Ziel der Veranstaltung war es, die neuesten Perspektiven zur Lebensreform zu diskutieren. Es ging also weniger darum, eine Bilanz der bisherigen Forschung zu ziehen, als die unterschiedlich weit abgeschlossenen Projekte einer neuen Generation zusammenzubringen.
Im ersten Panel ging es um die internationale Vernetzung der lebensreformerischen Kreise, wobei die beiden ersten Präsentationen auf die deutsch-französische Ebene fokussierten. JOHANNES BOSCH (Heidelberg) stellte die Haltung des französischen Naturisten Paul Carton zur deutschen Nackt- und Naturheilbewegung vor. Anhand des Konzepts der Einflussangst (Harold Blum) analysierte er die Abgrenzung, die Carton der deutschen Art gegenüber konstruierte. Dieses Beispiel sei laut Bosch repräsentativ dafür, dass transnationaler Einfluss auch schmerzhaft sein kann, und zeige, wie nationale Unterschiede – hier im Kontext der naturgemäßen Lebensweise – konstruiert werden.
ALEXANDRA HONDERMARCK (Paris) nahm ihren Ausgang von der Zirkulation und Adaption vegetarischer Inhalte und Praxis im französischsprachigen Raum (Frankreich, Belgien, Schweiz) um den Pfarrer Edouard Raoux (1817-1894). Raoux, der stets Informationen zu den deutschen und englischen Vegetariern sammelte, fungiere als Transferfigur zwischen den kulturellen Bereichen. Die Spezifizität des französischen Vegetarismus liege in einer stärkeren hygienistischen und wissenschaftlichen Komponente, unter anderem deswegen, weil die Bewegung dort mehr Ärzte als in Deutschland zählte.
LÉO BERNARD (Paris) sprach ebenfalls über eine Einzelperson, Jacques Louis Buttner, und über seine Rolle im Transfer der Ideen des theosophischen Naturismus zwischen Frankreich und den USA im 19. Jahrhundert. Dabei konzentrierte er sich auf die Beziehung zwischen Medizin und Religion in der theosophischen Bewegung. Der in Mexiko geborene Buttner, der in Frankreich und in den USA gelebt hat, ist eine Transferfigur des theosophischen Naturismus, der laut Bernard eine wichtige Rolle für die Lebensreform spielte und die Zirkulation von Ideen sowie eine Annäherung zwischen französischen und amerikanischen Naturisten ermöglichte.
ANDREAS SCHWAB (Fribourg) präsentierte die These, dass Künstlerkolonien zwischen 1870 und 1950 als Freiräume definierbar seien. In diesen Räumen sei die Möglichkeit entstanden, ein nonkonformistisches Leben zu führen und eine freiere Sexualität sowie Queerness und Homosexualität auszuleben. Die Argumentation stützte sich auf künstlerischen Produktionen des Milieus (z.B. John Lavery, „Die Brücke bei Grez“, 1886, oder Helene Schjerfbeck, „Trocknende Wäsche“, 1883). Besonders einschlägig war Schwabs Parallele zwischen der Schilderung der Landbevölkerung durch Akteure dieser Künstlerkolonien und der der indigenen Bevölkerungen in kolonisierten Ländern.
Der rote Faden der darauffolgenden Diskussion war Religiosität. Uwe Puschner stellte die Frage, inwiefern Religion und Religiosität in der Lebensreform schon inhärent waren, und Klaus von Eickels formulierte die Hypothese des Vegetarismus im 19. Jahrhundert als säkularisierter Christianismus. Detlef Briesen hob hervor, dass die evangelische bzw. katholische Komponente der Akteure und der betrachteten Länder eine determinierende Rolle spielte.
SVEN REISS (Kiel) eröffnete das zweite Panel und ging in seinem Exposé Narrativen nach, die innerhalb der jugendbewegten Alternativkultur sexuelle Übergriffe erleichterten und legitimierten1. Reiß verdeutlichte, wie sich diese modernen Päderastie-Vorstellungen um eine Mimesis der Alten Griechen strukturierten. Darauf ordnete er das Phänomen im Kontext einer Verunsicherung des männlichen Selbstbildes in der Moderne und in der bürgerlichen Kulturkritik der Jugendbewegung ein, wodurch die männliche Liebesbeziehung argumentativ als Vermittlung von Bildung und Kultur legitimiert wurde. Es bleibe jedoch unklar, ob diese Beziehungen sexuell ausgelebt wurden und was die Altersgrenzen waren. Zugespitzt formuliert, analysierte Reiß die Päderastie als eine authentische Ausdrucksform der lebensreformerischen Kulturkritik und als Merkmal einer radikalen Gegenkultur. Dabei bleibe offen, inwiefern die Idee der Päderastie Missbrauchsfälle zu kaschieren half.
