Aspekte des Kolonialen in der Geschichte von Niedersachsen und Bremen

Aspekte des Kolonialen in der Geschichte von Niedersachsen und Bremen

Organisatoren
Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen
PLZ
27472
Ort
Cuxhaven
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
17.06.2022 - 18.06.2022
Von
Jana Stoklasa, Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen

Die wachsende Aufmerksamkeit für Themen der Kolonialgeschichte in Deutschland veranlasste die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen, sich im Rahmen ihrer diesjährigen Jahrestagung mit Aspekten des Kolonialen in der Geschichte Nordwestdeutschlands zu befassen. Die Tagung war in drei Sektionen unterteilt. In der ersten Sektion wurde die Kolonialgeschichte als Gegenstand der Landesgeschichte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts thematisiert, die zweite Sektion war der Geschichte Nordwestdeutschlands in der Zeit des deutschen Kolonialreiches gewidmet, während in der dritten Sektion aktuelle Beispiele für den erinnerungskulturellen Umgang mit dem kolonialen Erbe in Form von Impulsreferaten vorgestellt wurden. Die Frage nach dem Stellenwert der Kolonialgeschichte für die Landesgeschichte Niedersachsens und Bremens wurde im Rahmen einer Podiumsdiskussion unter ausgewiesenen Expertinnen und Experten erörtert.

Bei seiner Begrüßung betonten der Vorsitzende der Kommission HENNING STEINFÜHRER (Braunschweig) sowie die Bürgermeisterin SILKE KARALLUS (Cuxhaven) die Aktualität und Relevanz des kolonialgeschichtlichen Diskurses aus der landes- sowie stadthistorischen Perspektive.

In seinem Eröffnungsvortrag zu „Hofmohren und Kuriositätenkabinetten“ gab YVES SCHUMACHER (Zürich) einen Einblick in die als fremd wahrgenommenen Welten an nordwestdeutschen Höfen der Frühen Neuzeit. Schumacher zeigte anhand exemplarischer Beispiele die rechtsungleiche Behandlung der dunkelhäutigen Dienerinnen und Diener auf und verdeutlichte, dass der „Sklavenstatus“ nicht mit Betreten des Alten Reichs oder durch die Taufe automatisch aufgehoben wurde.

STEPHANIE HABERER (Hannover) befasste sich vor dem Hintergrund der Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover mit der Beteiligung hannoverscher Truppen an der britischen Eroberung Indiens im späten 18. Jahrhundert. Nach einer Einführung in den historischen Kontext und die Rolle der East India Company erläuterte Haberer die Beteiligung zweier Regimenter am Zweiten und Dritten Mysore-Krieg (1782-1784/1789-1792). Anschließend bot die Referentin einen Einblick in die Überlieferungslage insbesondere in der Abteilung Hannover des Niedersächsischen Landesarchivs. Haberer betonte den aufgrund von jüngeren Editionen und digitalen Angeboten deutlich verbesserten Zugang zu den Quellen.

THORSTEN HEESE (Osnabrück) beleuchtete die wirtschaftlichen Überseebeziehungen Osnabrücks von der Frühen Neuzeit bis zur Hochphase des Kolonialimperialismus. Osnabrück war in der Frühen Neuzeit eng mit dem kolonialen Dreieckshandel verflochten und das Osnabrücker Leinen wurde wegen seiner Strapazierfähigkeit für die Arbeitskleidung Versklavter auf den Plantagen der Karibik und in Amerika hoch gehandelt. Heese zeigte, dass die Osnabrücker Wirtschaft in der Kaiserzeit überzogene ökonomische Hoffnungen hegte und trotz der nationalistisch übersteigerten Kolonialpropaganda an die frühere wirtschaftliche Blüte nicht anknüpfen konnte.

SARAH LENTZ und JASPER HAGEDORN (Bremen) schlossen die erste Sektion mit ihrem Vortrag über die Verflechtungen Bremens mit der atlantischen Versklavtenwirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert. So zeigte Sarah Lentz beispielhaft anhand der Auswertung der Schiffslisten der niederländischen Middelburgischen Commercie Companie, dass aus Bremen stammende Seeleute an der Verschleppung von tausenden Menschen beteiligt waren. Jasper Hagedorns Untersuchung von Bremer Kaufleuten auf der dänischen Karibikinsel St. Thomas ergab weiterhin, dass alle in den dortigen Steuermatrikeln eingetragenen Bremer versklavte Menschen „besaßen“. Der Referent und die Referentin wiesen nachdrücklich auf die Notwendigkeit weiterer Forschung zur deutschen Beteiligung an der atlantischen Sklaverei hin.

