Kontingenz hoch 2? Chancen und Risiken für Aufsteiger:innen und Außenseiter:innen in kontingenten Lebenswelten

Kontingenz hoch 2? Chancen und Risiken für Aufsteiger:innen und Außenseiter:innen in kontingenten Lebenswelten

Organisatoren
Simon Temme / Daniel Emmelius, DFG-Graduiertenkolleg 1919 „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen
Ort
Essen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
07.07.2022 - 08.07.2022
Von
Simon Hendrik Temme, DFG-Graduiertenkolleg 1919 „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Wie sahen die Handlungsmöglichkeiten randständiger Akteur:innen konkret aus? Inwieweit erzeugte die soziale Position von Außenseiter:innen oder Aufsteiger:innen (und potenziell auch von Etablierten?) Kontingenzen, die das Entwickeln neuer Strategien des Umgangs mit ihnen erforderten und begünstigten? Um über diese und weitere Fragen interepochal und interdisziplinär zu diskutieren, trafen sich Nachwuchswissenschaftler:innen zu einer Konferenz mit dem Ziel, besondere Risiken sowie spezifische Handlungsoptionen und Chancen von Außenseiter:innen und Aufsteiger:innen zu ermitteln.1

JULIAN MÖHRING und DIRK MEDEBACH (Gießen) untersuchten die Rezeption der 1965 zunächst in englischer Sprache erschienenen Schrift „The Established and the Outsiders“ von Norbert Elias in soziologischen Fachzeitschriften. Ihre strukturierende Rezeptionsanalyse zeigte besonders das verstärkte Interesse der soziologischen Forschung an dem Werk seit den 2000er-Jahren auf. Aus rezeptionsanalytischer Perspektive handele es sich um eine „sleeping beauty zweiter Ordnung“ (Medebach). Anknüpfungspunkte für historische Arbeiten bestünden u. a. im Hinblick auf den jeweiligen Habitus von Etablierten und Außenseiter:innen, insofern dieser in den Quellen greifbar wird. In der Diskussion betonten die Referenten die Handlungsoptionen für Außenseiter:innen bei Elias, die sich manchmal Aufstiegschancen erarbeiten, indem sie bewusst Risiken eingingen.

IMOGEN HERRAD (Bonn) beschäftigte sich mit den von Sparta abhängigen Poleis der Periöken auf der Peloponnes, die keine eigenständige Außen- und Militärpolitik betreiben durften. Nach Spartas Niederlage bei der Schlacht von Leuktra (371 v. Chr.) war ihre Zukunft ungewiss, und die Außenseiter:innen standen vor einer existenziellen Entscheidung: Sollten sie Sparta die Treue halten oder abfallen? Die falsche Wahl konnte in der Plünderung der Polis durch die jeweils andere Seite resultieren. In der Diskussion präzisierte Herrad, dass geographische Aspekte – wie die Unzugänglichkeit der Skiritis – und politische Gründe – wie die Verbundenheit der Werft Gytheion mit Sparta – die Entscheidungen beeinflussten.

DANIEL EMMELIUS (Essen) referierte zum Waffentragen und zur Unterbringung der Prätorianer und Stadtkohorten in der frühkaiserzeitlichen Stadt Rom. Prätorianer seien privilegiert, weil sie als Aufsteiger innerhalb des Militärs kürzere Dienstzeiten hatten und einen höheren Sold bezogen. Gleichzeitig seien sie Außenseiter, u.a. da sie nicht aus Rom kamen und sich in einer traditionell militärfreien Stadt befanden. Anders als meist angenommen sei ihre Unterbringung außerhalb der Stadtgrenzen aber weniger eine Reaktion darauf als pragmatisch begründet. Emmelius wies zudem nach, dass die Bewaffnung und militärische Ausrüstung der Prätorianer – anders als oft angenommen – auch innerhalb der Stadt meist sichtbar war. Hinsichtlich der Sichtbarkeit militärischer Elemente zeigte er insgesamt ein variables Vorgehen und anlassbezogene Strategien auf.