EVA LOCHER (Fribourg) erläuterte die Positionierung der Schweizer FKK-Vereine gegenüber der sexuellen Revolution der 1960er- und 70er-Jahre. Wie schon in ihrer Dissertation2 ging es auch in diesem Beitrag um die Aufhebung der Idee eines Endes der Lebensreform nach 1945 bzw. 1933. Die Schweizer Vereine, die sich nicht mit Wiederaufbau und Denazifizierung auseinandersetzen mussten, erlebten laut Locher eine Stärkung ihrer Netzwerke und einen Zuwachs nach 1945, sodass die Schweiz zum Zentrum der lebensreformerischen FKK wurde. Zur Sexualität in diesem Milieu bemerkte Locher, dass die Bewegung ein eigenes, deserotisiertes Konzept der Sexualität entwickelte. Die schweizerische FKK sei deshalb keinesfalls die Wegbereiterin der sexuellen Revolution gewesen und grenzte sich stets von der „Sexwelle” der 1960er-Jahre ab. Paradoxerweise wurden die von dem Verein produzierten weiblichen Aktfotografien dennoch bis zur Pornowelle um 1968 als Erotika verkauft.
In ihrem Kommentar deutete Maren Möhring auf die Ambivalenz der Haltung der Jugendbewegung hin, die neben ihrem kulturkritischen, antimodernen Wiederaufgreifen eines antiken Konzepts – in emischer Perspektive betrachtet – ein genuin modernes Experimentieren mit Körperpraktiken ausübte, das zur Genese des modernen Körpers beitrug. Ähnlich könne die Medialisierung des nackten Körpers durch die FKK-Bewegung als Wegbereiter verstanden werden, auch wenn sie für diese keine erotische, sondern eine didaktische Funktion hatte.
In seiner Keynote griff DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) auf Perspektiven und Zusammenhänge zurück, die während der Tagung des Archivs für Jugendbewegungsforschung 2019 entwickelt worden waren3. Bei der Frage „Wollten Lebensreform und Alternativmilieu dasselbe?” trete zuerst eine konzeptionelle Unsicherheit hervor, ob man hier überhaupt von sozialen Bewegungen oder sozialen Milieus sprechen könne. Außerdem entstammte diese Perspektivierung nicht aus dem alternativen Milieu selbst, sondern wurde von außen, von Journalisten festgestellt. Nötig sei ein konstruktiver Rückblick, um die Verbindungen zwischen Alternativmilieus der 1970er-Jahre und der traditionellen Lebensreform zu erkennen. Siegfrieds Analyse rekurrierte auf Andreas Reckwitz' Begriff der Singularisierung, d.h. auf die Idee eines gesellschaftlichen Strukturwandels der Spätmoderne, in dem die soziale Logik des Allgemeinen in eine sozialen Logik des Besonderen übergehe4. Zu den gemeinsamen Merkmalen zwischen beiden Momenten zählte Siegfried Natur, Authentizität und Kritik an der Moderne sowie Landsiedlungen und die Tendenz, Sachen selbst herzustellen. Doch trotz dieser Ähnlichkeiten seien das Ausmaß und die Bedeutung der Transfers zwischen Lebensreform um 1900 und Alternativbewegung um 1970 nur beschränkt. Militanz gebe es in der Lebensreform nicht, und das religiöse Element falle in der Alternativbewegung mehr oder weniger weg. Schließlich habe man es mit einer in sehr unterschiedlichen Kontexten und Milieus auftauchenden Ideenwelt zu tun. Das gemeinsame Ziel war, autonom gegen Entfremdung zu wirken. Doch der diffuse Charakter der Definitionen dieser Milieus trete heute stärker denn je hervor, da viele ihrer Anliegen womöglich in der Breite der Gesellschaft schon vorhanden waren und sie zu ihrer Zeit nicht die einzigen Kritiker der Moderne darstellten.
Diese diffuse Dimension griff Christina Späti im Kommentar auf. Sie erwähnte die Selektivität der Kontinuitätsbezüge der alternativen Bewegung zur Lebensreform und hob hervor, dass diese Kontinuität zwischen zwei Konstruktionen vielleicht nicht mehr als eine erfundene Tradition sei. Maren Möhring erweiterte die Fragestellung, indem sie zu einer Reflexion über die offenbare Produktivität bestimmter Konstellationen aufrief, also bestimmte Formen der Arbeit am Selbst und an der Gesundheitsorientierung. Eva Locher deutete konkret auf die zahlreichen Figuren des Transfers hin, die Ideen der 1920er- und 1930er-Jahre in den 1970ern vermittelten. Anschließend stellte Rindlisbacher die spekulative Frage, ob man es bei der Klimabewegung und den Querdenkern mit einer „dritten Welle” der Lebensreform zu tun habe. Die Antwort blieb offen: Detlef Siegfried zufolge könne man in diesen neuen Strömungen, die Impulse aus der Lebensreform und aus dem Alternativmilieu aufgreifen, dazu Importe aus den USA, keine milieuhafte Verdichtung erkennen, während Maren Möhring die milieuähnlichen Merkmale des Veganismus unterstrich.
CAMILLE AUBOIN (Straßburg) präsentierte im dritten Panel anhand der Kolonialfotografie Hans Paasches (1904/05) die Überschneidungen zwischen Kolonialphantasien und Lebensreform. Am Beispiel der Fotografie einer afrikanischen Frau zeigte sie, inwiefern diese die kolonialistischen Ideale der Lebensreformbewegung veranschaulichte. Das Bild und sein Begleittext fungierten als Mittel der Systematisierung einer positiven Kolonialidee. Auboin verglich diese Darstellung mit Paasches späteren Schriften zur deutschen Frauenmode und mit seinem berühmtesten Werk „Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland“ (1912/13). Im Lichte dieser Texte will Auboin das Foto als Zeugnis einer lebensreformerischen Erlösungshoffnung in die „Urvölker” sehen.
ANNA S. BRASCH (Göttingen) interessierte sich für die Verdrängung des Anderen durch die Lebensreform im kolonialen Kontext. Sie bezog sich auf Schriften August Engelhardts zu den Tropen und zeigte, wie die lebensreformerischen Ideale der Nacktheit und des Vegetarismus in Samoa und auf anderen Südseeinseln optimal ausgelebt werden konnten. Die Hinweise auf die indigene Bevölkerung blieben jedoch vereinzelt und seien keinesfalls kolonialkritisch; der Andere wurde so verdrängt. Die lokalen Bevölkerungen wurden nur dann erwähnt, wenn sie sich nicht unterwarfen – z.B. die Massai – und auch dann als in einem früheren Stadium der Kultur befindlich wahrgenommen. Ein anderes zentrales Element von Braschs Analyse ist die Idee, dass die Lebensreformer auf expansionistische Semantik zurückgriffen. Schließlich zeigte sie, wie diese Semantiken des Fremden und des Expansionismus auch im innerdeutschen Kontext von Lebensreformern mobilisiert wurden.
In ihrem Kommentar wies Christina Späti darauf hin, dass die Beteiligung einiger Lebensreformer an Genoziden – zum Beispiel die von Auboin erwähnte Teilnahme Hans Paasches am Maji-Maji Krieg 1905 – nicht in Vergessenheit geraten sollte. Sie hob auch die Verflechtungen zwischen dem kolonialen Projekt und der Lebensreform hervor, indem sie auf die wirtschaftlichen Profite einiger Mitglieder hinwies, die auf der Ausbeutung kolonisierter Menschen beruhten.
Im letzten Panel wurde die Aktualität der Lebensreform näher diskutiert. STEFAN RINDLISBACHER (Fribourg) erstellte einen spannenden Vergleich zwischen der Corona-Pandemie und der spanischen Grippe, um Verbindungen zwischen maßnahmeskeptischen Milieus im langen 20. Jahrhundert zu skizzieren5. Die Leitfrage seiner Präsentation war, ob die Konfliktlinie zwischen universitärer Medizin und Alternativmedizin in Seuchen-Kontexten schon länger bestehe. Bereits für 1918 fand Rindlisbacher Schriften des schweizerischen Naturheilvereins, die Medikamente ablehnten und auf die Selbstheilungskraft des Körpers setzten. In solchen Milieus käme die Impfgegnerschaft auch schon 1918 deutlich zum Vorschein; die Impfung galt als Schwächung der körpereigenen Abwehrkräfte. Diese Überzeugung sei exemplarisch für eine Haltung, die für die Verantwortung des Menschen für seine eigene Gesundheit wirbt und sich gegen autoritäre Eingriffe positioniert. Dennoch müsse beim Vergleich beider maßnahmefeindlichen Haltungen beachtet werde, dass der Stand des medizinischen Wissens sich zwischen 1918 und 2020 beträchtlich verändert hat.
JUDITH BODENDÖRFER (München) befasste sich mit dem theosophischen Menschenbild und mit seiner Bedeutung für die Alternativmedizin. Mit ihren zahlreichen Zeitschriften und Logen in Ländern von Amerika bis Asien spielte die theosophische Gesellschaft die Rolle eines Katalysators und Fokus für esoterische Strömungen. Der gemeinsame Nenner der vielgestaltigen Bewegung war ein monistisches Weltbild, das Körper und Seele als Aggregat verstand. Impfgegnerschaft, Aufmerksamkeit für die psychische Anlage der Kranken und die wichtige Rolle des Geistes gegen eine Infizierung seien Prinzipien der alternativen Medizin, die von der theosophischen Gesellschaft konzeptualisiert und getragen wurden. In der anschließenden Diskussion wurden die Rolle des liberalen Denkens in der Lebensreform des 19. Jahrhunderts und dessen Konflikt mit der zunehmenden Staatlichkeit dieser Zeit unterstrichen.
Die Freiburger Tagung war eine wichtige internationale Veranstaltung für alle, die wie die Autorin zum zeitgenössischen Nachlass der Lebensreform forschen. Die Präsentationen führten zu anspruchsvollen und produktiven Diskussionen, in denen Perspektiven für die kommende Lebensreform-Forschung geöffnet wurden. Für die Zukunft ist ein größeres Kolloquium mit internationalen Forscher:innen aus den Literatur-, Kultur- und Kunstwissenschaften geplant.
Konferenzübersicht:
Panel I: Transfer und Verflechtung
Johannes Bosch (Universität Heidelberg): Nationale Einflussangst. Austausch und Abgrenzung im deutschen und französischen Naturismus
Alexandra Hondermarck (Institut d'études politiques, Paris): Mouvement végétarien et réforme de la vie: transferts et circulations entre la France, la Suisse et la Belgique (années 1880-1945)
Léo Bernard (École Pratique des Hautes Études, Paris): Jacques Louis Buttner et le naturisme théosophique des deux côtés de l'Atlantique
Andreas Schwab (Universität Fribourg): Moderne Menschen. Künstlerkolonien als Freiraum für alternative Erfahrungen
Kommentar: Uwe Puschner (Freie Universität Berlin)
Panel II: Gender, Sexualitäten und Missbrauch
Sven Reiß (Universität Kiel): Körperliche Kulturkritik: Päderastie in der deutschen Jugendbewegung
Eva Locher (Universität Fribourg): „Reine Körper und reine Gedanken“. Die Freiköperkultur im Zuge der „sexuellen Revolution“ der 1960er Jahre
Kommentar: Maren Möhring (Universität Leipzig)
Keynote Lecture
Detlef Siegfried (Universität Kopenhagen): Wollten Lebensreform und Alternativmilieu dasselbe? Ideen und Praktiken um 1900 und um 1980
Panel III: Kolonialismus und postkoloniale Perspektive
Camille Auboin (Université de Strasbourg): Der weibliche Idealkörper: Hans Paasches Kolonialfotografie (1907)
Anna S. Brasch (Akademie der Wissenschaften zu Göttingen): Zwischen exotischer Verheißung und kolonialer Verdrängung. Semantiken des Fremden und ihre diskursive Grundierung in der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende
Kommentar: Christina Späti (Universität Fribourg)
Panel IV: Pandemie, Protest und Gesundheitspolitik
Stefan Rindlisbacher (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam): „Fort mit der Bazillenfurcht und her mit der Gesundheitspflege!“ Naturheilkunde und Spanische Grippe
Judith Bodendörfer (Universität Fribourg): Das theosophische Menschenbild und seine Bedeutung für die Alternativmedizin
Kommentar: Detlef Siegfried (Universität Kopenhagen)
Abschlussdiskussion: Neue Themen, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge in der historischen Erforschung der Lebensreform
Anmerkungen:
1 Sven Reiß, Päderastie in der deutschen Jugendbewegung. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, in: Zeitschrift für Pädagogik 62, Nr. 5 (2016), S. 670–83.
2 Eva Locher, Natürlich, nackt, gesund: Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945, Frankfurt am Main 2021.
3 Detlef Siegfried / David Templin (Hrsg.), Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980: Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert, Archiv der deutschen Jugendbewegung, Göttingen 2019.
4 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.
5 Siehe auch: Stefan Rindlisbacher, Lebensreform in der Schweiz (1850-1950): Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen, Bern 2022.