Nach mehr als zwei Jahren der pandemiebedingten Unterbrechung führte das 2016 am Forschungszentrum Gotha gegründete, von der Gerda Henkel Stiftung geförderte „Netzwerk Alchemie“ wieder eine seiner Vortragsveranstaltungen durch. Das „Netzwerk Alchemie“ dient dem Austausch zwischen Historikern und Naturwissenschaftlern und soll so einen interdisziplinären Zugang zu alchemischen Prozessen der Frühen Neuzeit ermöglichen. Über diesen Ansatz hinaus soll mit diesen Veranstaltungen aber auch generell der nach wie vor kaum institutionalisierten Alchemieforschung ein Forum des Austausches gegeben werden. So trafen sich am 27. Juni 2022 eine Reihe von Alchemieinteressierten, um ihre Forschungsergebnisse zur Diskussion zu stellen. Dabei wurden sowohl Projektkonzeptionen wie auch fortgeschrittene Ergebnisse präsentiert.
Den Anfang machte JÜRGEN STREIN (Buchen), der in seinem Vortrag über „Die Promotion des Herman Nicolai Grim (1641-1711)“ die Biographie des schwedischen Alchemisten und Mediziners nachzeichnete. Nach einem Medizinstudium ging dieser zunächst ohne Doktorgrad mit der Niederländischen Ostindischen Kompanie (VOC) nach Batavia, wo er mehrere Jahre in der Apotheke des Andreas Cleyer (1634-1698) arbeitete. Nach Veröffentlichung zahlreicher Schriften wurde er durch den Hofpfalzgrafen Sigmund von Birken (1626-1681) zum Dr. med. (bullatus) promoviert. Nach seiner Rückkehr nach Europa praktizierte er in etlichen Ländern als Arzt. In einer geplanten Fallstudie soll die erwähnte Promotion zum „Doktor bullatus“ dargestellt und hinterfragt werden. Dies ist insbesondere deshalb von Interesse, da der Wert einer „nicht akademischen Promotion“ damals generell angezweifelt wurde. Grim scheint aber durchaus die notwendigen theoretischen Kenntnisse wie auch praktischen Erfahrungen gehabt zu haben.
HARTMUT KUTZKE (Oslo) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit dem Thema der Edelsteinimitationen, welches in der Frühen Neuzeit hochaktuell war. So finden sich Bezüge in der schönen Literatur wie auch Prozessvorschriften in der experimentellen Literatur. Während sich manche Beispiele bis auf Plinius zurückverfolgen lassen, finden andere Anleitungen bis heute Anwendung. Hartmut Kutzke ordnete das breite Feld der Edelsteinimitationen nach deren zugrundeliegenden Methoden und illustrierte diese mit zahlreichen Beispielen. Häufige Anwendung fanden Vorschriften mit gefärbtem Glas. Aber auch klares, nicht gefärbtes Glas, welches mit Metallfolie hinterlegt wurde, wurde erfolgreich eingesetzt. Demgegenüber stand Kutzke Rezepturen, die plastische Massen benutzten, skeptisch gegenüber. Ziel des Projektes sei es, einen umfassenden Überblick über dieses Themengebiet zu gewinnen und einzelne historische Vorschriften im Labor nachzuarbeiten.
KATHARINA BEIERGRÖSSLEIN (Stuttgart) vom Stadtarchiv Stuttgart präsentierte in ihrem Vortrag mit dem Titel „Alchemielabor im Alten Lusthaus“ einen Teilaspekt des Stuttgarter Stadtlexikons (https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/dts/index.html). Zahlreiche Archivalien, die in Stuttgarter Archiven aufbewahrt werden, erlauben einen umfassenden Einblick in die alchemische Praxis des Herzogs Friedrich I. von Württemberg (1557-1608). Noch heute erstaunt die gute personelle und materielle Ausstattung der Alchemielabors des Herzogs, insbesondere des Laboratoriums im Stuttgarter Alten Lusthaus. So vermittelt eine Inventarliste des Jahres 1608 einen Eindruck von dem vorhandenen Laborinventar, der Art und dem Umfang der durchgeführten alchemischen Arbeiten sowie von der Anzahl der im Labor tätigen Personen. Allerdings wurden in Friedrichs Regierungszeit auch mehrere erfolglose Alchemisten hingerichtet. Damit biete der Stuttgarter Hof ein weiteres zeitgenössisches Beispiel für den Laborablauf eines fürstlichen Laboratoriums.