DANIELE TORO (Bielefeld) beschäftigte sich mit Etablierten und Außenseiter:innen in transnationalen faschistischen Vergesellschaftungsprozessen (1919–1933). Er stellte bereits vor der Machtübernahme weitreichende Vernetzungen zwischen Faschist:innen und Radikalnationalist:innen fest. Mithilfe der Netzwerkanalyse untersuchte er Verflechtungsprozesse in Deutschland, in der Schweiz und in Italien aus einer relationalen Perspektive und konnte Ver- und Entflechtung sowie Konkurrenz um Machtressourcen nachweisen. Die Netzwerkstruktur mache fließende Dynamiken von Auf- und Abstieg deutlich, die von geopolitischer Lage und Konkurrenzkämpfen abhingen. Die historische Bedeutung randständiger Akteur:innen zeigte sich Toro zufolge als unmittelbare Folge ihrer Marginalität; so wurden manche Akteur:innen bewusst in einer Marginalnetzwerkstellung gehalten.

SIMON TEMME (Essen) stellte den Auf- und Abstieg des griechischen Seefahrers Eudoxos von Kyzikos vor, der im 2. Jahrhundert v. Chr. die Monsunroute über den offenen Ozean nach Indien entdeckt haben soll. Nach dem Aufstieg zum Auftragsfahrer für die ptolemäischen Herrscher unterschlug er Waren und musste fliehen. Aufgrund seines daraus resultierenden Außenseiterstatus musste er literarische Beglaubigungsstrategien für die Steigerung seiner Reputation nutzen. Damit fand er nach einer Suche im gesamten Mittelmeerraum erst in Cádiz Geldgeber für schließlich erfolglose Fahrten über den Atlantik nach Indien. Das Beispiel des Eudoxos spricht für ein dynamisches Konzept der Etablierten und Außenseiter:innen, das Wechsel in beide Richtungen greifbar macht.

MARTHE BECKER (Bielefeld) konzentrierte sich auf die Darstellung der Sarazenen im 5. Jahrhundert beim Kirchenhistoriker Sozomenos, der sie im Werk von Außenseiter:innen zu Aufsteiger:innen machte. Autoren wie Ammianus Marcellinus hatten zuvor ein äußerst negatives Bild dieses Volkes als „marginalisierte Wüstennomaden und Verstoßene“ gezeichnet. Sozomenos stellte die Sarazanen dagegen als orthodoxe Christen, mithin als Vertreter des richtigen Glaubens dar, die nicht zum Arianismus konvertieren wollten.

Der Ansatz der Konferenz, nach Handlungsspielräumen in Figurationen von Außenseiter:innen, Aufsteiger:innen und Etablierten zu fragen, war bewusst offen gestaltet, um Referent:innen vielfältige Spielräume für eigene Zugänge zu ermöglichen. Dieses Vorgehen hat sich als fruchtbar erwiesen, ermöglichte es doch auch in den vielseitigen Diskussionen interepochales und interdisziplinäres Arbeiten an einer gemeinsamen Herangehensweise an diese Thematik, die in der Abschlussdiskussion präzisiert wurde: Betont wurde die Dynamik sozialer Konstellationen von Außenseiter:innen, Aufsteiger:innen und Etablierten, die Handlungsspielräume und Möglichkeiten sowohl für Auf- als auch für Abstiege lässt. Diese Erkenntnis lässt sich für weitere Forschungen nutzbar machen.

Konferenzübersicht:

Julian Möhring / Dirk Medebach (Gießen): Methodologische Potenziale einer Fachdiskussion im Dämmerzustand. Die soziologische Rezeptionsgeschichte von Etablierten und Außenseitern

Imogen Herrad (Bonn): „Viele von den Städten der Periöken waren abgefallen“ (Xen. Ages. 24). Chancen und Schrecken neuer Möglichkeitsräume für Spartas „Bürger zweiter Klasse“ nach der Schlacht bei Leuktra (371 v. u. Z.)

Daniel Emmelius (Essen): Waffenträger in der entmilitarisierten Stadt? Zur Präsenz und Sichtbarkeit der Prätorianer und Stadtkohorten im frühkaiserzeitlichen Rom

Daniele Toro (Bielefeld): Zwischen Ver- und Entflechtung. Formen transnationaler faschistischer Vergesellschaftung 1919–1933

Simon Temme (Essen): Aufstieg durch Exploration? Die Expeditionen des Eudoxos von Kyzikos im Indischen Ozean und Atlantik

Marthe Becker (Bielefeld): Die Söhne Hagars. Sozomenos und die Sarazenen

Anmerkung:
1 Die Konferenz beruht auf einer Idee von Christian Michel, der krankheitsbedingt leider kurzfristig als Organisator zurücktreten musste.

Redaktion
Veröffentlicht am
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts