Ko-Transformation nach 1990

Ko-Transformation nach 1990

Organisatoren
Marcus Böick, Ruhr-Universität Bochum / Institute of Advanced Studies / GHI London; Constantin Goschler, Ruhr-Universität Bochum; Ralph Jessen, Universität zu Köln
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.10.2021 - 30.10.2021
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Von
Thorben Pieper, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Die Transformationszeit in Ostdeutschland nach 1990 rückt in der letzten Zeit zunehmend in den Fokus der historischen Forschung. Ein von Marcus Böick, Constantin Goschler und Ralph Jessen organisierter Workshop widmete sich nun dem von Philipp Ther ins Spiel gebrachten Begriff der „Kotransformation“1, welcher während der Veranstaltung einem multiperspektivischen „Praxistest“ unterzogen wurde. Im Vergleich zum Verständnis der Transformation als einseitige Angleichung Ostdeutschlands an den Westen thematisierte Philipp Ther mit der Kotransformation die zahlreichen Interaktionen und Rückwirkungen zwischen den postsozialistischen Umbruchsprozessen in den Ländern des ehemaligen „Ostblocks“ und dem Westen.

In seiner einleitenden Keynote präzisierte PHILIPP THER (Wien) noch einmal seine Idee der „Kotransformation“, indem er den Begriff, das Konzept sowie empirische Beispiele präsentierte, diese kritisch hinterfragte sowie anhand verschiedener subdisziplinärer Forschungsrichtungen – der Intellectual History, der Politikgeschichte und der Sozialgeschichte – erläuterte. Das Konzept der „Kotransformation“ sollte in eine „multivektorale Kausalanalyse“ eingebettet werden, die unterschiedliche Richtungen und wechselnde Intensitäten des Austauschs transparent machen müsse. Zugleich sollte die Perspektive – neben der Kommunikation und Interaktion mit der postkommunistischen Welt – um die globale Ebene ergänzt werden.

In seinem Kommentar fragte RALPH JESSEN (Köln) nach der konkreten Definition des Begriffs, nach der zeitlichen Erstreckung des Untersuchungszeitraums, die das Konzept abdecken könnte, und nach seiner Relevanz in Konkurrenz zu anderen relevanten Umbrüchen bzw. Phänomenen wie dem Klimawandel sowie nach dem Verhältnis von Struktur, Deutung und Erfahrung im Kontext der Kotransformation. MARCUS BÖICK (London/Bochum) forderte in seinem anschließenden Kommentar, dass dem gewaltig wirkenden Begriff der Kotransformation durch Verfeinerungen die Urgewalt genommen und sein Potential verdeutlicht werden sollte. Ebenso stellte er den Begriff des Neoliberalismus in den Fokus der Diskussion, der oft wie eine „Blackbox“ wirke und kritisch historisiert werden solle, und stellte zudem den Begriff der individuellen „Selbst-Transformation“ heraus.

Das erste Panel zum Thema „Wirtschaft und Strukturwandel“ eröffnete ANDRÉ STEINER (Potsdam) mit Ausführungen zur Zeiss-Krise 1994/95. Anhand der Entwicklung der beiden Zeiss-Unternehmen konstatierte er, dass das Konzept der Kotransformation in diesem Fall nicht anwendbar sei, jedoch wichtige Diskussionen angestoßen habe. DIETMAR SÜß (Augsburg) analysierte mit dem Konzept der Kotransformation die Sozialdemokratie nach 1989 und beschrieb in diesem Kontext deren Transformationsprozess weniger als „neoliberal“, denn als „neosozial“. Wie schon Marcus Böick forderte Süß dazu auf, nach den Graustufen von Begriffen und Konzepten, wie zum Beispiel dem des Neoliberalismus, zu fragen. STEFAN BERGER (Bochum) lotete das Konzept der Kotransformation am Beispiel des Strukturwandels im Ruhrgebiet aus, bei dem im Kontext des deutschen Vereinigungsprozesses kaum Rückwirkungen aus dem Osten Deutschlands sichtbar gewesen seien. Wenngleich Kontakte und Austausch vorhanden waren, existierte, so Berger, kein Struktur- oder Ideentransfer von Ost nach West. In ihrem Kommentar plädierte SILKE MENDE (Münster) zum einen für eine Präzisierung des Untersuchungszeitraums, der teilweise ausgeweitet werden könnte, sowie zum anderen für eine detaillierte Untersuchung einzelner Transferleistungen. Die Umbrüche in West- und Osteuropa könnten so zusammengebracht werden. Zugleich sei bei der Analyse jedoch darauf zu achten, dass es sich bei einem einseitigen Ost-West-Transfer noch nicht um eine Kotransformation handele.

