Konstruktion, Darstellung und Rezeption genealogischen Wissens in Mittelalter und Früher Neuzeit

Konstruktion, Darstellung und Rezeption genealogischen Wissens in Mittelalter und Früher Neuzeit

Organisatoren
Giuseppe Cusa / Thomas Dorfner / Annica Döringer, Historisches Institut, RWTH Aachen University
Ort
Online (Aachen)
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.12.2021 - 11.12.2021
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Von
Annica Döringer / Thomas Dorfner, Historisches Institut RWTH Aachen / Giuseppe Cusa, Historisches Seminar, Universität Siegen

Die internationale Tagung verfolgte das Ziel, genealogisches Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit interdisziplinär zu betrachten und so einen Beitrag zur Erforschung vormoderner Wissenskulturen zu leisten. Im Mittelpunkt des Interesses standen die Konstruktion, Darstellung und Rezeption genealogischen Wissens.

Nach einer kurzen Einführung der Veranstalter eröffnete OLEKSII RUDENKO (Wien) die erste Sektion, die sich mit der Konstruktion fiktiver Vorfahren zur Aufwertung adliger Stammbäume befasste. Rudenko beschäftigte sich mit der Instrumentalisierung genealogischer Wissensbestände in Polen und Litauen im 16. Jahrhundert. Die Adligen verbanden Mythen über die vermeintlichen Abstammungen von antiken Stämmen wie den Sarmaten mit der christlichen Heilsgeschichte. Die dabei entstandenen genealogischen Konstruktionen wurden zur Selbstinszenierung und Machtlegitimation genutzt. Der anschließende Vortrag von ANGANA MOITRA (Kent) zeigte auf, dass aus ähnlichen Motiven das englische Königshaus der Tudors die Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft untermauerte. Statt eines Rückgriffs auf antike Überlieferungen, wie in Rudenkos Fallstudie, beriefen sich die englischen König:innen auf Feen-Genealogien. Besonders in den Blick genommen hat Moitra das epische Gedicht „The Faerie Queene“ Edmund Spensers. Sie wies nach, dass Spenser die Märchengestalten einerseits verwendete, um die nationale Geschichtsschreibung aufzuwerten und andererseits, um Königin Elizabeth I. zu verherrlichen.

Konkurrierende genealogische Konstruktionen hochadliger Familien im Hoch- und Spätmittelalter standen im Zentrum der zweiten Sektion. CAROLIN TRIEBLER (Aachen) wandte sich den in der norddeutschen Chronistik des 10. bis 13. Jahrhunderts tradierten Herkunftskonstruktionen zu, nach denen der Billunger Hermann hochadliger (u.a. Widukind von Corvey) oder niederer Herkunft sei (v.a. Adam von Bremen) oder von einem gewissen Billung abstamme. Mit den Herkunftserzählungen und dem Umgang mit ihnen reagierten die Chronisten auf die jeweilige politische Situation – auch als man die drei widersprüchlichen Stränge während des Interregnums miteinander verwob, ehe sich das Bild des armen Bauernjungen durchsetzte. FRANZISKA QUAAS (Hamburg) nahm sich den konkurrierenden Königsgenealogien der anglonormannischen und schottischen Dynastien an. Beide hoben aus legitimatorischen Gründen ihre westsächsische Provenienz hervor, jeweils begründet in der Ehe mit einer Nachfahrin Edmunds II. von England. Beide ließen ab dem späten 13. Jahrhundert prachtvoll illuminierte genealogische Rollen herstellen, in denen sie ihre plurilinearen Königsgenealogien textlich wie graphisch verbreiteten und die vom nahezu agonalen Wettstreit um Herkunft und Identität zeugen.

Die dritte Sektion thematisierte die Herstellung genealogischen Wissens im Alten Reich des 17. Jahrhunderts. MARCUS STIEBING (Hamburg) widmete sich dem Jenaer Gelehrten Elias Reusner (1555–1612). Obwohl Reusner zahlreiche genealogische Werke publizierte, verstand er sich nicht als Genealoge, sondern als Historiker und Kriegstheoretiker. In seinem Verständnis diente genealogisches Wissen primär zwei Zwecken: Zum einen war es unerlässlich, um die Historie besser zu verstehen, zum anderen konnte es helfen, Erbstreitigkeiten zu beenden. Die enorme gesellschaftliche Sprengkraft, die mit Ahnenforschungen untrennbar verbunden war, sah er hingegen offenbar nicht. Im Anschluss analysierte MARKUS FRIEDRICH (Hamburg) die ambivalente Beziehung zwischen dem adeligen Haus Schwarzenberg und den Genealogen Nicolaus Rittershausen (1597–1670) und Jakob Wilhelm Imhof (1651–1728). Während Rittershausen für seine Publikationen auf Quellen aus dem Archiv der Schwarzenberg angewiesen war, versuchten die adeligen Räte, den genealogischen Vorstellungen der Schwarzenberg mit Hilfe von Rittershausen und Imhof in der Öffentlichkeit Geltung zu verschaffen. Ein besonderes Anliegen war es den Räten dabei, diejenigen Genealogien zu entkräften, die der konkurrierende friesische Zweig des Hauses Schwarzenberg hatte publizieren lassen.

Im Anschluss befasste sich LENA MARSCHALL (Hamburg) mit der Selbstdarstellung des Dominikaner- und Franziskanerordens. Auch geistliche Orden nutzten das im ausgehenden Mittelalter beliebte Stammbaumschema für ihre Zwecke. Dabei gilt der liegende Ordensgründer (Dominikus), aus dem der Baum sprießt, als idealtypische Repräsentationsform. Mit der Darstellung von Predigermönchen im Stammbaum, der jedoch keine chronologische Anordnung zugrunde lag, verfolgten die Orden mehrere Ziele. Sie legitimierten dadurch etwa ihren Einfluss, präsentierten sich als „geistliche Familien“ und ordneten sich und ihr Wirken in den göttlichen Heilsplan ein. JULIA BRUCH (Köln) untersuchte einen umfangreichen Quellenkorpus, bestehend aus Stadtchroniken von Handwerker:innen, verfasst an der Schwelle zur Frühen Neuzeit. Die Verfasser:innen hielten in unterschiedlicher Intensität und Dichte genealogische Informationen fest und schrieben sich so selbst in die Stadtgeschichte ein. Unter Rückgriff auf sowohl (literatur-)historische als auch materialwissenschaftliche Methoden erforschte Bruch, inwiefern diese Wissensstrukturen von den Verfasser:innen sowie den Rezipient:innen dargestellt und genutzt wurden.

OLAV HEINEMANN (Duisburg-Essen) eröffnete die erste Sektion des zweiten Tages. Sein Beitrag beschäftigte sich mit der nicht zu unterschätzenden Bedeutung der Heraldik für die Konstruktion genealogischen Wissens. Laut Heinemann wurden Wappen nicht nur verwendet, um Abstammungsverhältnisse abzubilden, sondern auch um diese glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Allerdings handele es sich häufig um fiktive genealogische Beziehungen, wie anhand verschiedener spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Quellen veranschaulicht wurde. GIUSEPPE CUSA (Aachen) nahm zwei Paduaner Familienkollektaneen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in den Blick. Die beiden Verfasser, Giovanni da Nono und Pseudo-Favafoschi, verzeichnen die städtische Führungsriege. Unter Rückgriff auf orale wie schriftlich tradierte Informationen zeichnen sie die Abstammung der Familien unterschiedlich ausführlich nach. Dass man ihre Texte nicht vorbehaltlos rezipierte, hat Cusa an Werken des späten Tre- und des Quattrocento der Da Carrara und Capodilista exemplifiziert.

MICHAEL HECHT (Halle-Wittenberg) widmete sich dem kaum erforschten Zusammenhang zwischen Genealogie und frühneuzeitlicher Funeralkultur. Welch zentrale Rolle genealogisches Wissen für den Adel spielte, zeige sich besonders bei Trauerfeiern. Während der Zeremonien wurden die Herkunft des Verstorbenen und die Anciennität des Hauses, dem er angehört hatte, durch zahlreiche Ahnenwappen auf Fahnen, Tüchern, etc. dargestellt. Nicht weniger wichtig war genealogisches Wissen in gedruckten Funeralschriften, die Hecht als „Repräsentationen zweiter Ordnung“ bezeichnete. MATTHIAS KUHN (Heidelberg) unterzog zwei an der Schwelle zur Frühen Neuzeit entstandene Rollen sowohl einem inhaltlichen als auch einem materialbasierten Vergleich. Hierzu wählte Kuhn die sogenannte „Warwick-Roll“ der englischen Adelsfamilie Beauchamp und die Rolle der Markgrafen von Baden. Die beiden Rollen unterscheiden sich zwar im Aufbau deutlich (die Querrolle der Warwicks vs. die Längsrolle der Markgrafen), beide setzten jedoch auf das Mittel der Suggestion, um den zeitgenössischen Betrachter:innen möglichst eindrucksvoll den gesellschaftlichen Rang und die familiäre Kontinuität der Adelshäuser vor Augen zu führen.

MARIA KAMMERLANDER (Paris) eröffnete die letzte Sektion und analysierte die sogenannte Reditus-Theorie mit der damit einhergehenden politischen Bedeutung genealogischer Verwandtschaftsverhältnisse. Gemeint ist mit dem Begriff die Vorstellung, dass mit Ludwig VIII. qua mütterlicher Abkunft wieder die alte karolingische Dynastie herrsche. Eingearbeitet findet sie sich in zahlreichen historiographischen Werken, in Form einer Prophezeiung etwa in Vinzenz’ von Beauvais „Speculum historiale“. Kammerlander untersuchte die Rezeptionsgeschichte der Theorie und zeichnete nach, dass deren Nutzbarmachung keineswegs festgeschrieben war. Vielmehr oszillierten ihre Auslegung und Wirkung zwischen willkommener Legitimationsstrategie und Herrschaftsgefährdung. MARIAN COMAN (Bukarest) beschäftigte sich mit den zahlreichen walachischen Thronprätendenten des 16. Jahrhunderts und ihren diplomatischen Bemühungen. Prätendenten wie Peter „der Ohrring“ wandten sich an europäische Herrscherhöfe, um Unterstützung zu gewinnen, damit sie ihre Ansprüche in der Walachei geltend machen konnten. Dort konnte indes jeder männliche Nachfahre eines einstigen Herrschers den Thron beanspruchen. Es habe weder ein dynastisches Bewusstsein noch eine genealogische Erinnerung gegeben, weshalb die Prätendenten ihren christlichen Glauben und ihre Erbrechte herausgestellt hätten, indem sie vor allem zwei Strategien anwandten: Entweder dünnten sie ihren Stammbaum aus oder dehnten diesen auf europäisch-osmanische Breite aus.

Abschließend fasste THOMAS DORFNER (Aachen/Halle) die Ergebnisse der Tagung zusammen und nahm besonders die sichtbar gewordenen Forschungsdesiderate in den Fokus. Die Vorträge haben – erstens – offenbart, dass viele der Akteure, die in der Vormoderne genealogisches Wissen produzierten, noch kaum untersucht worden sind. Zweitens, so Dorfner, dürfte es lohnend sein, die Intermedialität, d.h. den Übergang genealogischen Wissens von einem Medium in ein anderes Medium systematischer zu analysieren. Last but not least wartet die Institutionalisierung der Genealogie an Universitäten und Ritterakademien, die sich im 17. und 18. Jahrhundert vollzog, auf eine Analyse durch die Frühneuzeitforschung.

Konferenzübersicht

Giuseppe Cusa (Aachen)/Thomas Dorfner (Aachen/Halle): Einführung und Begrüßung

Oleksii Rudenko (Wien): The Classical Element in Constructing Polish and Lithuanian Origin Myths in the Early Modern Era

Angana Moitra (Kent): Fairy Genealogy in Tudor England

Carolin Ann Triebler (Aachen): Vom vir nobilis zum armen Bauernjungen. Konstruktion genealogischen Wissens am Beispiel der Herkunft des Billungers Hermann

Franziska Quaas (Hamburg): Accessit ad radicem arbor. Die Bedeutung der westsächsischen Dynastie für die Konstruktion der Identitäten der englischen und schottischen Königsdynastien des 12. und 13. Jahrhunderts

Marcus Stiebing (Hamburg): Genealogisches Wissen um 1600. Die Genealogia Imperatorum, Regum, Principum, Comitum, Baronum Et Dynastarum Germanorum des Jenaer Gelehrten Elias Reusner (1555–1612)

Markus Friedrich (Hamburg): Herausforderungen, Chancen und Risiken von Genealogie um 1700. Die Familie Schwarzenberg und das Nürnberger genealogische Milieu als Fallbeispiel

Lena Marschall (Hamburg): Der Gründer als Ahne. Genealogisches Denken in den Ordensbäumen der Prediger

Julia Bruch (Köln): Die Darstellung genealogischen Wissens in von Handwerker:innen geschriebenen Chroniken des 15. und 16. Jahrhunderts

Olav Heinemann (Duisburg-Essen): ... was sich die von Adel ein jeder bey seinem Wapen erinnern sol. Von der Bedeutung der Heraldik im Kontext genealogischer Forschungen

Giuseppe Cusa (Aachen): Et ex ea genuit … Genealogisches Wissen in zwei Paduaner Familienkollektaneen des Trecento

Michael Hecht (Halle-Wittenberg): Intermedialität von Ahnenproben in der frühneuzeitlichen Funeralkultur

Matthias Kuhn (Heidelberg): Die genealogischen Rollen der Markgrafen von Baden und der Earls von Warwick. Ein materialbasierter Vergleich

Maria-Elena Kammerlander (Paris): Reditus regni ad stirpem Karoli. Zur politischen Gestaltungskraft genealogischen Wissens am kapetingischen Königshof

Marian Coman (Bukarest): Cross-Cultural Genealogies. Wallachian Pretenders and Renaissance Audiences

Thomas Dorfner (Aachen/Halle): Zusammenfassung und Ausblick


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