Am Abend des ersten Veranstaltungstages fand in der Stadthalle Kugelbake in Cuxhaven eine öffentliche Podiumsdiskussion unter dem Titel: „Kolonialgeschichte – ein Teil der Landesgeschichte Nordwestdeutschlands?“ statt. Moderiert von JOCHEN OLTMER (Osnabrück) diskutierten BRIGITTE REINWALD (Hannover), JOHANNA BLOKKER (Cottbus) und APPOLINAIRE A. APETOR-KOFFI (Bremen). Brigitte Reinwald unterstrich, dass die Kolonialgeschichte ohne Frage ein Teil unserer Landesgeschichte sei, jedoch verdeutliche das gegenwärtige Unwissen, beispielsweise über Widerstandsdenkmäler in Tansania, die Unsichtbarkeit der vielfältigen Verflechtungen. Bezüglich der Frage, ob Kolonialdenkmäler aus dem städtischen Raum entfernt werden sollten, argumentierte Johanna Blokker aus denkmalpflegerischer Perspektive, dass deren Entfernung einer Löschung von Lernerfahrungen gleichkomme und daher mit dem Verlust einer demokratischen Auseinandersetzung mit Unrechtsgeschichte gleichzusetzen sei. Appolinaire Apetor-Koffi thematisierte die Kolonialgeschichte als einen mit Traumata besetzten Themenkomplex. Den einst als „Helden“ gefeierten Akteuren des Kolonialismus, die an Verbrechen beteiligt waren, dürfe kein erinnerungskultureller Raum mehr geschenkt werden. Weiterhin verdeutlichte Apetor-Koffi, dass die koloniale Verflechtung und ihre historische Vermittlung eines multiperspektivischen Zugangs bedürften.

Der zweite Tag der Jahrestagung wurde von TOBIAS GOEBEL (Bremerhaven) mit einem Vortrag über die Rolle der Großreederei Norddeutscher Lloyd bei der Herausbildung maritimer Infrastrukturen im kolonisierten Pazifik eröffnet. Die Norddeutsche Lloyd spielt als eine der größten deutschen Reedereien eine wichtige Rolle im Ausstellungs- und Forschungsprogramm des Deutschen Schifffahrtsmuseums.1 Goebel hinterfragte die Rolle der Reedereien, die diese während des Kaiserreichs bei der Entstehung von kolonialen Museumssammlungen einnahmen.

In der dritten Sektion zum Thema „Koloniales Erbe und Erinnerungskultur“ sprach CLAUDIA ANDRATSCHKE (Hannover) über das von der Volkswagenstiftung finanzierte PAESE-Projekt.2 In insgesamt acht Teilprojekten werden ausgewählte Bestände der größten Sammlungen in Niedersachsen in Hannover, Göttingen, Hildesheim, Braunschweig, Oldenburg gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen an niedersächsischen Universitäten sowie im multiperspektivischen Austausch mit Expertinnen und Experten aus den Herkunftsregionen in Kamerun, Namibia, Tansania, Papua Neuguinea und Australien untersucht. Das PAESE-Projekt verfolgt die Ziele, die Grundlagenforschung zu Erwerbswegen von ethnografischen Sammlungen aus kolonialen Kontexten in Niedersachsen, die Vernetzung und Kooperation mit Vertreterinnen und Vertretern der Herkunftsregionen und die transparente Veröffentlichung der erforschten Bestände und Forschungsergebnisse voranzutreiben. Die im Verbund entwickelte PAESE-Datenbank3 bildet eine Voraussetzung für die Teilnahme der PAESE-Einrichtungen an der Pilotphase der „3 Wege-Strategie“ von Bund und Ländern.

PETER JOCH (Braunschweig) stellte den in den letzten Jahren erfolgreich begonnenen transkontinentalen Dialog zwischen dem Städtischen Museum Braunschweig und Partnern in Namibia und Kamerun über einzelne Objekte aus der ethnographischen Sammlung des Museums vor.

JANA STOKLASA (Hannover) berichtete über Spuren von Kolonialgeschichte in niedersächsischen Archiven anhand von ausgewählten Quellenbeständen der Abteilungen Hannover und Bückeburg des Niedersächsischen Landesarchivs sowie des Universitätsarchivs Hannover. Sie verwies insbesondere auf die bestehende Forschungslücke bezüglich kolonialrevisionistischer Aktivitäten während der NS-Zeit anhand ausgewählter Beispiele im hannoverschen Stadtraum, wie dem Göring-Kolonialhaus. Im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit den Quellen schlussfolgerte Stoklasa, dass bei der Erforschung von Kolonialgeschichte als einer Verflechtungsgeschichte ebenso die Tradierungen und Überlieferungen von Nachkommen in den sogenannten Herkunftsländern einzubeziehen sind, um nicht ausschließlich eurozentrische Perspektiven zu reproduzieren.