Das zweite Panel über Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen eröffnete ANNE KREMER (Mannheim) mit einem Beitrag zur Geschlechterpolitik in der IG Metall. Kotransformation habe sich in der Frauenförderung der Metallgewerkschaft als Wissens-Transfer bzw. Wandel der Wissensbestände geäußert. Die Interaktion zwischen Ost und West hätte sich, so Kremer, dabei weniger in einer gemeinsam transformierten Praxis manifestiert, sondern vielmehr in einer Angleichung an die Gegebenheiten im Westen. CHRISTIAN RAU (Berlin) unterstrich in seinen Beobachtungen zur IG Metall vor und nach 1989 den konzeptionellen Nutzen des Begriffs der Kotransformation: Zum einen würde er den bislang west-zentrierten Blick auf die Gewerkschaftsgeschichte öffnen und verkürzende Deutungen, die die Gewerkschaften als „Verlierer der Einheit“ darstellen, relativieren. Zum anderen wies Rau auf die Flexibilität des methodischen Zugangs hin, der je nach Fragestellung angepasst und ergebnisoffener auf die wechselseitigen Verflechtungen und Interaktionen bezogen werden sollte. Am Beispiel der Gewerkschaft der Polizei und der Gewerkschaft der Volkspolizei im Einigungsprozess stellte ALEXANDER HEIT (Duisburg/Essen) das Konzept auf die Probe. Heit schlug den Begriff der „Ko-Kontingenzbewältigung“ als Ergänzung des Analyserepertoires vor, um die Vorgänge und Handlungsweisen in das Konzept einzuschließen, die in direkter zeitlicher Nähe zum Umbruch in den realsozialistischen Staaten bei den westlichen Beobachtern – hier der Gewerkschaft der Polizei – angestoßen wurden. In Bezug auf den Wandel der Gewerkschaft der Polizei stellte Heit fest, dass sowohl eine Neuausrichtung als auch eine kritische Selbstreflexion unterblieben. In seinem anschließenden Kommentar schlug NIELS BENNEMANN (Duisburg) die Nutzung der Kotransformation als Reflexionsfläche vor. Die folgende Diskussion beschäftigte sich insbesondere mit dem Spannungsverhältnis von Generation und Geschlecht im Kontext von Kotransformation.

Das dritte Panel zum Thema „Sozialstaat und gesellschaftlicher Wandel“ eröffnete WINFRIED SÜß (Potsdam) mit Ausführungen zu Alleinerziehenden im geteilten und vereinigten Deutschland. Süß stellte fest, dass der West-Ost-Transfer in der Sozial- und Familienpolitik enorm war, er eine Kotransformation jedoch eher verneinen würde. Vielmehr seien DDR-Standards im Familienministerium abgebaut worden und ost- und westdeutsche familiale Praktiken und Einstellungen von vor 1989 hätten weitergewirkt. BENNO NIETZEL (Bielefeld) präsentierte im Anschluss seine Überlegungen zum Arbeitsmarktregime und zur beruflichen Weiterbildung. Die Orte der Weiterbildung könnten als Begegnungsräume zwischen West und Ost verstanden werden, in denen es zu zahlreichen kotransformativen Prozessen kam, ohne dass es sich um eine reine Transfergeschichte handelte. Insbesondere am Beispiel der beruflichen Weiterbildung ließen sich längerfristige Verschiebungen von Wahrnehmungsstrukturen sowie politische Zukunftserwartungen beleuchten und so Transfers und Wechselwirkungen offenlegen. In ihrem Werkstattbericht über die Lebenswege und Erfahrungswelten von Erotikshopinhaber:innen in der ostdeutschen Provinz stellten UTA BRETSCHNEIDER (Leipzig) und JENS SCHÖNE (Berlin) eine vielschichtige Erinnerungslandschaft vor, die wohl eher durch Transfers von West nach Ost als durch Phänomene der Kotransformation beeinflusst wurde. CHRISTOPH LORKE (Münster) markierte in seinem Kommentar zeitliche und räumliche Aspekte des Untersuchungsrahmens: Im Kontext einer langen Geschichte der Wende würde dem Sommer 1990 besondere Bedeutung zukommen. Auch verwies er auf die Bedeutung geographischer Differenzierung – zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen den Regionen Ostdeutschlands.

Das vierte Panel zu „Föderalisierung und Europäisierung“ startete ARIANE LEENDERTZ (München) mit einem Beitrag zur Ministerpräsidentenkonferenz und dem deutschen Verbundföderalismus nach 1990. Leendertz formulierte in Bezug auf die Rückwirkungen der staatlichen Einheit auf den deutschen Verbundföderalismus die These, dass Wandlungen zunächst ausblieben, da die westdeutsche Ordnung lediglich um die ostdeutschen Länder erweitert wurde und Reformen verschleppt worden seien. Auch im Kontext der Föderalismusreformen um die Jahrtausendwende könne man nicht von der Durchsetzung neoliberaler Ideen im Sinne der Kotransformationsthese sprechen. Im Anschluss referierte STEFAN PULTE (Bochum) über Europabild und -politik in der Transformationsgesellschaft am Beispiel der PDS und öffnete den Untersuchungsrahmen durch den Einbezug der EU. Pulte argumentierte, dass die PDS einerseits die EU als westdeutsches „Werkzeug“ kritisierte und sich andererseits durch ihre Neoliberalismuskritik in das politische System der BRD eingliederte. Auch KEITH R. ALLEN (Berlin) richtete seinen Blick über Deutschland hinaus und thematisierte die Relevanz des europäischen Binnenmarkts am Beispiel der Sanierungen in der ostdeutschen Schiffbau- und Stahlindustrie. In diesem Zusammenhang unterstrich Allen die Bedeutung der Einbeziehung auch ausländischer Akteure in die Untersuchung und forderte, dass das Konzept der Kotransformation nicht nur auf der Makro-Ebene ansetzen dürfe. Im seinem Kommentar unterstrich SIEGFRIED WEICHLEIN (Freiburg, CH) die Bedeutung von Verhandlungssystemen, die Transformationen immer wieder anstoßen würden, und machte auf die Probleme aufmerksam, die sich für die neuen Bundesländer aus dem Mehrebenensystem von europäischen Institutionen und nationalstaatlichem Föderalismus im Einigungsprozess ergaben.

Das fünfte – und letzte – Panel zur politischen Kultur und Zivilgesellschaft eröffnete ANNA HESSE (Mainz/Paris) mit einer Untersuchung über die ostdeutschen Bundestagsabgeordneten im 12. Bundestag (1990-1994). Hesse beobachtete dort zwar immer wieder Momente der Kotransformation, denen sie jedoch eher den Charakter komplexer Aushandlungsprozesse zuschrieb. Ostdeutsche Parlamentarier:innen hätten mit ihrem Auftreten und Stil zweifelsohne Reflexionsprozesse in Bonn angestoßen, die sich bisweilen auch in alltäglichen Konflikten entluden, wobei ihre „Integration“ in den Parlamentsbetrieb noch auszuloten sei. AGNES ARNDT (Berlin) argumentierte in ihrem Beitrag, dass die Zivilgesellschaft als Konzept durchaus als Treiber der Kotransformation angesehen werden könnte. Der diskursive Siegeszug der Zivilgesellschaft in Ostmitteleuropa hätte zu einer Aufwertung der Zivilgesellschaft im Westen geführt, so dass der Staat die Bürger:innen im Namen des Gemeinwohls zu mehr Eigenverantwortung aufrufen konnte. In diesem Kontext konnte die Bundesrepublik den Erfolg der Zivilgesellschaft im Osten als eine Art Entlastungsargument nutzen, um marktorientierte Reformen zu legitimieren. RÜDIGER STEINMETZ (Leipzig) und JUDITH KRETZSCHMAR (Leipzig) untersuchten die Kotransformation im Spiegel lokaler sächsischer Fernsehprogramme in der Zeit von 1990 bis 1995. Beide skizzierten in dieser Zeit zahlreiche Kotransformationen, da beispielsweise der ostdeutsche Lokal-TV Boom, welcher durch Westberater mitgeprägt war, Rückwirkungen auf die Lokalfernseh-Entwicklung in Westdeutschland gehabt habe. CHRISTINA MORINA (Bielefeld) unterstrich in ihrem Kommentar – auch in Anlehnung an Philipp Ther – die gegenwärtige Renaissance der „Warum-Fragen“ in der Geschichtswissenschaft. Ebenso forderte sie die Schärfung, kritische Hinterfragung und Dekonstruktion mancher der verwendeten Begriffe wie etwa den der „Heimat“.

