er-Jahren, die von schlechten europäisch-israelischen Beziehungen gekennzeichnet waren, habe Israel dagegen patriotische Beiträge zu den Wettbewerben, wie z.B. „Am Yisrael Chai“ – „Das Volk Israels lebt“ nach München 1982 geschickt. In den 1990er-Jahren seien die israelischen Beiträge, bedingt durch den Friedensprozess, optimistischer geworden. Stellvertretend dafür könne der Sieg von Dana International 1998 gesehen werden. Die transsexuelle Künstlerin mit ihrem Anspruch, Araber und Juden gleichermaßen zu vertreten, symbolisiere das liberale Selbstbild der israelischen Gesellschaft, die ihre Offenheit für LGBT-Rechte ebenso wie den Fortschritt des Friedensprozesses in Europa habe präsentieren können.

Nach der zweiten Intifada im Jahr 2000 und dem Verfall der Friedensverhandlungen sei der Optimismus einer negativen Stimmung in den meisten israelischen Beiträgen gewichen. Die 2010er-Jahre hätten – folgend dem Trend zur Kommerzialisierung des Wettbewerbs – Beiträge hervorgebracht, die wie Werbeanzeigen der israelischen Tourismusindustrie anmuten. Die Beziehung zu Europa habe – vergleichbar der israelischen Wende zu unilateraler Politik – weniger eine Rolle in den Beiträgen gespielt. Der bis dato letzte israelische Sieg beim ESC – 2018 durch Netta Barzilai – habe eine feministische Botschaft kommuniziert, der Nahostkonflikt jedoch keine Rolle mehr gespielt.

Abschließend, erklärt Mahla, sei es falsch, durch den ESC Israel als Teil Europas zu betrachten. Eher stelle der ESC einen Aushandlungs- und Darstellungsprozess gegenüber dem durchaus nicht nur positiv betrachteten Kontinent dar. Trotz politischer Kompromisse und bleibendem Antisemitismus zeige jedoch die mit vier Siegen erfolgreiche Teilnahme Israels, dass Israel ein erfolgreiches Mitglied der „Eurotrash-Familie“ geworden sei.

JOHANNES BECKE (Heidelberg) stellte ein Phasenmodell der israelischen Kreolisierung vor, also einer kulturellen ‚Indigenisierung‘ Israel im Nahen Osten und der Verschmelzung verschiedener kultureller Bestandteile (jüdisch, arabisch, europäisch) miteinander: „It ain’t Europe here“. Der theoretische Frame der Kreolisierung, der bislang selten auf Israel angewandt worden sei, befinde sich in Einklang mit zentralen bisherigen Frames der israelischen und jüdischen Geschichte, und erlaube einen fruchtbaren Vergleich mit anderen Fallbeispielen von kultureller Vermischung außerhalb des Mittleren Ostens.

Die zentralen Frames der Historiographie zu Israel sind laut Becke erstens das Überleben bedrohter jüdischer Kulturen in Israel, zweitens die Erschaffung einer neuen Gesellschaft und drittens der Vorwurf der Aneignung fremder kultureller oder materieller Güter. Dem möchte Becke die Kreolisierung hinzufügen, die die Transkulturierung Israels als Ergebnis vom Überleben des Alten, der Erschaffung des Neuen und der Aneignung des Fremden ansieht. Nach einer Definition von „Kreolisierung“ beschrieb Becke, dass Transkulturierung im emischen jüdisch-israelischen Diskurs stets umstritten gewesen sei und z.T. als „Levantinisierung“ abgelehnt wurde. Den Kern seines Arguments stellt ein Periodisierungsmodell dar:

Erstens: In der palästinensisch-aschkenasischen Verschmelzung (1882-1948) hätten die europäischen Siedler sich – durchaus bewusst – an die vorherrschende arabische Kultur angepasst, was sie als Ausdruck ihrer eigenen Indigenität und des Abstands zu Europa ansahen. Zweitens: Nach der Staatsgründung habe Israel eine Phase der europäischen Hegemonie (1948-1977) erlebt, in der Araber und nicht-europäischstämmige Juden unter der Vorherrschaft einer Elite gestanden hätten, deren Ziel die Anpassung Israels an „westliche“ Kultur und die Abgrenzung von der geografischen Umwelt gewesen sei. Drittens habe das mizhraische Empowerment (1977-heute) der zahlenmäßig größeren Gruppe nicht-europäischstämmiger israelischer Juden Phase beendet und eine israelische Kultur erschaffen, deren Mainstream geprägt sei von der Transkulturierung von Elementen aus allen israelischen Bevölkerungsgruppen. Viertens hätten postsowjetische Nachzügler oder „Homo Sovieticus in der Levante“ eine weitere kulturelle Facette hinzugefügt – sowohl durch Enklavenbildung wie auch durch Eingliederung in die israelische Gesellschaft. Fünftens habe eine kreolische Konsolidierung dieser unterschiedlichen Elemente schlussendlich eine stabile, transkulturierte israelische Kultur erschaffen.

Als Fallstudien für dieses Konzept führt Becke das israelische Hebräisch an, das verschiedenste Einflüsse (aus dem Russischen, arabischen Dialekten, dem Jiddischen) nicht verbergen könne. Weiterhin die jüdisch-israelische Musik – die ursprünglich osteuropäische und arabische Elemente fusioniert und im Zeitalter der europäischen Hegemonie sich an Europa orientiert habe, und mittlerweile stark nahöstlich geprägt sei. Auch die israelische Küche habe sich eine „europäische“ Charakteristik nur in elitären Inseln bewahrt, und sei heute größtenteils eine kreolisierte Mischung aus nahöstlichen, nordafrikanischen und europäischen Küchen. Schlussendlich sei auch das israelische Judentum bis heute von osmanischen Religionsinstitutionen geprägt, habe sich nie unter westliche Säkularitätsvorstellungen untergeordnet, und habe besonders in der mizrahischen und aschkenasischen Ultraorthodoxie eine transkulturalisierte Form gefunden.

Abschließend erläuterte Becke, dass die aschkenasische Hegemonie kulturell schneller erodiert sei als politisch, was zeige, dass Elitensteuerung von Transkulturalisierung nur schwer möglich sei. Ferner sei die israelische Kreolisierung kein abgeschlossener Prozess, sondern könne durch Migration westlicher Juden oder verstärkten Kontakt zur arabischen Bevölkerung neue Phasen durchlaufen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Daniel Mahla (München)

Moderation: Miriam Rürup (Potsdam)

Orit Rozin (Tel Aviv): Having an European Identity in Mind

Jenny Hestermann (Frankfurt am Main): From Europe but not in Europe? Changing images of Europe in Israeli discourse from the 1950s to the 1970s

Daniel Mahla (München): A Member of the Euro(trash) Family? European-Israeli Relations through the Lens of the Eurovision Song Contest

Johannes Becke (Heidelberg): It ain’t Europe Here: A Creolization Perspective on Jewish-Israeli Indigenization


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