Das abschließende Referat von Henning Steinführer war dem erinnerungspolitischen Umgang mit dem 1925 errichteten Braunschweiger Kolonialdenkmal gewidmet, das seit den 1960er-Jahren regelmäßig im Zentrum lokalhistorischer Debatten steht.

Im Rahmen der Tagung wurde deutlich, dass im Zusammenhang mit der Erforschung von (deutscher) Kolonialgeschichte insgesamt von einer strukturellen Ungleichheit oder, wie Andratschke es bezeichnete, von einer „Asymmetrie des Kolonialismus“ gesprochen werden kann. Diese ergibt sich aus der Fokussierung auf hiesige Kolonialakteure und ihre Aktivitäten sowie aus der mangelnden Einbeziehung von Tradierungen und Überlieferungsformen in den sogenannten Herkunftsländern. Angesichts des für die koloniale Verflechtungsgeschichte bezeichnenden Clashs von Kulturen wurde in den Debatten deutlich, dass die Notwendigkeit eines multiperspektivischen Zugangs besteht, um über einseitige Betrachtungen aus der Perspektive der „Eroberer“ hinauszugelangen. Heese betonte weiterhin, dass die Selbstverständlichkeit von Kolonialismus sowie die Verschränkungen mit Alltagsformen und damit auch die sprachliche Dimension zu beachten sind. Die Vielfalt der Beiträge warf einige Schlaglichter auf verschiedene Aspekte des Kolonialen in der niedersächsischen und bremischen Landesgeschichte und eröffnete neue Räume für Diskussionen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch die Stadt Cuxhaven und den Vorsitzenden der Historischen Kommission

Sektion I: Kolonialgeschichte als Gegenstand der Landesgeschichte Nordwestdeutschlands bis in die zweite Hälfte des 19. Jh.

YVES SCHUMACHER (Zürich): Hofmohren und Kuriosenkabinette – Als fremd wahrgenommene Welten an nordwestdeutschen Höfen der Frühen Neuzeit

STEPHANIE HABERER (Hannover): Hannoveraner in der britischen Kolonialarmee in Indien

THORSTEN HEESE (Osnabrück): Zwischen Hamburg und Kalkutta – Osnabrück im Kontext der Kolonialökonomie

SARAH LENTZ / JASPER HAGEDORN (Bremen): [U]nsere weiß-roth-weiße Flagge ohne Flecken"? Bremische Verflechtungen mit der atlantischen Versklavtenwirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert

Öffentliche Podiumsdiskussion „Kolonialgeschichte – ein Teil der Landesgeschichte Nordwestdeutschlands?“
JOCHEN OLTMER (Osnabrück), BRIGITTE REINWALD (Hannover), JOHANNA BLOKKER (Cottbus), APPOLINAIRE A. APETOR-KOFFI (Bremen)

Sektion II: Nordwestdeutschland in der Zeit des deutschen Kolonialreiches

TOBIAS GOEBEL (Bremerhaven): Die maritime Infrastruktur des Norddeutschen Lloyd und seine Sammlernetzwerke in der deutschen Kolonialzeit

Sektion III: Koloniales Erbe und Erinnerungskultur

CLAUDIA ANDRATSCHKE (Hannover): Das PAESE-Projekt - Etablierung einer Infrastruktur für Provenienzforschung zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Niedersachsen

PETER JOCH (Braunschweig): Die Etablierung des transkontinentalen Dialogs am Städtischen Museum Braunschweig

JANA STOKLASA (Hannover): Auf den Spuren von Kolonialgeschichte in niedersächsischen Archiven

HENNING STEINFÜHRER (Braunschweig): Das Braunschweiger Kolonialdenkmal

Anmerkungen:
1 Vgl. https://nachrichten.idw-online.de/2021/03/02/dsm-forscht-zur-kolonialgeschichte-des-norddeutschen-lloyds/ (31.08.2022).
2 Vgl. Projekt Provenienzforschung in außereuropäischen Sammlungen und der Ethnologie in Niedersachsen“ - https://www.postcolonial-provenance-research.com/ (31.08.2022).
3 Vgl. https://www.postcolonial-provenance-research.com/datenbank/ (31.08.2022).

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts