Die multidisziplinäre Tagung zu Robert Michels, der aus wissenschaftlicher Sicht vor allem für seine soziologischen Untersuchungen zum Parteiwesen bekannt ist, befasste sich mit Michels' weit weniger rezipiertem Einfluss auf die Frauenbewegung am Anfang des 20. Jahrhundert und stellte – ganz im Sinne der Ausrichtung als Workshop – den Diskurs über die 2021 von Vincent Streichhahn und Hans Geske wiederveröffentlichte Essaysammlung „Die Grenzen der Geschlechtsmoral“ in den Vordergrund. Halle (Saale), der Ort von Michels' 1900 erfolgter Promotion, war bereits 2010 Ausrichtungsort einer Tagung zu dessen Parteiensoziologie, wie Harald Bluhm einleitend berichtete.
In seinem Einführungsvortrag referierte VINCENT STREICHHAHN (Halle/Saale) über die Schwierigkeit der Verortung Michels' in der polarisierten Frauenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts sowie die fehlende Selbstauskunft Michels', weshalb er sich überhaupt mit Frauenfrage und Geschlechterperspektive befasste. Michels veröffentlichte in den Zeitschriften und besuchte als Sprecher Kongresse der verschiedenen Flügel der Frauenbewegung, von bürgerlich bis proletarisch, sodass sich Streichhahn für den Terminus „Grenzgänger“ aussprach, um sich Michels' schwieriger Einordnung zumindest zu nähern. Für die Erklärung dieses „Grenzgängertums“ legte der Referent drei Thesen vor: Erstens verwies er auf Michels' notwendigerweise quantitativ hohen Output an Schriften, der, damals trotz Patronage Max Webers ohne Professur oder andere akademische Anstellung, seinen Lebensunterhalt durch Schreiben verdienen musste. Zweitens oszillierte Michels tatsächlich inhaltlich zwischen den Flügeln der Frauenbewegung und löste damit durchaus Irritationen und Kontroversen bei den Protagonist:innen der jeweiligen Flügel aus, wie Streichhahn anhand von Anekdoten und Korrespondenz plastisch illustrierte. Die dritte und letzte These befasste sich mit Michels' Entwicklung vom feministischen Grenzgänger hin zum Sozialethiker und Sexualwissenschaftler, der seine sexualmoralischen Beiträge, unter anderem zur Prostitution, später vor allem in den Zeitschriften Helene Stöckers veröffentlichte.
Die Thematisierung Stöckers markierte einen passenden Übergang zum zweiten Vortrag, der von KERSTIN WOLFF (Kassel) vom Archiv der deutschen Frauenbewegung gehalten wurde. Wolff befasste sich intensiv mit der freundschaftlichen Beziehung von Michels und Stöcker, unter anderem anhand der (durch Stöckers Emigration 1934 und den Verlust der Antwortschreiben Michels') unvollständigen Korrespondenz der beiden. Stöcker, 1905 Gründerin des „Bundes für Mutterschutz“ und Herausgeberin verschiedener Zeitschriften, übte wie Michels Kritik an Prostitution und bürgerlichen Ehekonventionen. Die Referentin ging dabei sowohl kritisch auf Stöckers „erstaunlich unpolitische“ Ausklammerung der ökonomischen Zwänge der Klassenfrage ein, die Stöcker bei ihrer bürgerlich-liberalen Analyse der Prostitutionsfrage gänzlich ausklammerte, als auch auf Michels' inkonsequente, differenzielle Bewertung der Prostitution in Deutschland, Frankreich und Italien. Michels, damals Sozialdemokrat, stellte zwar den Klassengegensatz ins Zentrum seiner Überlegungen zur Prostitution und analysierte die bürgerliche, männliche Nachfrage sowie das durch materielle Not erzwungene, proletarische Angebot ebenjener, reflektierte in der quasi affirmativ-bewundernden Darstellung italienischer und französischer Prostitution allerdings nicht seinen eigenen, männlichen Blick.
Den Abschluss des ersten Panels bildete der Kommentar von METTE BARTELS (Göttingen), die auf Grundlage des Michels'schen „Grenzgängertums“ ein Hinterfragen des Bildes einer starr abgegrenzten, zwischen bürgerlich und proletarisch polarisierten, Frauenbewegung anregte. Bartels verwies dabei auf die Relevanz eines solchen Grenzgängertums, das auch andere Vertreter:innen der Frauenbewegung wie Ika Freundenberg ausmachte.
Das zweite Panel eröffnete HANS GESKE (Halle/Saale), der die verschiedenen Editionen von Michels' „Grenzen der Geschlechtsmoral“ analysierte. Geske zeigte auf, dass es zwischen den verschiedenen Übersetzungen vom Deutschen ins Italienische, Französische und Englische eklatante Erweiterungen und auch Kürzungen gab. Während die erste, auf Deutsch erschienene Ausgabe 1911 noch in Gabriela von Liebers Frauenverlag erschien, waren alle Übersetzungen Teile soziologischer Fachreihen und wiesen einen deutlich größeren Umfang auf als die erste Version. Neben Ergänzungen in den Kapiteln selbst verzeichneten die italienische und englische Ausgabe zwei zusätzliche Kapitel sowie Ansprachen des jeweiligen Landespublikums. In der französischen Ausgabe wiederum fehlten fünf Kapitel, unter anderem das über die Sexualerziehung aus der vorher erschienen italienischen Ausgabe. Geskes Vortrag wie auch die anschließende Diskussion drehten sich dabei unter anderem um die Durkheim’sche soziologische Hegemonialstellung in Frankreich als mögliche Erklärung des fehlenden sexualmoralischen Kapitels in der französischen Ausgabe. Auch Michels' „Sammelleidenschaft“, der Wunsch, möglichst umfangreiches (mehr oder weniger) empirisches Material einzubauen, wurde als Begründung zur schnellen Erweiterung des Gegenstands herbeigezogen.
Eine weitere Näherung zu Michels' „Grenzen der Geschlechtsmoral“ stellte die pädagogische Perspektive von SEBASTIAN ENGELMANN (Karlsruhe) dar, der vor allem die sexualethischen Schriften Michels' und Friedrich Wilhelm Försters komparativ betrachtete. Förster, vor 1904 noch selbst Teil der Zeitschrift „Ethische Kultur“, für die auch Michels veröffentlichte, war Intimfeind von Michels' Freund Max Weber. Einschränkend wies Engelmann darauf hin, dass Michels in der Geschichte der Sozialpädagogik wenig bis gar nicht rezipiert wird, und begründete dies damit, dass Michels' Ausführungen eher als Abbilddidaktik denn als tatsächlicher Beitrag zur Pädagogik betrachtet werden müssen. Gleichzeitig formulierte Michels durchaus progressive Ideen, die über die rein medizinische, auf Krankheitsvermeidung bedachte Erziehung hinausgingen und eine „Aufklärung von Kindern in sexuellen Angelegenheiten“ (Michels) unterstützen sollten, ohne dabei „Angst vor Sex“ oder eine Übersexualisierung zu forcieren. Die pädagogischen Werkzeuge dazu bleiben in Michels' Schriften nebulös. Im Gegensatz zum eingebrachten Kontrapoden Förster, der sich mit konservativ-christlicher Begründung für eine Erziehung zur Askese und weniger Aufklärung mit dem Ziel einer Selbstüberwindung einsetzte, sprach sich Michels jedoch für eine Annahme der Natürlichkeit der Sexualität und aufklärerische Ehrlichkeit gegenüber Kindern und Jugendlichen aus.
In seinem das Panel beschließenden Kommentar wies Vincent Streichhahn auf die Freundschaft von Michels und Max Weber hin, mit dessen Kindern Michels über Sexualität sprach. Das Kapitel zur Sexualerziehung fehlte auch in der deutschen Ausgabe, was die Frage nach dem Adressatenbezug spannend werden lässt und einen weiteren offen Aspekt der Michels-Forschung aufzeigt.
