Sozioökonomie der Sexualitäten

Sozioökonomie der Sexualitäten

Organisatoren
Sebastian Bischoff, Universität Paderborn; Franz X. Eder / Paul M. Horntrich / Nora Lehner, Universität Wien; Julia König, Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Dagmar Lieske, Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin
Ort
Wien
Land
Austria
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
29.04.2022 - 30.04.2022
Von
Stephanie Rieder-Zagkla, Institut für Geschichte, Universität Wien

Gegliedert in sechs thematische Schwerpunkte, beschäftigten sich auf dieser 3. Jahrestagung des Arbeitskreises Sexualitäten in der Geschichte dreizehn Beiträge mit der Geschichte der Sexualitäten entlang der – in der Forschungslandschaft bislang eher vernachlässigten – Dimensionen des Sozialen und Ökonomischen. Die Beiträge bestanden jeweils aus einem vorab versandten Paper, einer zehnminütigen Zusammenfassung im Rahmen des Vortrages und einer anschließenden zwanzigminütigen Diskussion. Der vorliegende Bericht möchte in weiterer Folge auf diese drei Aspekte verweisen, um die vielfältigen In- und Outputs der Tagung umfassend zu berücksichtigen.

Nach einer Begrüßung und kurzen Vorstellung durch die Organisator:innen sowie einleitenden Worten von Franz X. Eder erfolgte der inhaltliche Tagungsauftakt mit einem Panel zum Thema Sexualität, Biopolitik und Ökonomie. Im ersten Vortrag fragten SANDRO GUZZI-HEEB (Lausanne) und ARNO HALDEMANN (Basel) danach, wie der Begriff der Biopolitik für „widerspenstige“ bzw. der staatlichen Biopolitik gegenläufige Praktiken unterer Bevölkerungsschichten nutzbar gemacht bzw. mit diesen vereinbart werden könne. Sie verstanden Biopolitik nicht „nur als durchdringenden Diskurs ,von oben‘ über Sexualität und Reproduktion“, sondern rekurrierten auch auf den Begriff „Biopolitik von unten“, um Praktiken wie Empfängnisverhütung und Handlungsspielräume verschiedener Bevölkerungsteile besser fassen und dem „Eigensinn“ der Untertanen Rechnung tragen zu können.

SARAH SCHEIDMANTEL (Zürich) beschritt eine „Schnittstelle von Medizin-, Konsum- und Gendergeschichte“ und widmete sich der Frage, wie weibliche, sexuelle Attraktivität um die Wende zum 20. Jahrhundert mittels des Konsums von medizinisch-kosmetischen Vibratoren konstruiert wurde. Diese Vibratoren wurden ursprünglich für medizinische Zwecke und erst später auch zur Schönheitspflege verwendet und fanden an verschiedenen Stellen des Körpers (jedoch unter Auslassung des Intimbereichs) Anwendung. Frauen sollten, wie auch die Bewerbung der Produkte nahelegte, durch ihren Gebrauch (im Gegensatz z.B. zum Tragen eines Korsetts) aktiv an ihrem Körper arbeiten“. Trotz des „Aufkommen[s] von Bubikopf, Zigarette und salopper Mode“ wurde der Körper mehr denn je zum definierenden Merkmal für Frauen – eine Tendenz, die sich, wie die Vortragende ausführte, bis ins 21. Jahrhundert fortsetze, in dem der weibliche Körper nach wie vor „als dauerhaft verbesserungswürdig“ erachtet werde.

Am Beispiel des liberalen Aidskonsenses in Westdeutschland Ende der 1980er-Jahre beschäftigte sich DIMITRA BARBARA KOSTIMPAS (München) mit dem Verhältnis von Staat, Zivilgesellschaft und Subjekt. Die Trennung zwischen einer privaten und einer öffentlichen Sphäre wurde dabei immer wieder neu ausgehandelt. Diese Aushandlungen hatten wiederum Auswirkungen auf die Vorstellungen von Sexualität, die als unabhängig vom Staat betrachtet wurde. Dementsprechend argumentierte die deutsche Aids-Hilfe mit der „Forderung nach Freiwilligkeit“ – ein Aspekt, dem Kostimpas auch mit dem Übertitel ihres Vortrages („Kondom statt Quarantäne“) Rechenschaft trug.

