Entnazifizierung erzählen. Reeducation und Entnazifizierung in Literatur, Geschichte und Wissenschaftsgeschichte

Entnazifizierung erzählen. Reeducation und Entnazifizierung in Literatur, Geschichte und Wissenschaftsgeschichte

Organisatoren
Sofia Derer / Jens Krumeich / Sandra Schell, Universität Heidelberg
PLZ
69115
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
08.07.2022 - 09.07.2022
Von
Carl Junginger, Germanistisches Seminar, Universität Heidelberg

Während Entnazifizierung und Reeducation als Gegenständen zeithistorischer Forschung ausgesprochen große Aufmerksamkeit zukam, finden sich nur sporadisch Untersuchungen in der Literaturwissenschaft. Das überrascht, meldeten sich doch zahlreiche Schriftsteller:innen und public intellectuals im Zuge der anlaufenden Entnazifizierungsverfahren und des alliierten Reeducation-Programms ab Sommer 1945 zu Wort. Sie reagierten auf die politisch aufgeladene Stimmung und die aufkeimenden Ressentiments gegenüber den Siegermächten. Bis heute wurden die mit den Entnazifizierungs- und kulturpolitischen Maßnahmen einhergehenden interaktiven-interkulturellen Kommunikationsprozesse und Potentiale vonseiten der literwissenschaftlichen Forschung jedoch kaum beachtet. Inwieweit war aber die Literatur an der Reflexion der Entnazifizierung beteiligt?

Mit der Motivation, sich dieser Frage anzunehmen und diesem Forschungsdesiderat von unterschiedlichen disziplinären Standpunkten aus zu begegnen, führten Sofia Derer, Jens Krumeich und Sandra Schell in den Workshop Entnazifizierung erzählen ein, der am 08. und 09. Juli 2022 im Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg stattfand. Durchgeführt wurde der von der Graduiertenakademie Heidelberg geförderte Workshop in Kooperation mit dem Nachwuchsnetzwerk ‚Akademische Archive‘. Der Themenkomplex „Reeducation und Entnazifizierung in Literatur, Geschichte und Wissenschaftsgeschichte“ sollte dabei interdisziplinär behandelt werden. Über eine historisierende Perspektive auf die Zeit- und Literaturgeschichte hinaus wurde der Blick auch auf die Gegenwartsliteratur ausgeweitet.

Eröffnet wurde der Workshop von HANNE LEßAU (Köln), die die Entnazifizierung als einen „‚Ort‘ lebensgeschichtlicher Erzählungen und Selbstbilder“ charakterisierte. Anknüpfend an ihre für das Veranstaltungsthema programmatische Studie über „Entnazifizierungsgeschichten“ (2020) arbeitete die Historikerin gegen die kanonisierte, aber verkürzte Sichtweise an, dass die Entnazifizierung gescheitert sei. Durch ihren praxis- und erfahrungsgeschichtlichen Zugriff gelang es Leßau zu verdeutlichen, dass die Entnazifizierung als bürokratische und politische Prüfprozedur vielfach eine intensive und ernsthafte Auseinandersetzung der nachkriegsdeutschen Bevölkerung mit der eigenen NS-Vergangenheit angestoßen hat. Die hieraus massenhaft hervorgegangenen lebensgeschichtlichen Erzählungen und Selbstbilder halfen bei der Bearbeitung der eigenen Vergangenheit und der Distanzierung zum Nationalsozialismus. An den in den frühen Nachkriegsjahren etablierten Erzählungen sei auch über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus festgehalten worden. Mit ihrem Vortrag, der die durch Entnazifizierungsverfahren angeleitete spezifische Form autobiografischen Erzählens ins Blickfeld der Zeitgeschichtsforschung rückte, lieferte Leßau nicht nur einen allgemeinen Hintergrund für den Workshop, sondern offerierte zugleich vielfach Anknüpfungspunkte für eine historisch informierte literaturwissenschaftliche Forschung.