Im dritten Panel referierte HANS-PETER MÜLLER (Berlin) zunächst umfangreich zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Robert Michels und Georg Simmel bezüglich der Geschlechterfrage. Exemplarisch verglich Müller dabei den breiten Diskurs zur Anfang des 20. Jahrhunderts viel diskutierten Frauenfrage anhand der Themen Frau(enrechte), Prostitution sowie Ehe und Koketterie und verwies modernisierend auf die Annahme Simmels, dass die Frauenfrage in Zukunft wichtiger werden würde als die Klassenfrage. Als zentrale Unterscheidung dieser Autoren, die sich beide gegen eine Benachteiligung von Frauen in allen Lebensbereichen einsetzten, kann die Suche Simmels nach einer zu bewahrenden „objektiven Frauenkultur“ ausgemacht werden, die konträr zu Michels' Plädoyer für eine umfassende juristische und normative Gleichheit der Frau stand. Der Dissens zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung findet sich auch in der komparativen Betrachtung von Michels und Simmel. Während Michels den Sozialismus als politische Rahmenordnung vor Augen hatte, hegte Simmel zwar Sympathien für die Sozialdemokratie, wendete sich aber später zugunsten von Freiheit und Individualismus von dieser ab und stand der bürgerlichen Frauenbewegung um Marianne Weber nahe. Beide Autoren setzten sich für Ehe und Familie ein und waren der Prostitution gegenüber skeptisch eingestellt, wenn auch Simmel soziologisch einen gewachsenen Bedarf ausmachte, da Männer immer später ökonomisch und beruflich zur Ehe bereit wären. Simmel plädierte normativ zwar für eine verstärkte Keuschheit des Mannes, um diesem Problem zu begegnen, entwarf aber wegen der beinahe unmöglichen Durchsetzbarkeit die (in der anschließenden Diskussion pejorativ ausgemachte) Idee staatlich überwachter Bordelle. Beide Autoren schufen Ansätze moderner Geschlechtertheorien. waren aber, gerade was ihre konkreten Reformvorschläge anging, schlechterdings und wenig reflektiert männlich geprägt, sodass einige ihrer Ideen heute anachronistisch wirken, so modern sie für ihre Zeit auch waren.
Im Anschluss folgte INGRID GILCHER-HOLTEY (Bielefeld) mit einem ebenso unterhaltsamen wie lehrreichen (fiktionalisierten) Dialog zwischen Max Weber und Robert Michels, den sie gemeinsam mit Hans-Peter Müller führte. Er basierte auf den 132 erhaltenen Briefen von Weber an Michels und war in Webers Heidelberger Residenz im Jahr 1912 lokalisiert. Garniert mit Anspielungen zur avantgardistischen Sexualmoral der großbürgerlichen Kreise in Heidelberg im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und etlichen Bonmots für Weber-Kenner, wurde der Entstehungskontext der „Grenzen der Geschlechtsmoral“ thematisiert und Webers Irritation über einige Ideen Michels' herausgestellt, beispielsweise zur auch von Männern zu leistenden Care-Arbeit.
Mit FRANK JACOB (Bodø) begann das vierte Panel, das Perspektiven auf Michels' Werk herausstellte. Jacob rekurrierte dabei auf Michels' Massenbegriff und stellte die Frage nach dem revolutionären Subjekt in dessen (sozialistischem) Werk. Entgegen Gustave Le Bons pejorativem und Lenins affirmativem Massenbegriff sah Michels eine inhärente Ohnmacht der Masse, wenn diese führerlos bliebe. Langfristig, so Michels, der nach Jacob im Massendiskurs zwischen Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein einzuordnen ist, würden sich politische Führende aus der Masse erheben und sich über diese hinwegsetzen, sodass der Movens der nur noch schwer aufzuhaltenden Masse der Wille des Führenden sei. Daraus lassen sich nach Michels die großen Schwächen der parlamentarischen Demokratie – die Entkoppelung der diskursführenden Mitglieder des Parlaments von den Massen in Bewegung sowie die fehlende Responsivität – ableiten, die zur Cliquenherrschaft verkommt. Der von Michels untersuchten Sozialdemokratie, die sich zwar den Idealen von Gleichheit und Sozialismus verschrieben hatte, attestierte dieser nicht nur eine Bürokratisierung, sondern darüber hinaus auch eine Oligarchisierung. Letztere würde auch die revolutionären Ambitionen der Sozialdemokratie ad absurdum führen, da die revolutionären Massen wieder zwangsläufig durch ihre Führenden ausgebeutet werden. Michels sympathisierte aus dieser Erkenntnis heraus mit einer an den Anarchosyndikalismus angelehnten Form der direkten Massendemokratie, deren Umsetzbarkeit jedoch auch nach der Lektüre seines Werks fraglich erscheint. Vor diesem Hintergrund bot Jacob eine Erklärung für Michels' spätere Hinwendung zum Faschismus, in dem dieser eine Konvergenz zwischen der konstatierten Notwendigkeit der direkten Führung der Masse und der Abgrenzung zum elitären und oligarchisierten Parteienapparat auszumachen schien.
Abschließend stellte GIOVANNI DE GHANTUZ CUBBE (Dresden) die Frage nach der Aktualität von Michels' Werk. Mit umfangreicher Kenntnis der italienischen Michels-Rezeption skizzierte Cubbe die Transition der italienischen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg, der der Faschismus als messianisches Versprechen einer neuen Ordnung präsentiert wurde. Hegte sie vor dem Weltkrieg noch den Wunsch nach einer gemächlichen Reformierung und Veränderung, stand während der Zäsur des Krieges die gesamte Gesellschaft vor einem radikalen Umbruch. Galt der Faschismus auch für Michels vor dem Krieg noch als Störfaktor, sublimierte sich dieser zu einer (auch von Michels suggerierten) Ordnungsinstanz. Wie auch in anderen Teilbereichen fehlte im Kontext der Faschismusrezeption durch Michels wieder die innerwerkliche Verknüpfung, auffällig beim fehlenden Verweis zu seiner eigenen Elitentheorie in „Aufstieg des Faschismus“; generell setzten theoretische Betrachtungen erst wieder nach der Transition zum Faschismus ein. Die Diskussion stellte die wichtige Unterscheidung zwischen dem fascismo governo, den Michels vertrat, und dem ungesteuerteren fascismo movimento heraus. In der heutigen Zeit seien Parallelen dazu in den Heilsversprechen des (Rechts-)Populismus erkennbar, auch wenn einschränkend bemerkt werden muss, dass man es zwar mit einer Krise der Repräsentation, nicht aber mit einer derart großen Zäsur wie einem Weltkrieg zu tun hat. Auch fehlt eine Verknüpfung von Michels' verschiedenen Werkteilen, so die zwischen der Frauenfrage und der (männlich gedachten?) Massenproblematik oder die zwischen Sexualwissenschaft und Krieg(serlebnis).
Die Vielfalt der Perspektiven auf Michels' Werk und die Verknüpfung der titelgebenden „Grenzen der Geschlechtermoral“ mit anderen Werksteilen bot einen interdisziplinären und gewinnbringenden Austausch, der viele Fragen beantwortete, sicherlich aber auch einige neue aufwarf. Zur Fokussierung auf die bisher weniger beachtete Tätigkeit Michels' für die Frauenbewegung hat der Workshop in jedem Fall beigetragen, sodass, in Kombination mit der 2021 erfolgten Neuauflage von Michels' Essays zur Geschlechterforschung, gespannt auf eine weitergehende wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik geblickt werden kann.
Konferenzübersicht:
Harald Bluhm (Halle/Saale)Begrüßung & Einführung
Panel 1: Robert Michels im frauenbewegten Kontext
Vincent Streichhahn (Halle/Saale): Robert Michels im Spiegel seiner Korrespondenz mit den unterschiedlichen Flügeln der deutschen Frauenbewegung
Kerstin Wolff (Kassel): Robert Michels und Helene Stöcker – Geschwister im Geiste?
Kommentar: Mette Bartels (Göttingen)
Panel 2: Die „Grenzen der Geschlechtsmoral“ im Wandel
Hans Geske (Halle/Saale): Robert Michels' „Grenzen der Geschlechtsmoral“ im Wandel der Editionen
Sebastian Engelmann (Karlsruhe): Neugier und Unwissenheit – Robert Michels (un)pädagogische Ideen zur Sexualerziehung
Panel 3: Robert Michels im soziologischen Kontext
Hans-Peter Müller (Berlin): Die Geschlechterfrage. Ein Vergleich von Robert Michels und Georg Simmel
Ingrid Gilcher-Holtey (Bielefeld): Max Weber und Robert Michels. Ein Gespräch unter Männern über Ehe und Erotik, die Frauen und die Universität
Panel 4: Perspektiven auf Robert Michels' Werk
Frank Jacob (Bodø): Massenbewegung oder Massen in Bewegung? Robert Michels' Massenbegriff im Spiegel seiner Werke
Giovanni de Chantuz Cubbe (Dresden): Gesellschaftliche Umbrüche, die Krisen der Politik und die Aktualität von Robert Michels