Das zweite Panel widmete sich der sexuellen Arbeit und dem Handel mit Sex. SARAH FRENKING (Erfurt) referierte anhand zweier Fallbeispiele über die transnationalen Dimensionen des Mädchenhandels im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Sie veranschaulichte, wie Mädchenhandel zunehmend nach einer kapitalistischen Logik definiert und umschrieben wurde: Die Händler wurden zu „Geschäftsleuten“, die „Handelswege“ nutzten und gängige Transport- und Kommunikationsmittel heranzogen. Dabei wurde die Dimension des Ökonomischen von der Vortragenden noch um die Perspektive der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen der Arbeitnehmerinnen im Inland erweitert und um die Kategorie des Moralischen – beispielsweise durch häufige Infragestellung der tatsächlichen Hilfsbedürftigkeit der betroffenen Frauen durch Zeitgenoss:innen – ergänzt.

Ebenfalls der Prostitution widmete sich NORA LEHNER (Wien). Ihr Fokus lag auf der Stadt Wien der 1940er- bis 1960er-Jahre, als der Verkauf sexueller Dienstleistungen ein „lediglich geduldetes, nicht aber erlaubtes Gewerbe“ war. Frauen konnten daher die vereinbarte Bezahlung für den Verkauf sexueller Dienstleistungen nicht einklagen, diesbezügliche Klagen seien nicht überliefert. Lehner näherte sich der Thematik daher über einen anderen, nicht minder interessanten Weg, nämlich mittels Gerichtsakten von „Unzuchtsdiebstählen“, bei denen Sexarbeiterinnen vorgeworfen worden war, (potentielle) Kunden bestohlen zu haben. Sie fragte dabei nach „(Ver)Handlungsstrategien und Verkaufspraktiken“ der Frauen, um in dem „rechtlich nicht stabilisierten Markt zu navigieren“, und machte als solche beispielsweise das Beharren mancher Frauen auf Safer-Sex-Praktiken oder aber den unangemeldeten Verkauf sexueller Dienstleistungen aus.

Sandro Guzzi-Heeb gab in der anschließenden Diskussion zu bedenken, dass viele Terminologien, die Historiker:innen benutzen, eigentlich von der Polizei oder anderen Institutionen bzw. staatlichen Akteur:innen „konstruiert“ würden. „Was die Akten zeigen“, seien, so Guzzi-Heeb, „Praktiken, die etwas mit Ökonomie, Sex zu tun haben, aber auch mit Geschenken, Lust, Gelegenheit“. Daher stellte er die Frage, ob man den Begriff „Prostitution“ überhaupt gebrauchen solle. Priska Komaromi führte diesbezüglich aus, dass es selbstverständlich eines reflektierten Gebrauches der Begriffe bedürfe, der so spezifisch sein müsse wie möglich. Während ein Tagungsteilnehmer kritisch anmerkte, ob die Verwendung dieser Kategorien nicht bedeute, dass man moralische Kategorien übernehme und damit den Blick darauf verstelle, was gewisse Praktiken für die Menschen bedeuten, entgegnete eine Teilnehmerin, man würde durchaus darüber sprechen, was diese Kategorien bedeuten, und sie nicht einfach übernehmen. Dies sei Teil des Forschungsgegenstandes. Wenn auch betreffend die Frage der (Nicht-)Verwendung von für die Tagung zentralen Begrifflichkeiten wie Prostitution oder Sexualität kein abschließender Konsens unter den Diskutant:innen erzielt werden konnte, kann dies auch als Stärke der Tagung hervorgehoben werden. So bestand – dank der ungewöhnlich langen Zeit für Diskussionen – die Möglichkeit, komplexere Fragen aufzuwerfen und zu diskutieren. Damit konnte (rekurriert man auf Sandro Guzzi-Heebs und Arno Haldemanns Vortrag bzw. Paper und verfremdet die darin verwendeten Begriffe „Eigensinn“ und „Widerspenstigkeit“ ein wenig) auch dem „Eigensinn“ der Vortragenden und des diskutierfreudigen Publikums sowie deren „Widerspenstigkeit“ und Freude am kritischen Hinterfragen genügend Raum gegeben werden.

