Die mittelalterliche Bibliothek der Reichsabtei Corvey. Bestände, Forschungsstand, Perspektiven

Die mittelalterliche Bibliothek der Reichsabtei Corvey. Bestände, Forschungsstand, Perspektiven

Organisatoren
DFG-Projekt „Die mittelalterlichen Buchhandschriften der Klosterbibliothek Corvey digital: Andrea Wolff-Wölk, Universitätsbibliothek Marburg / Hans-Walter Stork, Erzbischöfliche Akademische Bibliothek Paderborn; Mainzer Akademieprojekt „Handschriftencensus“: Jürgen Wolf / Nathanael Busch
Ort
digital (Marburg)
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.05.2021 - 28.05.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Magdalena-Maria Berkes, Institut für Mittelalterliche Geschichte, Philipps-Universität Marburg

Die Geschichte der Bibliothek der Reichsabtei Corvey beginnt bereits im 9. Jahrhundert. Sie zählte bis weit in das 12. Jahrhundert hinein zu den bedeutsamsten Klosterbibliotheken in Mitteleuropa. Hauptanliegen des Workshops waren die Verbindung interdisziplinärer Fragestellungen zum Bestand der Bibliothek und Perspektiven für die virtuellen mittelalterlichen Bibliotheksbestände. Mit 24 Vortragenden und mehr als 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus zwölf Ländern erfuhr der Workshop internationale Aufmerksamkeit.

Die umfangreichen Bestände aus Corvey befinden sich heute in zahlreichen Einrichtungen weltweit. Die Unibibliothek Marburg und die Erzbischöfliche Akademische Bibliothek Paderborn haben es sich zum Ziel gesetzt, im Rahmen des DFG-Projekts die zwei größten noch zusammenhängenden Handschriftenkonvolute zu digitalisieren und zusammen mit dem weiteren Streubesitz auf einem „Corvey-Portal“ digital zusammenzuführen, das Ende November 2021 online ging1.

Die Tagungsbeiträge wurden im Vorfeld als 20-30minütige Videopodcasts für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops bereitgestellt. Ein Teil der Videos ist online auf dem Publikationsserver der UB Marburg verfügbar2.

Die 1. Sektion war dem Weg von Corbie nach Corvey gewidmet. Besonders die Beziehung zwischen Mutter- und Tochterkloster und die Frage, anhand welcher Aspekte diese Beziehungen ergründet und analysiert werden können, standen im Zentrum. MAYKE DE JONG (Utrecht) eröffnete die Tagung mit einem Beitrag über die Beziehung Corveys zum Mutterkloster Corbie aus der Sicht des Paschasius Radbertus und seines „Epitaphium Arsenii“. DAVID GANZ (Cambridge) legte einen vertiefenden Schwerpunkt auf die Corbie-Handschriften, die in Corvey geschrieben wurden. YANICK STRAUCH (Marburg) erläuterte das Kämmereramt in den Klöstern Corbie und Corvey im frühen Mittelalter. Eingehend analysiert wurde Adalhards von Corbies Verständnis vom Kämmereramt.

Die 2. Sektion konzentrierte sich auf die Schriftlichkeit in Corvey. NORBERT KÖSSINGER (Magdeburg) betrachtete Corvey als Schreibort von Volkssprache vom 9. bis zum 12. Jahrhundert. Er bot eine Bestandsaufnahme von Handschriften mit volkssprachigen Anteilen und differenzierte zwischen Schrift- und Bibliotheksheimat Corvey. PATRIZIA CARMASSI (Wolfenbüttel) untersuchte die Verwendungsspuren in mittelalterlichen Handschriften aus Corvey mit besonderem Augenmerk auf Notarzeichen, Marginalglossen sowie Blindglossen. Über Abt Wibald von Stablo und sein Schreib- und Bücherzimmer berichtete BENJAMIN POHL (Bristol), der eine Verbindung zwischen der materiellen wie ideellen Bedeutung der Handschriften und ihrem Aufbewahrungsort für die Mönche schaffte.

