Plausibilisierungsdynamiken und Evidenzpraktiken von der Antike bis zur Gegenwart

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Organisatoren
Antje Flüchter / Birte Förster / Britta Hochkirchen / Silke Schwandt, Universität Bielefeld
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Fand statt
Digital
Vom - Bis
24.02.2022 - 26.02.2022
Von
Anna Maria Neubert / Christian Wachter, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Angesichts der Invasion der Ukraine durch Russland am 24. Februar 2022 bekam der interdisziplinäre Workshop, der an diesem Tag begann, eine ganz eigene und ungeplante Aktualität. Denn bei der Frage nach Wahrheit, Anerkennung und Gültigkeit von Fakten und Argumenten entsteht ein dynamisches Wechselverhältnis, das bestehende Referenzrahmen stabilisieren, aber auch destabilisieren kann. Dies wurde am Beispiel der tagesaktuellen Entwicklungen in besonderer Weise deutlich. Der Fokus der Veranstaltung lag daher nicht nur auf der Betrachtung bestehender Dichotomien, sondern vor allem auf den Prozessen, die in Form von Plausibilisierungsdynamiken und Evidenzpraktiken ablaufen, wie Silke Schwandt und Birte Förster in ihrer Einführung betonten. Dabei rückten sie zwei zentrale Herangehensweisen, sich dem Themenkomplex zu nähern, in den Fokus: zum einen die Beobachtung eigener Plausibilisierungspraktiken in der wissenschaftlichen Arbeit und zum anderen das Beobachten historischer Logiken und Brüche, die sie exemplarisch an Beispielen aus dem Mittelalter (Autorität der Bibel), der Frühen Neuzeit (energeia vs. evidencia), der Postmoderne („unsichere“ Geschichte) und der Digitalisierung (likes als Evidenz) erklärten. Sie führten so in verschiedene dynamische Herstellungsprozesse von Plausibilität und Evidenz ein und stießen Überlegungen zu den Phänomenen an, die im Laufe des Workshops aus interdisziplinärer und transepochaler Sicht näher beleuchtet wurden.

JANA-KRISTIN HOFFMANN (Bielefeld) eröffnete das erste Panel mit einem Beitrag zur vergeschlechtlichten Sexualerziehung in den USA in den langen 1950er-Jahren. Anhand von Ratgeberliteratur zur Sexualerziehung arbeitete sie heraus, wie die Unterscheidung in Natur- und Kulturdichotomien zur Plausibilisierung von Geschlechtskategorien beitrug und wie vermeintliche gesellschaftliche Stabilität durch die Anpassung des Weiblichkeitsbildes hergestellt wurde.

ANN-CATHRIN HARDERS (Bielefeld) knüpfte an die Vorstellung einer Dichotomie von Natur und Kultur an und stellte Verwandtschaftsverhältnisse im antiken Rom in den Fokus. Diese waren vor allem durch rechtliche Zuweisungen geprägt, die Personenverbände und Hausgemeinschaften definierten. Die Ungleichbehandlung von Müttern und Vätern in diesen Verbünden wurde mit der Natur als Evidenzkategorie begründet, was zeigt, wie folgenschwer eine solche Definition von Familie als sozialer und rechtlicher Verbund war.

MARIUS RIMMELE (Zürich) stellte die kognitiven und visuellen Evidenzen der „Weibermacht“ in der Druckgraphik des 16. Jahrhunderts vor. Er präsentierte verschiedene Druckgraphiken, die die Unterwerfung von Männern durch das Einwirken von Frauen als Repräsentation des herrschenden Geschlechterkampfs zeigen. Im Kontext des vergleichenden Sehens wurden diese Graphiken zur Plausibilisierung genutzt.

In seinem Kommentar der drei Vorträge führte Sascha Dickel (Mainz) zunächst in eigene Überlegungen zu Evidenzpraktiken und deren Bedeutung für die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft ein. Dabei hob er besonders die Evidenzpraktiken in zeitgenössischen Gesellschaften hervor, die durch Überbietungsdynamiken und Pluralität geprägt seien und dadurch selbst leicht zum Konfliktgegenstand würden. Dickel identifizierte drei Felder, die aus den Vorträgen hervorgehend Überlappungen aufwiesen und zum Verständnis von De- und Restabilisierungsverfahren in der Evidenzgenerierung beitrügen. Er zeigte auf, dass erstens Evidenzpraktiken immer an gesellschaftliche Domänen und Funktionsfelder gebunden seien und so in das jeweilige wirtschaftliche, wissenschaftliche oder künstlerische Subsystem ausstrahlen, dass zweitens Evidenzen sowohl über Differenz als auch über Ähnlichkeit erzeugt und so kulturell bedeutsam gemacht werden können und dass drittens Evidenz- und Plausibilisierungsdynamiken auch immer über Medien erzeugt werden, um Distanzen zu überwinden. Im Prozess der Evidenzerzeugung stehe daher immer die Dichotomie von Klarheit und Gewissheit im Gegensatz zu Unschärfe und Ambiguität.