Nach dieser anregenden Diskussion führte der erste Vortrag des dritten Panels neuerlich in das Dickicht der Begrifflichkeiten und Definitionen. In ihrem Paper zu Prostitution im frühneuzeitlichen Zürich warf ADRINA SCHULZ (Zürich) die grundlegende Frage auf: „Whom am I researching?“ Termini wie „Prostitutierte“ oder „Sexarbeiterin“ fänden sich in den frühneuzeitlichen Quellen nicht, und auch Geld könne in der Frühen Neuzeit in diesem Zusammenhang nicht als entscheidendes Merkmal bezeichnet werden. Die Frauen würden in den Akten vielmehr als „gemeine Metzen“ oder „gemeine Weiber“ bezeichnet, und ihre Definition erfolge eher entlang der Kategorie der „public promiscuity“ denn der monetären Gegenleistung für ihre Tätigkeit. Der Konnex zwischen Prostitution und Geld fände sich, wie Schulz konstatierte, nämlich erst ab dem 18. Jahrhundert.

PRISKA KOMAROMI (Berlin) beschäftigte sich mit dem Sextourismus italienischer Männer nach Ungarn in den 1970er-Jahren. Den Begriff „Sextourismus“ gebrauche sie dabei, wie sie bereits in ihrem Paper vorausgeschickt hatte, im weitesten Sinne, nämlich sowohl für „men buying sex while in Hungary“, als auch für solche „engaging in sexual relationships of a transactional nature“. In ihrem Vortrag fokussierte sie insbesondere auf die Fremd- und Selbstwahrnehmungen der betroffenen Frauen und Männer, die die Beziehungen zueinander zumeist als Freundschafts- bzw. Liebesbeziehungen darstellten.

In einer kurzweiligen und ausgesprochen gelungenen Keynote präsentierte KATEŘINA LIŠKOVÁ (Brno) Forschungsergebnisse über „women as sexual beings in state socialism“. Sie machte zwei Diskursverschiebungen im Kontext der Stellung der Frau in der Tschechoslowakei aus, auf die sie näher einging. Während in der ersten Periode zwischen 1948 und 1963 die Gleichberechtigung von Frauen und damit ihr Zugang zu Bildung und Arbeit im Mittelpunkt stünde, läge in der zweiten Periode, die Liškova als „revising the utopia” begrifflich fasste, in den 1960er- bis 1980er-Jahren der Fokus auf Frauen in ihrer Rolle als Mütter – mit teils ungewollten Konsequenzen in der Praxis. So rückte in den 1950er- bzw. frühen 1960er-Jahren die Erforschung des weiblichen Orgasmus in den Fokus, dem im Jahr 1961 sogar eigens eine interdisziplinäre Konferenz gewidmet war. In der konservativeren Periode der 1960er- bis 1980er-Jahre wiederum stiegen die Scheidungszahlen unerwartet rasch an. Als Scheidungsgrund wurde dabei von Frauen wiederum häufig ihre „sexual dissatisfaction” vorgebracht.

Im folgenden Panel zu Sexualität, Macht, Gewalt und Kapitalien widmete sich DANIEL GUNZ (Wien) anhand eines Quellensamples bestehend aus Zeitungsberichten, Militärgerichtsakten und Selbstzeugnissen aus den Jahren von 1900 bis 1914 soldatischer Sexualität und diesbezüglichen Bezugspunkten zu symbolischem und ökonomischem Kapital. Er fragte danach, ob militärische Männlichkeit, durch Uniformen repräsentiert, ein symbolisches Kapital darstelle, und spannte den Bogen anschließend bis zu Prostitution im Militär. Dabei konzentrierte er sich einerseits auf weibliche Prostituierte und andererseits auf die gleichgeschlechtliche Prostitution von Soldaten, die er mit Fragen nach Macht, Hierarchie und sexueller Gewalt in Verbindung setzte.