CLAUDIA WEISS und HOLGER ZAUNSTÖCK (Halle) von der Stabsstelle Forschung der Franckeschen Stiftungen in Halle (Saale) berichteten über die „Alchemische Praxis am Halleschen Waisenhaus im 18. Jahrhundert“ und gaben zunächst einen Überblick über zahlreiche alchemische und pharmazeutische Manuskripte aus dem Archiv der Stiftungen, die bisher noch kaum ausgewertet wurden. Dabei handelt es sich um Archivalien, die vor allem aus dem Bereich der Waisenhaus-Apotheke und der Medikamenten-Expedition der Franckeschen Stiftungen stammen. Weiß hat mit ihrer Masterarbeit „Alchemistische Einflüsse auf die Pharmazie der Glauchaschen Anstalten im 18. Jahrhundert“ bereits erste Grundsteine zu einer Erschließung dieser Quellen gelegt. Ein soeben bewilligtes DFG-Projekt zur alchemischen Praxis am Halleschen Waisenhaus im 18. Jahrhundert wird diese Arbeit nun in den nächsten Jahren weiterführen und vertiefen. Als Beispiel wurde ein Teil der Rezeptur der berühmten Halleschen Goldtinktur Essentia dulcis vorgestellt und Möglichkeiten einer experimentellen Nachstellung dieser Rezeptur angesprochen.
GERHARD HEIDE (Freiberg) vom Institut für Mineralogie der TU Bergakademie Freiberg stellte das Freiberger Institut und dessen Forschungsinteressen vor. Mit der Mineralogie bearbeitet Heide ein der Alchemie unmittelbar zugrundeliegendes Fachgebiet. Naheliegende Anknüpfungspunkte finden sich sowohl in Mineralien wie auch in Gläsern. Aus diesem Grunde verwies Heide auf ein kürzlich bearbeitetes Projekt über „Natürliche und historische Gläser“. So präsentierte er den Anwesenden zahlreiche Proben von gefärbten Gläsern, dazu zählte auch Kunckels Goldrubinglas. Ziel dieses ersten Austausches war es, gemeinsame Interessen und Themenfelder für eventuelle gemeinsame Projekte auszuloten.
Die beiden Michael-Maier-Experten SARAH LANG (Graz) und RAINER WERTHMANN (Kassel) präsentierten sodann in ihren Vorträgen Zwischenergebnisse ihres gemeinsamen Projektes einer Übersetzung und Kommentierung von Michael Maiers Schrift Viatorium (1618) vom Lateinischen ins Deutsche. Sie machten deutlich, dass es sich beim Viatorium (im Gegensatz zur weit bekannteren Atalanta Fugiens) nicht um Mythoalchemie, sondern um eine Diskussion der damals bekannten sieben Metalle auf der Basis des zeitgenössischen „wissenschaftlichen“ Wissens handelte. Methodisch wählten sie dazu einen Vergleich entsprechender Textstellen aus dem Viatorium und der Atalanta Fugiens mit chemischer Plausibilisierung. Lang und Werthmann schlussfolgerten aus dieser Betrachtung, dass Maier nicht nur Bücherwissen hatte, sondern auch über eine eigene Laborerfahrung verfügte.
Im Vortrag von ALEXANDER KRAFT (Eichwalde) über „Dippels Alchemie“ wurde das Leben des bekannten Theologen, Arztes und Alchemisten Johann Conrad Dippel (1673-1734) vor allem mit Fokus auf seine bisher wenig erforschten konkreten alchemischen Tätigkeiten dargestellt. Dabei wurde insbesondere auf das unter seinem Namen berühmt gewordene Oleum Animale Dippelii („Dippels Tieröl“) und den „Dippelschen Wundbalsam“ eingegangen. Auch Dippels Anteil an der Erfindung des Pigmentes „Berliner Blau“ wurde kurz dargestellt. Im Zentrum standen allerdings neue archivalische Funde, die zeigen, dass Dippel den Stein der Weisen aus Phosphor herstellen wollte. Einige detaillierte Rezepte zur Phosphorherstellung und der weiteren experimentellen Vorgehensweise bis hin zum Stein der Weisen wurden diskutiert und für eine mögliche Nachstellung im Labor vorgeschlagen.