Das zweite Panel eröffnend, sprach ELKE WERNER (Mainz) über transhistorische Ausstellungen und die Evidenzen des Vergleichs in Ausstellungssettings. Anhand konkreter Beispiele aus der Ausstellung „Unvergleichlich: Kunst aus Afrika im Bode-Museum“ stellte sie verschiedene Herangehensweisen an Informations- und Wissensgenerierung in der kuratorischen Praxis vor, die nicht immer nur über die Plausibilisierung der Objekte funktioniert, sondern vor allem durch die Berücksichtigung der Kontexte an Bedeutung und Schärfe gewonnen habe.

THOMAS MEIER (Heidelberg) gab mit seinen Überlegungen zu evidenter Materialität einen philosophischen Einstieg in das Thema der Materialität als Wahrmacherin. Dabei verknüpfte er verschiedene Überlegungen von der Antike bis zur Neuzeit, die alltagsweltliche Evidenzen beschreiben, und zeigte auf, wie diese durch Empirie und Material als Mittler zwischen Begriff und Dingen fungieren können.

Anhand bildgebender Verfahren in der Medizin demonstrierte PAULA MUHR (Berlin), wie mithilfe von KI-basierten Imputationsverfahren verborgene und unsichtbare Strukturen im Gehirn sichtbar gemacht werden können. Diese digitalen Bildgebungsverfahren trügen zur Plausibilisierung der anatomischen Ergebnisse bei und helfen, Erkenntnissen Bedeutung zuzuschreiben und so Unsicherheiten im Umgang mit Krankheiten zu reduzieren.

MALTE WITTMAACK (Bielefeld) sprach über Körpervergleiche im Osmanischen Reich und wie diese durch plausibilisierende Dynamiken gerechtfertigt wurden. Auf der Basis verschiedener Reiseberichte zeichnete er mehrere Mechanismen des Wandels rund um die Bewertung des Körpers und deren Legitimierung durch die Differenzierung von äußerlichen Merkmalen nach. Dabei betonte er besonders den Wandel von vermeintlicher Objektivität bestehenden Wissens zu Vergleichspraktiken und wie diese zum Wahrheitsgehalt neu geschaffenen Wissens beitrugen.

Im folgenden Beitrag fragte MIRJAM HÄHNLE (Basel), wie in Nahost-Reiseberichten des 17. und 18. Jahrhunderts Evidenz generiert und somit historische Erkenntnisse produziert wurden. Ein Augenmerk legte sie dabei auf die begrifflich-konzeptuelle Einordnung von Plausibilisierung und Evidenz und machte auf diese Weise deutlich, was für eine große Rolle Praktiken zur Herstellung von Gewissheit und Dynamiken von Glaubhaftigkeit bei der Anerkennung historischer Narrative spielen und wie sie damit immer zur Wissensgenerierung über Vergangenheiten beitragen.

EVA-MARIA KONRAD (Berlin) ging auf die Frage ein, inwiefern Plausibilitätskriterien für literarische Uchronien geltend gemacht werden können. Dafür stellte sie einen Vergleich mit der kontrafaktischen Geschichtsschreibung an, für die bereits entsprechende Kriterien formuliert worden sind. Konrad resümierte, dass sich diese Kriterien gut auf literarische Uchronien übertragen ließen, und führte dies insbesondere auf ihre Beobachtung zurück, dass beide Domänen trotz mancher Abweichung ähnliche Intentionen verfolgten und ein geteiltes Erkenntnisinteresse hätten.

VERENA EBERMEIER (Regensburg) besprach narrative Strategien der Plausibilisierung in bayerischen Landeschroniken des 15. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt standen Erzähltechniken, mit denen die Chronisten Raum und Zeit als Leitkategorien für ihre Darstellungen bemühten. Figuren und deren innere Prozesse werden in räumlicher Nähe und Distanz zueinander präsentiert, womit die Chronisten kein striktes Nacheinander von Ereignissen, sondern einen Blick „von oben“ eröffnen und damit Orientierung stiften. Gleichzeitig „durchwandern“ die Erzähler den Raum in verschiedene Richtungen, wodurch Multiperspektivität entsteht, so dass die Chronisten den Raum in den Dienst der Zeit stellen, wobei der Raum als zentrale narrative Koordinate fungiert.

Ins Zentrum ihres Kommentars stellte Rebecca Mertens (Bielefeld) die Frage nach dem Verhältnis zwischen Evidenz- und Plausibilisierungspraktiken. Sie führte aus, dass erstere zu Evidenzwahrnehmungen und -effekten führen, während zweitere eher den Umgang mit Unsicherheit, Vollständigkeit oder Generalisierbarkeit klären. Daran schlossen sich Fragen insbesondere nach einer Krise der Plausibilitätspraktiken, die womöglich auf eine Pluralisierung von Evidenzpraktiken zurückgehe.

Mario Wimmer (Basel) kommentierte, für die Analyse von Evidenz- und Plausibilitätspraktiken würden zumeist die entsprechenden Produkte betrachtet. Es sollte jedoch stärker auf die dahinterstehenden Aktivitäten fokussiert werden. So könnte auch situiertes Wissen, das Subjekte beim Anwenden von Evidenzpraktiken erhalten, klarer herausgearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund votierte Wimmer dafür, bei Analysen die Evidenz von Objekt und Subjekt zusammenzuführen.

ANNA OBERERLACHER (Innsbruck) eröffnete das letzte Panel des Workshops mit einem Beitrag zur Herstellung von Evidenz durch Fiktion. Dabei ging sie vor allem auf ein literarisches Grundprinzip ein: wie das Absurde plausibel gemacht wird und Dichtung und Wahrheit verschwimmen lässt. Betrachtet wurden Interviews als Literaturform, die zwar als zentral zur Herstellung von Evidenz gelten, jedoch auch als Mittel zwischen Fakt und Fiktion eingesetzt werden. Evidenzpraktiken, so zeigte sie, werden also ganz bewusst produktiv von Autor:innen eingesetzt, um im literarischen Feld zu bestehen.

CHRISTOPHER DEGELMANN (Berlin) beleuchtete, wie im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. durch die attische Rhetorik Fakten geschaffen wurden, und erläuterte, wie nah Dynamiken rund um Wahrheit, Unwahrheit sowie Kenntnis und Unkenntnis in Volksversammlungen und vor Gerichtshöfen in Athen beisammen lagen. Denn im Gegensatz zur modernen Rechtskulturen galt die Argumentation der reinen Plausibilisierung und war getrennt von Evidenznachweisen, was oft in Übertrumpfungsspiralen endete.

STEFAN GORISSEN (Bielefeld) zeigte anhand eines Rechtsstreit zum Kaufpreis von Leinen im 18. Jahrhundert, wie Buchführung zur Gewinnung von Evidenz führte. Er verfolgte die Frage, was als Beweis anerkannt wurde und wie sich unterschiedliche Systeme der Buchführung als eigene Informationssysteme entwickelten, um neben Evidenz auch Plausibilisierung herzustellen.

In seinem Kommentar fasste Wolfram Drews (Münster) die vorgestellten Beispiele aus den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern zusammen und hob hervor, dass unterschiedliche Kontextualisierungen gepaart mit unterschiedlichen sozialen Praktiken zu vielen Formen von Plausibilisierungsdynamik führen können. Dabei stellte er besonders den Wirklichkeitsbezug in den Mittelpunkt, der als Referenzrahmen zu Plausibilisierungszwecken herangezogen werden kann. Er schloss seinen Kommentar mit zentralen Fragen zu Funktion von Evidenzmitteln und -institutionen und fragte, welche gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft zukommt und inwiefern diese zur Wirklichkeit beitragen.

Antje Flüchter und Britta Hochkirchen (beide Bielefeld) fassten in ihrem Schlusskommentar die vielschichtigen Einblicke zu Plausibilisierungsdynamiken und Evidenzpraktiken des Workshops zusammen. Flüchter eröffnete ihre Diagnose mit der Feststellung, dass die Vielfalt der vorgestellten Dimensionen nicht hinderlich, sondern vielmehr eine gelungene Zusammenstellung der Fragestellung war und so die vielen Arten von Evidenz- und Plausibilisierungspraktiken gut herausgearbeitet wurden. Auffällig war in ihren Augen die immer wieder auftauchende Dichotomie von Naturalisierung und Kulturalisierung, die zu Evidenzzwecken gleichermaßen herangezogen wird. Ebenso wie Drews zielte auch Flüchter auf die Verantwortung ab, die Wissenschaft übernehmen muss, um Geschehenes, Geschriebenes und Erlebtes plausibel und evident zu erzählen. Hochkirchen stellte fest, dass Evidenz und Plausibilität eine starke Praxis der Wechselverhältnisse darstellen. Innerhalb dieser Relation lassen sich verschiedene Ebenen der Praktiken und Dynamiken herausarbeiten, die sowohl durch räumliche als auch durch zeitliche Dimensionen geprägt sind. So entstehen verschiedene Wiederholungsmomente und Konjunkturen, die es erlauben, einer Definition näherzukommen; dennoch gelingt es nicht immer, die beiden Begrifflichkeiten zu fassen. Eine Herausforderung, der sich also alle Disziplinen stellen müssen, ist die genaue Bestimmung der Konzepte in Abgrenzung zu anderen Prinzipien.

Der interdisziplinäre und transepochale Workshop zeigte mit verschiedenen Beispielen die vielen Facetten von Evidenzpraktiken und Plausibilisierungsdynamiken. Gerade weil Forschende aus verschiedenen Disziplinen und wissenschaftlichen Feldern beteiligt waren, ergab sich ein sehr vielfältiges, sich gegenseitig unterstützendes und bereicherndes Bild. Denn um zukunftsfähige Modelle der Gesellschaft entwickeln zu können, bedarf es einer breiten interdisziplinären Basis, die aufzeigt, welche Praktiken und Dynamiken zu bestimmten Ergebnissen führen. Unser Eindruck war, dass es viele Überschneidungen gibt, z.B. wie Evidenzen hergestellt oder Plausibilisierungsmechanismen eingesetzt werden, die über Epochen- und Fächergrenzen hinweg effektiv zur Annäherung an die Phänomene beitragen und unser heutiges Verständnis erklären sowie zukünftige Entwicklungen stützen können. Die aktuellen Krisen der Weltgesellschaft erfordern eine wissenschaftliche Basis und Auseinandersetzung mit vielen Aspekten, und so sehen wir den Workshop als einen sehr gelungenen Beitrag, sich den Prozessen und Dichotomien rund um die Frage von Wahrheit und Wirklichkeit in Wissenschaft und Gesellschaft zu nähern.

Konferenzübersicht:

Birte Förster / Silke Schwandt (Bielefeld): Einführung

Panel I

Jana Kristin Hoffmann (Bielefeld): „When boys become men“ and „when girls learn to be women“. Vergeschlechtlichte Sexualerziehung in den USA als Reaktion auf die Auflösung von Geschlechtergrenzen

Ann-Cathrin Harders (Bielefeld): Mater semper certa est? – Verwandtschaftskonzepte in Rom zwischen Natur, Recht und sozialer Praxis

Marius Rimmele (Zürich): Kognitive und visuelle Evidenzen der Weibermacht in der Druckgraphik des 16. Jahrhunderts

Sascha Dickel (Mainz): Kommentar

Panel II

Elke Anna Werner (Mainz): Transhistorische Ausstellungen und die Evidenzen des Vergleichs

Thomas Meier (Heidelberg): Evidente Materialität. Materialität als Wahrmacher in Plausibilisierungsstrategien der Neuzeit

Paula Muhr (Berlin): The Unobserved Anatomy: Negotiating the Plausibility of the AI-Based Reconstructions of Missing Brain Structures in Clinical MRI Scans

Panel III

Malte Wittmaack (Bielefeld): Plausible Körper – plausible Differenz: Zum Wandel des verglichenen Körpers in der Plausibilisierung der Differenz zwischen deutschsprachigen Reisenden und der Bevölkerung des Osmanischen Reichs 16.–18. Jahrhundert

Mirjam Hähnle (Basel): Ding, Auge, Abbild. Antiquarische Evidenzerzeugung in Nahost-Reiseberichten des 17. und 18. Jahrhunderts

Panel IV

Eva-Maria Konrad (Berlin): Plausibilität als Qualitätskriterium literarischer Uchronien

Verena Ebermeier (Regensburg): Konzepte von Raum und Zeit als narrative Plausibilisierungskoordinaten in Bayerischen Landeschroniken des 15. Jahrhunderts

Rebecca Mertens (Bielefeld) / Mario Wimmer (Basel): Kommentare

Panel V

Anna Obererlacher (Innsbruck): „Es ist schon viel Unsinn über mich verbreitet worden“. Über Evidenzpraktiken in Fiktionalisierungsprozessen

Christopher Degelmann (Berlin): „Jeder weiß, dass ...“: Fakten schaffen in der attischen Rhetorik des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr.

Stefan Gorißen (Bielefeld): Die Evidenz des Rechnungsbuches. Möglichkeiten und Grenzen der Konfliktlösung zwischen Kaufleuten im 17. und 18. Jahrhundert

Wolfram Drews (Münster): Kommentar

Antje Flüchter / Britta Hochkirchen (Bielefeld): Zusammenfassung und Ausblick

Redaktion
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