Im Panel zum Thema Sex-Shopping widmete sich HANS-PETER WEINGAND (Graz) dem ehemals größten Erotik- und Pornographieanbieter in Europa, dem Beate-Uhse-Konzern, und dessen Aufstieg und Fall in Österreich von den 1970er- bis in die 2010er-Jahre. Er legte den Fokus auf die innenpolitischen Widerstände und strafrechtlichen Hürden bei der Eröffnung des ersten Versandhauses des Konzerns in Österreich im Jahr 1971. Mit seinem Verweis auf die hohen Kosten von Erotik- bzw. pornographischen Produkten in den 1970er-Jahren spannte Weingand in der anschließenden Diskussion wiederum einen Bogen zu den vorhergehenden Vorträgen: Ob es sich um Vibratoren, Prostitution oder eben pornographisches Material handle, ökonomisches Kapital sei für deren Konsum häufig zentral (gewesen).

Pornographie, diesmal jedoch nicht aus dem Blickwinkel der Produzent:innen, sondern der Distribuent:innen, war auch das Thema von UTA BRETSCHNEIDERs (Leipzig) Vortrag. Sie präsentierte – gemeinsam mit JENS SCHÖNE (Berlin) generierte – Forschungsergebnisse zu Erfahrungswelten sowie Lebenswegen von Inhaber:innen von Erotik- und Sexhops in Klein- und Mittelstädten Ostdeutschlands seit 1989 bzw. 1990. Das Projekt basiert auf fünfzehn qualitativen Interviews mit Sexshopbetreiber:innen, ergänzt um Photographien der Shops bzw. der Unternehmer:innen – denn als solche, so Bretschneider, verstanden sich die Sexshopbetreiber:innen vorwiegend. Die Vortragende zeichnete unter anderem die komplexen Ost-West-Beziehungen nach und hob in ihrem (gemeinsam mit Jens Schöne verfassten) Paper hervor, dass der Westen „in den bisherigen Interviews immer wieder eine Rolle“ spiele, „bei den Geschichten vom Anfang, bei den Geschichten vom Bleiben, bei Warenwegen, bei Warenwelten und Informationsflüssen“. Sie mochte zwar, wie Bretschneider beteuerte, leider nicht rechtzeitig gekommen sein, „um die Shops in ihrer ,Hoch-Zeit' zu erleben“, ihre Befunde fingen jedoch konzise zahlreiche Aspekte der Lage dieses „sterbenden Berufsstand[es]“ ein.

Im abschließenden Panel zu Diskurs und Ökonomie der Pornographie widmete sich SEBASTIAN BISCHOFF (Paderborn) mittels der Analyse mehrerer Periodika rechten Perspektiven auf Pornographie-Debatten in der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er-Jahren. Mitte der 1960er-Jahre wurden Stimmen im rechten Spektrum gegen „eine fortschritts- wie technikbesessene, vermasste, hyperindividualisierte und damit bindungslos machende Industriegesellschaft“ immer lauter. Demgegenüber hoben rechte Strömungen die „Trennung von Gelderwerb und einzelner, vermeintlich hiervon (noch) nicht affizierter Sphären des Alltags“ hervor und stellten letztere als „Inseln der Reinheit“ dar, die es zu schützen gelte. Sexualität galt, wie Bischoff erläuterte, der rechten Literatur zufolge gleichsam als ein „letzter Zugang zum elementar Ursprünglichen“ wie auch als etwas Gefährliches, Unkontrolliertes, das es durch die Institution der Ehe zu kontrollieren gelte. Pornographie gefährde, so die Vorstellung der rechten Kreise, eben diese „Reinheit“ mittels Kommerzialisierung und wurde dementsprechend von ihnen als bedrohlich wahrgenommen.