Dass es bei der Frage nach personeller und institutioneller Kontinuität noch einiges aufzuarbeiten gilt, zeigte eindrücklich JOEY RAUSCHENBERGER (Heidelberg), der in seinem Vortrag „Entnazifizierung ohne personelle Säuberung?“ den Blick auf die „Reintegration der Täter des Genozids an den Sinti und Roma“ richtete. In exemplarischer Absicht führte der Historiker Fälle insbesondere aus dem Apparat der Kriminalpolizei in Württemberg an, die verdeutlichten, wie Täter des Genozids an den Sinti und Roma in den Exekutivbehörden der neuen Bundesrepublik ungehindert ihre beruflichen Karrieren fortsetzen konnten. Anhand von Spruchkammerverfahren arbeitete Rauschenberger die hierfür bezeichnende Täter-Opfer-Umkehr heraus: Die Stigmatisierung der Sinti und Roma wie ihre kontinuierliche Verunglimpfung als Kriminelle ließen so noch in der historischen Rückschau die rassistische Verfolgung und Ermordung als vermeintlich „gute“ Polizeiarbeit erscheinen. Daneben komme dem Fortwirken antiziganistischer Wahrnehmungsmuster an der beruflichen Weiterbeschäftigung und Reintegration der Täter eine entscheidende Rolle zu.

MIKE ROTTMANN (Halle) leitete in seinem Vortrag die literaturwissenschaftliche Perspektive auf das Workshopthema ein und rückte die literarisch-feuilletonistische Justizkritik in den Fokus. Am Beispiel von Gerichtsreportagen, die insbesondere ab den späten 1960er-Jahren die Prozesse gegen Richter der NS-Zeit publizistisch begleiteten, ging er der Frage nach, inwieweit die Debatte um die ausgebliebene Entnazifizierung der Justiz in Literatur und Feuilleton beobachtet, kommentiert und kritisiert wurde.

An das wissenschaftliche Programm des ersten Workshoptages schloss eine Abendveranstaltung mit der vielfach preisgekrönten Autorin Anne Weber im Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) in Heidelberg an. Das DAI wurde als eines der sogenannten Amerikahäuser gegründet, die in der Nachkriegszeit als Teil der US-amerikanischen Reeducation-Maßnahmen eingerichtet wurden. Wie Sofia Derer in ihrer Einführung zu Lesung und Gespräch betonte, wurde auf diese Weise schon qua Veranstaltungsort ein Bogen zum Workshopthema geschlagen. Unter dem Titel „Literarische Zeitreisen“ las Weber aus ihren Büchern „Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch“ (2015) und „Annette, ein Heldinnenepos“ (2020) und kam mit Sandra Schell und Jens Krumeich ins Gespräch über Formen des historischen Schreibens, die literarischen Annäherungen an die NS- und Nachkriegszeit und insbesondere die Arbeit mit Entnazifizierungsakten.

Den zweiten Tag eröffnete FREDERIC PONTEN (Regensburg), der ausgehend von Gottfried Benns Textentwurf „Willkommen den Literarischen Emigranten“ (Frühjahr 1945) dem Verhältnis des Autors zu „Amerika vor und nach der Reeducation“ nachging. Ponten arbeitete dabei spezifische Deutungsmuster und Rechtfertigungspraktiken heraus, die für Benns Nachkriegsdarstellungen exemplarisch seien. Durch den Vergleich von Benns Amerika-Bild vor und nach 1945 und dessen Verhältnis zu vor allem jüdischen Exilant:innen konnte Ponten belegen, inwiefern Benns aggressive, von Ressentiments geprägte Haltung für den Rest seines Lebens konstant blieb.

Auch der Beitrag von ANNA AXTNER-BORSUTZKY (Bielefeld / Berlin) stellte deutsch-amerikanische Beziehungen in den Mittelpunkt. Passend zum Veranstaltungsort untersuchte sie die „Heidelberger Nachkriegszeitschrift ‚Die Wandlung‘ im transatlantischen Kontext“. An ausgewählten Beiträgen der von Karl Jaspers, Dolf Sternberger, Werner Krauss und Alfred Weber begründeten und von 1945 bis 1949 erschienen Zeitschrift legte Axtner-Borsutzky nahe, dass durch die aktive kooperative Tätigkeit von internationalen Beiträger:innen und der Thematisierung transatlantischer Gegenstände den alliierten Reeducation-Bestrebungen publizistisch zugearbeitet wurde.

Unter dem Titel „Variationen des Mythos. Heidelberg in der deutschen Nachkriegsliteratur“ beschäftigte sich MARCEL KRINGS (Heidelberg) mit literarischen Texten und Filmen, die vor wie nach 1945 die Universitätsstadt romantisierten und mythisierten. Die Nationalsozialisten konnten an die nationalen und nationalistischen Inszenierungen im Rahmen ihrer kulturpolitischen Bestrebungen unmittelbar anschließen, und auch in der Nachkriegszeit setzten sich die Projektionen kontinuierlich fort: So tradierten auch die Texte und Filme der 1950er- und 1960er-Jahre noch den „Mythos Heidelberg“ und verstetigten damit das Bild einer von der NS-Zeit unberührten deutschen Kultur. Bis heute habe sich dieses problematische Bild in der Tendenz allzu häufig unreflektiert im kulturellen Gedächtnis fortgeschrieben.

DENNIS DISSELHOFF (Heidelberg) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit Wolfgang Koeppens Roman „Der Tod in Rom“ (1954), den er als literarische Kritik an der alliierten Entnazifizierungspraxis interpretierte. Durch die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und den Karrieren ehemaliger Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg werde, so Disselhoff, die Entnazifizierung so verarbeitet, dass Koeppens Roman grundsätzlich als Zeitkritik verstanden werden könne. Koeppen habe damit der Einschätzung einer unmöglichen und letztlich gescheiterten Entnazifizierung literarisch Ausdruck verliehen.

Dass die alliierten Entnazifizierungs- und Reeducation-Maßnahmen nicht nur zeitgenössisch in Literatur und Feuilleton Widerhall fanden, sondern sich auch heute noch Autor:innen mit der unmittelbaren Nachkriegszeit, vor allem im Rahmen historischen Erzählens, beschäftigen, illustrierten die beiden letzten Vorträge. RALF KLAUSNITZER (Berlin) beleuchtete unter dem Titel „Propaganda unterm Sternenbanner? ‚Psychological Warfare‘ und ‚Reeducation‘ in der Gegenwartsliteratur“ drei Aspekte des gegenwartsliterarischen Interesses. So ging er unter Bezugnahmen auf Romane wie Hans Pleschinskis „Königsallee“ (2013) und „Propaganda“ (2019) von Steffen Kopetzky erstens der Frage nach, welches Wissen die Gegenwartsliteratur von den vielschichtigen Strukturen der Entnazifizierung vermittle. Zweitens untersuchte Klausnitzer, wie literarische Texte dieses Wissen umsetzten, und drittens, wie sich diese literarischen Wissensbestände auf individuelle und kollektive Selbstdeutungen auswirken können. In diesem Zusammenhang wies er auch auf die Beschäftigung mit der Rezeption von Entnazifizierung und Reeducation sowie deren ideologisierende Auslegungen durch die sogenannte Neue Rechte hin.

Im abschließenden Vortrag beschäftigte sich NICOLAI BUSCH (Köln) mit dem Thema „Selbstpoetische Entnazifizierung in Christan Krachts ‚Eurotrash‘ (2021)“. Buschs Interesse galt allen voran Krachts Autorpoetik, die von Diskursen zum Präfaschismus, zur NS-Zeit und deren Aufarbeitung geprägt sei. Wenngleich der Roman von der Forschung bisher nicht als „Entnazifizierungsgeschichte“ identifiziert wurde, könne man ihn, wie Busch nahelegt, als solche charakterisieren, bildet doch eine erfolglose Entnazifizierung den Ausgangspunkt der Geschichte. Busch identifizierte eine „selbstpoetische Entnazifizierung“, die als ein ästhetisches Sprechen über die Entnazifizierungsphase und die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung gefasst werden könne und sich konträr zu moralischen Vergangenheitsdiskursen positioniere.

Die Beiträger:innen des Workshops verdeutlichten, wie gewinnbringend die Beschäftigung mit dem Themenfeld Reeducation und Entnazifizierung für interdisziplinäre Fragestellungen zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaften erscheint. Da aufgrund kurzfristiger Ausfälle der wissenschaftsgeschichtliche Schwerpunkt des Workshops nur am Rande berücksichtigt werden konnte, wäre interessant zu fragen, inwiefern sich auch hier interdisziplinäre Synergien zwischen literatur-, und wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen der (akademischen) Situation vor und nach 1945 ergeben. In der von Livia Kleinwächter moderierten Abschlussdiskussion bezeugten die zahlreichen Anschlussfragen die Aktualität der Thematik. Neben vielen anderen Aspekten wurde deutlich, dass die Literaturwissenschaft mit ihren Instrumenten für die Untersuchung erzählerischer Verfahren im Kontext von Reeducation und Entnazifizierung Potential zu haben verspricht. Um der Nachkriegszeit literarhistorisch angemessen begegnen zu können, müsse sie aber als gesellschaftlich interessierte Wissenschaft von einem breiteren Literaturgebegriff ausgehen und historisch und soziologisch informiert auf gesellschaftliche Phänomene wie Mythen, Bilder und Narrative blicken.

Konferenzübersicht:

Sofia Derer / Sandra Schell / Jens Krumeich (Heidelberg): Begrüßung und Einführung

Hanne Leßau (Köln): Die Entnazifizierung. Ein „Ort“ lebensgeschichtlicher Erzählungen und Selbstbilder

Joey Rauschenberger (Heidelberg): Entnazifizierung ohne personelle Säuberung? Die Reintegration der Täter des Genozids an den Sinti und Roma

Mike Rottmann (Halle): „Es kann nicht sein, daß wir schon das Jahr 1967 schreiben“. Literarisch-feuilletonistische Justizkritik und die ‚furchtbaren Juristen‘ nach 1945 – Geschichte kollektiven Versagens oder schlichtes Resultat erfolgreicher Demokratisierung des Rechts?

Anne Weber (Paris), im Gespräch mit Sandra Schell und Jens Krumeich (Heidelberg): Literarische Zeitreisen. Gespräch und Lesung mit Anne Weber. Deutsch-Amerikanisches Institut Heidelberg

Frederic Ponten (Regensburg): „Willkommen den Literarischen Emigranten“ (1945). Gottfried Benn und Amerika vor und nach der Reeducation

Anna Axtner-Borsutzky (Bielefeld / Berlin): „Wir wollen auch die Stimmen der Welt vernehmen und vernehmlich machen.“ Die Heidelberger Nachkriegszeitschrift Die Wandlung im transatlantischen Kontext

Marcel Krings (Heidelberg): Variationen des Mythos. Heidelberg in der deutschen Nachkriegsliteratur

Dennis Disselhoff (Heidelberg): „[D]ie Zeit des Gehängtwerdens war ein für allemal vorbei“ – Alliierte Entnazifizierungspraxis in der Kritik: Zu Wolfgang Koeppens Roman Der Tod in Rom (1954)

Ralf Klausnitzer (Berlin): Propaganda unterm Sternenbanner? „Psychological Warfare“ und „Reeducation“ in der Gegenwartsliteratur

Nicolai Busch (Köln): „Ausbrechen aus dem sich drehenden Hakenkreuz“. Selbstpoetische Entnazifizierung in Christian Krachts Eurotrash (2021)

Livia Kleinwächter (Köln): Moderation der Abschlussdiskussion

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