ANNA EBEL und LEAH ROLLNY präsentierten anhand von Postern zwei Corveyer Handschriften, die über einzelne Zwischenstationen aus Corvey bis in die Marburger Universitätsbibliothek gelangt sind. Besonderes Augenmerk legten sie auf das Verhältnis zwischen Schreiber und Kompilator und die damit verbundene Frage der Überlieferungschancen.

In Sektion 3 ging es um herausragende Corveyer Bücher, Texte und Quellen. HANS-WALTER STORK (Paderborn) widmete sich dem berühmten Tacitus-Manuskript, das als einziges den Anfang der Annalen überliefert. Nach diesem Sensationsfund im Kloster Corvey wurde das Manuskript gestohlen, gelangte auf ereignisreichem Weg nach Italien und erlebte dort seine ganz eigene Sensationsgeschichte bis hin zu teils abenteuerlichen Raubdrucken im 16. Jahrhundert. SAYAKA ANDO (Tokio) konzentrierte sich auf das Erbe der karolingischen Initialenornamentik. Konkret ging es um Zierseiten der illuminierten Handschriften aus Corvey. STEPHANIE WESTPHAL (Wolfenbüttel) stellte die Corveyer Buchmalerei im 10. Jahrhundert und ihre karolingischen Vorbilder vor. Als anschauliches Beispiel diente ihr das Evangeliar aus Clus. Eine enge Verbindung zu diesem Evangeliar wies KATERINA KUBÍNOVÁ (Prag) nach, die ein Prager Evangeliar in den Mittelpunkt der Untersuchung stellte. Aus kunsthistorischer Perspektive konnte dabei die Beziehung von Corbie und Corvey und deren Wirkung über diese beiden Klöster hinaus buchstäblich sichtbar gemacht werden.

In Sektion 4 gab MARCO KRÄTSCHMER (Marburg) einen Einblick in die Regularis disciplinae districtio und widmete sich der Einführung der Hirsauer Reformen im Kloster Corvey unter Abt Markward widmete. ADRIEN QUÉRET-PODESTA (Warschau) dienten die „Kurzen Magdeburgischen Annalen“ und ihre Handschrift als Quellengrundlage, um der Frage nachzugehen, inwiefern sich Kontakte des Klosters bis nach Ostmitteleuropa nachweisen lassen. NATALIE NEUHAUS (Herne) verlegte den Schwerpunkt auf die Frage nach möglichen Anknüpfungspunkten früherer digitaler Projekte wie Nova Corbeia an das laufende DFG-Projekt. Ebenso erweiterte sie den Blick auf die Zeit der Druckschriften. EVA SCHLOTHEUBER (Düsseldorf) führte die Diskussionen zur Frage mittelalterlicher Bibliotheken und ihrer digitalen Wissensordnung weiter. Die bisweilen hitzigen Diskussionen machten die Herausforderungen digitaler Projekte deutlich: die Sicherstellung bereits erfasster Daten, ihre Langzeitarchivierung und ihre Weiternutzung.

Die folgenden Sektionen konzentrierten sich auf die Fragen der Digitalisierung, Katalogisierung und Rekonstruktion historischer Bibliotheken. Es wurde ersichtlich, dass gerade in diesen Bereichen großer Handlungsbedarf besteht. Digitale Projekte müssen dauerhaft im Netz verbleiben, und ihre Nachhaltigkeit muss sichergestellt werden. Es bedarf auch einer vor allem technischen Vernetzung der digitalen Projekte untereinander, die zudem gepflegt und stetig aktualisiert werden müssen. Schließlich sollte den Nutzer:innen dieser Oberflächen ein möglichst breitgefächertes Angebot zugänglich gemacht werden. Auch die Bibliotheken als Institutionen, gleich ob mit universitärer Anbindung oder als Diözesanbibliotheken und Archive, sollten sich vermehrt untereinander vernetzten.

In Sektion 5 beschrieb MECHTHILD BLACK-VELDRUP (Münster) die bereits weit fortgeschrittene Digitalisierung der Corveyer Urkunden, Akten und Handschriften des Landesarchiv NRW, die online über „Archive in Nordrhein-Westfalen“ einsehbar sind. Sie plädierte für ein Themenportal Corvey, das fächer- und institutionenübergreifend miteinander vernetzt sein und auch weitere Institutionen wie Museen und Einrichtungen der Denkmalpflege einschließen sollte. GRIGORII BORISOV (Tübingen) erinnerte an die Schwierigkeiten, die sich bei der Erfassung eines frühmittelalterlichen Bibliotheksbestandes ergeben und analysierte sehr anschaulich eine Corveyer Handschriftenliste von 822 bis ca. 1100. JÜRGEN GEISS-WUNDERLICH (Berlin) schlug eine Brücke zurück zur Digitalisierung und Katalogisierung mittelalterlicher Handschriften am Beispiel der Corveyer Handschriften, die in der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek Paderborn liegen und die zur Zeit in einem weiteren DFG-Projekt in Berlin katalogisiert werden.

ALEXANDER VIELHAUER und ALEXANDER MAUL (beide Marburg) gaben in Sektion 6 einen ausführlichen Werkstattbericht über das Marburger Corvey-Projekt. Welche Anforderungen stellen Nutzer:innen an ein solches digitales Portal, was kann optimiert werden, wo ergeben sich (technische) Schwierigkeiten? Besonders die Frage nach der genutzten Technik im Hintergrund eines solchen Portals wurde rege diskutiert. Wie soll mit den Metadaten verfahren werden, um welche Funktionen können diese erweitert werden, welche Viewer und Suchfilteroptionen bieten sich besonders an? NADINE SUTOR (Wuppertal) stellte mit der Düsseldorfer Kreuzherrenbibliothek ein weiteres Digitalisierungsprojekt mittelalterlicher Handschriften vor und präsentierte erste Ergebnisse. Aus diesem Projekt konnten wertvolle Impulse für den technischen Aufbau gewonnen werden. Die Diskussionen behandelten auch die Begrenztheit von Zeit, Personal und finanziellen Ressourcen bei digitalen Projekten, die darum nicht immer eine sofortige Realisierung gewünschter Funktionen erlauben. Letztlich hat eine virtuelle Bibliothek primär die Sichtbarmachung ihrer Sammlungen im Fokus, um ihren Nutzer:innen einen möglichst uneingeschränkten Forschungsdiskurs zu ermöglichen. KLAUS GRAF (Aachen) präsentierte weitere Problemfelder, die mit der Digitalisierung von Handschriften zum einen und der Internetpräsentation solcher Projekte zum anderen zusammenhängen, die ihren Schwerpunkt auf die Digitalisierung von Handschriften legen. IRIS BUNTE (Siegen) hielt ein Plädoyer für die Notwendigkeit eines verstärkten Netzwerks innerhalb der Projekte, deren Schwerpunkte auf der Digitalisierung liegen. Sie betonte, dass dies keinesfalls zu Lasten der Nutzer:innen geschehen dürfe. Mit benutzerfreundlichen Oberflächen und einer einfachen, aber vor allem effizienten Handhabung sollen Homepages, Digitalisate und weiterführende Angebote und Links auf eine Weise präsentiert werden, die die Forschung nicht behindert, sondern zielführend weiterbringt.