Im letzten Vortrag widmete ALEXANDRA KEINER (Berlin) sich der Kommerzialisierung von Pornographie. Sie machte eine Entwicklung aus, die von einer ersten Phase der „Pre-Ökonomisierung“ (1800–1960) über eine Phase der „industrielle[n] Kommerzialisierung“ (1960–1990) und eine dritte Phase des „Aufkommen[s] der Internet-Pornographie“ (1990–2006) bis hin zu einer vierten und letzten Phase der „Plattformisierung“ dieser Internet-Pornographie (ab 2006) führte, in der Plattformen eigene Infrastrukturen (samt Werbeplattformen und Studios) aufbauten. Neben den Schattenseiten der gegenwärtigen Entwicklung, wie der zunehmenden Abhängigkeiten der Darsteller:innen und Produzent:innen von den großen Plattformen, benannte die Vortragende auch Herausforderungen in der Praxis, beispielsweise die Verbreitung von alternativer, nicht heteronormativer Pornographie.

Damit ging eine Tagung zu Ende, deren Beiträge mittels zahlreicher thematischer Überschneidungen ausgesprochen gut aneinander angeknüpft hatten. Während am ersten Tagungstag das Thema Prostitution einen Schwerpunkt darstellte, wurden einzelne Aspekte dieses Themengebietes auch am zweiten Tagungstag aufgegriffen. Ebenso spannte am zweiten Tagungstag das Thema Pornographie einen Bogen zwischen zahlreichen Vorträgen, wobei die Perspektiven ebenso vielfältig waren wie die Schwerpunktsetzungen. Sie reichten von einem Fokus auf die Produzent:innen von Pornographie über die Selbstwahrnehmung von Distribuent:innen, wie beispielsweise Sexshopinhaber:innen, die ihrerseits aufgrund des Erfolgs der Internet-Pornographie an Geschäft einbüßten, bis hin zu jener historisch neueren Thematik der Internet-Pornographie und ihren noch wenig beachteten Aspekten.

Bedauerlicherweise waren – wie bereits Franz X. Eder in seinen einleitenden Bemerkungen hervorgehoben hatte – weder die Alte Geschichte noch die Mittelalterliche Geschichte auf der Tagung vertreten. Der Schwerpunkt lag vielmehr (von wenigen Ausnahmen abgesehen) im 20. Jahrhundert – was einerseits eine Konzentration auf diesen Untersuchungszeitraum ermöglichte, den Fokus aber andererseits verengte. Geographisch war ein Schwerpunkt der Vortragenden auf Mitteleuropa (insbesondere auf Österreich, Deutschland und die Schweiz) zu beobachten – erfreulicherweise jedoch ergänzt um andere Perspektiven, unter anderem zur Tschechoslowakei und zu Ungarn.

Die Abschlussdiskussion nutzten anschließend alle Teilnehmenden zu einem intensiven Austausch. Franz X. Eder verwies auf jene Abgrenzungsfragen, die sich im Rahmen der verschiedenen Vorträge herauskristallisiert hatten: Während im Kontext von Prostitution offenkundig ökonomische Transfers stattfänden, sei es bei der Einordnung von Praktiken im Zusammenhang mit „Naturaltausch, Geschenkannahme, Überredung, Verführung oder Nötigung“ bereits schwieriger, ökonomische Aspekte mitzudenken. Besonders komplex sei dies schließlich im Kontext von jeder Form von Liebe. Wie verhält es sich beispielsweise mit der Ehe selbst? In diesem Kontext sei es schwierig, mit einem materialistischen Begriff zu arbeiten; die Bezugnahme auf Kapitalien hingegen sei von Vorteil, weil man dabei „Materielles mit Immateriellem und Symbolischem vermischen“ könne.

Ein Gasthörer fasste abschließend seinen Erkenntnisgewinn aus der Tagung folgendermaßen zusammen: „Ich bin mit der romantischen Vorstellung hergekommen, dass Sex nichts mit Geld zu tun hat.“ Auf der Tagung habe er „gelernt, dass mit Sex Stimmung gemacht wird, mit Sex Geld gemacht wird, unterschiedliche Akteure involviert waren, ominöse Firmen und kleine deutsche Sexshopbesitzer:innen.“ Viel gelernt hatten dank der konzisen und inhaltlich interessanten Papers und Vorträge, aber auch dank der anregenden Diskussionen gewiss beide Seiten – das Publikum wie auch die Vortragenden selbst.

Konferenzübersicht:

Eröffnung durch die Organisator:innen

Panel 1: Sexualität, Biopolitik und Ökonomie
Moderation: Franz X. Eder (Universität Wien)

Sandro Guzzi-Heeb (Universität Lausanne) / Arno Haldemann (Universität Basel): Biopolitik, Sozioökonomie der Sexualität und die Widerspenstigkeit der Untertanen. Drei Schweizer Regionen zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert

Sarah Scheidmantel (Universität Zürich): „Der auserlesendste Strauss köstlichen Aromas ist nichts gegen den Duftreiz schöner gesunder Frauen“. Die Konstruktion weiblicher sexueller Attraktivität durch den Konsum medizinisch-kosmetischer Vibratoren um 1900

Dimitra Barbara Kostimpas (Ludwig-Maximilians-Universität München): Kondom statt Quarantäne – Zur politischen Ökonomie der Aidskrise und ihrer Bearbeitung in Westdeutschland der 1980er Jahre

Panel 2: Sexuelle Arbeit und Handel mit Sex
Moderation: Sebastian Bischoff (Universität Paderborn)

Sarah Frenking (Universität Erfurt): Weitverzweigter Handel. Transnationale Mobilität, kommerzieller Sex und der Kampf gegen den „internationalen Mädchenhandel“ 1900–1935

Nora Lehner (Universität Wien): „Für den GV hatte ich vom Anzeiger keinen Betrag verlangt, rechnete aber mit einem Geldgeschenk.“ – Verhandeln über sexuelle Dienstleistungen im Wien der 1940er bis 1960er Jahre

Panel 3: Politisierung der sexuellen Arbeit
Moderation: Julia König (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

Adrina Schulz (Universität Zürich): Public Women or Poor Daughters? Conceptions of Prostitution in Early Modern Zurich

Priska Komaromi (Humboldt-Universität zu Berlin): Buying and Selling Sex under Consumer Socialism: Prostitution, Tourism and “Hard Currency” in 1970s Hungary

Keynote-Vortrag
Moderation: Julia König (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

Kateřina Liškova (Masaryk University Brno): Women as Sexual Beings in State Socialism. How the State Interest in Reproduction Translated into Research on the Female Orgasm and how the Pro-family Policies Fueled Divorce

Panel 4: Sexualität, Macht/Gewalt und „Kapitalien“
Moderation: Nora Lehner (Universität Wien)

Daniel Gunz (Universität Wien): Das sexuelle Kapital des Soldatenstands. Die Sozioökonomie soldatischer Sexualität in den Armeen Österreich-Ungarns 1900–1914

Panel 5: Sex-Shopping
Moderation: Paul M. Horntrich (Universität Wien)

Hans-Peter Weingand (Universität Graz): „Beate rief, und alle kamen“. Aufstieg und Fall des Beate Uhse-Konzerns in Österreich 1970–2019

Uta Bretschneider (Zeitgeschichtliches Forum Leipzig): Provinz. Geschäft. Lust. Einblicke in ein Forschungsprojekt zu Lebenswegen und Erfahrungswelten von Erotik- und Sexshopinhaber:innen in ostdeutschen Klein- und Mittelstädten

Panel 6: Pornographie: Diskurs und Ökonomie
Moderation: Dagmar Lieske (Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin)

Sebastian Bischoff (Universität Paderborn): „… im seelenmordenden Sex-Betrieb erstickt“. Antikapitalismen von rechts in den bundesrepublikanischen Pornographie-Debatten um 1970

Alexander Keiner (Weizenbaum Institut Berlin): Internet-Pornographie: Die andere Seite des kommerziellen Internets

Abschlussdiskussion