Abschließend erläuterten THOMAS MOENIUS (Inzlingen) und JÜRGEN STREIN (Buchen) das von dem Arzt und Alchemisten Johann Otto von Helbig (1654-1698) geprägte Kunstwort „Tessa“. Helbig bezeichnete mit diesem Begriff einen zentralen Baustein seiner Geschöpfkunde, der die Wesenhaftigkeiten der Prinzipien zusammenfasste. Dieses „Sal Naturae“ beinhaltete sowohl ein volatilisches (Sal volatile, „Mercurial=Saltz“) wie auch ein centrales Salz (Sal vitriolium) und sollte Anwendung in Medizin und Alchemie finden. Trotz seines Hinweises, dass es sich vornehmlich in den schleimigen Flüssigkeiten des Menschen fände („Mensch erkenne Dich selbst“) blieb seine konkrete Herkunft bisher unklar. Die Auswertung von in den Archiven früherer Fürstenhöfe aufgefundenen Experimentaltexten macht jedoch deutlich, dass der Speichel (Saliva) experimentelles Ausgangsmaterial der Tessa war. Da aber gerade der Speichel in der zeitgenössischen Medizin als physiologisches Lösungsmittel galt, werden Entwicklungslinien zum abendländischen Alchemiediskurs deutlich. Da Helbig überdies mit wesentlichen Positionen seiner Geschöpfkunde bereits nach Batavia kam, scheine das Tessakonzept den ursprünglich angenommenen Charakter des Fremdländischen zu verlieren.
Angesichts der Vielfalt und hohen Qualität der Beiträge kann zusammenfassend festgehalten werden, dass dem Netzwerk Alchemie ein erfolgreicher Neustart der Veranstaltungsreihe „Alchemie in der Frühen Neuzeit“ gelungen ist. Eine Fortführung der Veranstaltungsreihe ist deshalb für Ende 2022 geplant.1
Konferenzübersicht:
Einführende Bemerkungen
Thomas Moenius (Inzlingen), Martin Mulsow (Erfurt/Gotha)
Vorstellung laufender Projekte (Teil 1)
Jürgen Strein (Buchen), Die Promotion des Herman Nicolai Grim (1641-1711)
Hartmut Kutzke (Oslo), Edelsteinimitationen in der alchemistischen Literatur
Katharina Beiergrößlein (Stuttgart), Das Alchemielabor im Stuttgarter Lusthaus
Claudia Weiß und Holger Zaunstöck (Halle), Alchemische Praxis am Halleschen Waisenhaus im 18. Jahrhundert
Vorstellung eines Forschungsbereiches
Gerhard Heide (Freiberg), Feuer, Erde, Wasser und Luft: Glas und Rohstoffe und Umwandlungsprozesse aus der Sicht der Mineralogie
Vorstellung laufender Projekte (Teil 2)
Sarah Lang (Graz), Mythoalchemie in Maiers Viatorium (1618) - Wie man der Geheimnisrhetorik durch interdisziplinäres Übersetzen alchemische Bedeutungsebenen entlocken kann
Rainer Werthmann (Kassel), Welche chemischen Kenntnisse zeigt Michael Maier in seinem „Viatorium“?
Referate zu abgeschlossenen Projekten
Alexander Kraft (Eichwalde), Dippels Alchemie: Dippels Tieröl, Berliner Blau, Dippels Wundbalsam und die Tinctur aus dem Phosphoro
Thomas Moenius (Inzlingen) und Jürgen Strein (Buchen), Die Tessa – Entwicklungslinien zur Helbigschen Vorstellung zum Aufbau der Materie
Ausblick
Anmerkung:
1 Interessierte wenden sich bitte an martin.mulsow@uni-erfurt.de.