Die Abschlussdiskussion fasste die wesentlichen Ergebnisse der Tagung zusammen und zeigte die generelle Sehnsucht vieler digitaler Projekte, sich stärker untereinander zu vernetzen und zusammenzuarbeiten. Es bleibt zu wünschen, dass dies in Zukunft verstärkt angegangen wird.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Von Corbie nach Corvey

Mayke de Jong (Utrecht): Eine Tochter gewinnen und verlieren: Corbie und Corvey aus der Sicht von Paschasius Radbertus

David Ganz (Cambridge): Corbie-Handschriften in Corvey

Yanick Strauch (Marburg): Aspekte des Kämmereramtes in den Klöstern Corbie und Corvey im frühen Mittelalter

Sektion 2: Schreiben und Lesen in Corvey

Norbert Kössinger (Magdeburg): Corvey als Schreibort von Volkssprache im Frühmittelalter (9.-12. Jahrhundert)

Patrizia Carmassi (Wolfenbüttel): Librorum lectio: Verwendungsspuren in mittelalterlichen Handschriften aus Corvey

Benjamin Pohl (Bristol): Abt Wibalds Schreib- und Bücherzimmer – die Regel oder ein Sonderfall?

Anna Ebel und Leah Rollny (Marburg): Posterpräsentationen

Sektion 3: Corveyer Bücher, Texte und Quellen I

Hans-Walter Stork (Paderborn): Tacitus in Corvey

Sayaka Ando (Tokio): Das Erbe der karolingischen Initialenornamentik: Zierseiten der illuminierten Handschriften aus Corvey

Stefanie Westphal (Wolfenbüttel): Die Corveyer Buchmalerei im 10. Jahrhundert und ihre karolingischen Vorbilder. Beobachtungen ausgehend vom Evangeliar aus Clus (Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 84.3 Aug. 2o)

Katerina Kubínová (Prag): Das Prager Evangeliar Cim 2. Woher und warum kam es nach Corvey?

Sektion 4: Corveyer Bücher, Texte und Quellen II

Marco Krätschmer (Marburg): Regularis disciplinae districtio: „Reform“ im Reichskloster Corvey – die Hirsauer Consuetudines im Cod. Paderborn, Erzbischöfliche Akademische Bibliothek, Hux. 25

Adrien Quéret-Podesta (Warschau): Die sog. Kurzen Magdeburgischen Annalen und ihre Handschrift als Zeuge des Verkehrs der Corveyer Quellen in Ostmitteleuropa

Natalie Neuhaus (Herne): Druckschriften im Kloster Corvey

Eva Schlotheuber (Düsseldorf): Mittelalterliche Bibliotheken und (digitale) Wissensordnung – zur Aktualität einer alten Forschungsfrage

Sektion 5: Digitalisierung, Katalogisierung und Rekonstruktionen historischer Bibliotheken I

Mechthild Black-Veldrup (Münster): Verwahrung und Digitalisierung: Corveyer Urkunden, Akten und Handschriften im Landesarchiv NRW

Grigorii Borisov (Tübingen): Die ältesten Handschriften aus Corvey: Probleme der Erfassung des klösterlichen Bibliotheks- und Archivbestandes und neue Funde. Mit einer Arbeitsliste der Corveyer Handschriften 822–1000.

Jürgen Geiß-Wunderlich (Berlin): Die Forschung fest im Blick – Digitalisierung und Katalogisierung mittelalterlicher Handschriften am Beispiel der Corveyer Handschriften der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek Paderborn

Sektion 6: Digitalisierung, Katalogisierung und Rekonstruktionen historischer Bibliotheken II

Alexander Vielhauer und Alexander Maul (Marburg): Werkstattbericht „Die mittelalterlichen Buchhandschriften der Klosterbibliothek Corvey digital“

Nadine Sutor (Wuppertal): Die Düsseldorfer Kreuzherrenbibliothek – Rekonstruktion, vergleichende Analyse und erste Ergebnisse eines Digitalisierungsprojekts

Klaus Graf (Aachen): Nova Corbeia et al. – was bei virtuellen Rekonstruktionen von Klosterbibliotheken alles schief gehen kann

Iris Bunte (Siegen): Digitalisierung und DNA – ein Plädoyer für eine verstärkte Netzwerk- und Nutzerforschung

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1https://corvey.ub.uni-marburg.de.
2https://archiv.ub.uni-marburg.de/ubfind/Record/urn:nbn:de:hebis:04-es2021-0004.


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