Zusammenfassend betrachtet wurde das Konzept der Kotransformation intensiv herausgefordert, ausgelotet und größeren sowie kleineren (Gedanken-)Experimenten unterzogen. Damit konnte der Workshop seinem eigenen Anspruch gerecht werden, das Konzept einem umfassenden Praxistest zu unterziehen. Ob es sich bei der Kotransformation allerdings eher um eine Arbeitshypothese oder um ein Modell handelt, konnte (verständlicherweise) nicht abschließend geklärt werden. Einige eingebrachte begriffliche Ergänzungen und Alternativen haben zudem verdeutlicht, dass es dem Konzept an manchen Stellen noch an Klarheit mangelt. Die zahlreichen fruchtbaren Beiträge und Diskussionen haben schließlich verdeutlicht, dass Fragen nach Kotransformationsprozessen fest im Analyserepertoire der Transformationsforschung verankert werden sollten.

Konferenzübersicht:

Auftaktdiskussion

Philipp Ther (Wien): Keynote

Marcus Böick (London/Bochum) / Ralph Jessen: Kommentar

Panel 1: Wirtschaft und Strukturwandel
Moderation: Silke Mende (Münster)

André Steiner (Potsdam): Was hatte die Zeiss-Krise 1994/95 mit der Wiedervereinigung zu tun? Das Unternehmen Carl Zeiss und die Ko-Transformation

Dietmar Süß (Augsburg): "Die Linke nach dem Sieg des Westens" - Sozialdemokratische Sinnsuche nach 1989

Stefan Berger (Bochum): Vom Osten lernen? Konzeptionalisierungen von Strukturwandel im Ruhrgebiet im Lichte des deutschen Vereinigungsprozesses

Panel 2: Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen
Moderation: Niels Bennemann (Duisburg/Essen)

Anne Kremer (Mannheim): Transformierte Geschlechterpolitiken in der vereinigten IG Metall?

Christian Rau (Berlin): Zwischen „roter“ und „grauer“ Internationale: Franz Steinkühler und die IG Metall im Übergang vom Strukturwandel West zum Strukturbruch Ost

Alexander Heit (Duisburg/Essen): Von der Ko-Kontingenzbewältigung zur Ko-Transformation? Die Gewerkschaft der Volkspolizei (GdVP) und die Gewerkschaft der Polizei (GdP) im Einigungsprozess

Panel 3: Sozialstaat und gesellschaftlicher Wandel
Moderation: Christoph Lorke (Münster)

Winfried Süß (Potsdam): Alleinerziehende im geteilten und vereinigten Deutschland. Signalfiguren des sozialkulturellen Wandels und soziale Risikogruppe

Benno Nietzel (Bielefeld): Von Kurzarbeit Null zu Hartz IV: Arbeitsmarktregime und berufliche Weiterbildung nach der Wiedervereinigung

Uta Bretschneider (Leipzig) / Jens Schöne (Berlin): Werkstattbericht: Provinz. Geschäft. Lust. Lebenswege und Erfahrungswelten von Erotikshopinhaber:innen jenseits der urbanen Zentren Ostdeutschlands

Panel 4: Föderalisierung und Europäisierung
Moderation: Siegfried Weichlein (Freiburg, CH)

Ariane Leendertz (München): Verschleppte Reform: Die Ministerpräsidentenkonferenz und der deutsche Verbundföderalismus nach 1990

Stefan Pulte (Bochum): Ein „Plagiat der deutschen Einigung“. Europabild und -politik in der Transformationsgesellschaft am Beispiel der PDS und der Debatte um den Maastrichter Vertrag

Keith R. Allen (Berlin): Ostdeutsche Sanierungen im westeuropäischen Binnenmarkt. Das multinationale Ringen um Beihilfen für Schiffbau und Stahl

Panel 5: Politische Kultur und Zivilgesellschaft
Moderation: Christian Morina (Bielefeld)

Anna Hesse (Mainz/Paris): Dazugekommen, angepasst und in Bonn angekommen? Die ostdeutschen MdBs im 12. Bundestag (1990-94)

Agnes Arndt (Berlin): Zivilgesellschaft als Treiber der Ko-Transformation? Ein intellektuelles Konzept und seine politischen Implikationen

Rüdiger Steinmetz/Judith Kretzschmar (beide Leipzig): K.o.-Transformationen im Spiegel lokaler sächsischer Fernsehprogramme 1990–1995

Abschlussrunde

Anmerkung:
1 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.


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