Mit der ehemaligen Wirkungsstätte der Tänzerin und Choreographin Mary Wigman konnte ein besonders passender Ort gefunden werden für die Tagung des ISGV, die kollaborative Formate in Wissenschaft und Kunst in den Blick nahm. Dabei ist die Suche nach kreativen Wegen der Vermittlung von Wissenschaft an ein außerakademisches Publikum nicht neu. Schon seit einiger Zeit wird sie in Fachkreisen thematisiert, und künstlerisch-inspirierte Formate in Kultur- und Bildungseinrichtungen wurden entwickelt. Dementsprechend richtete sich der Fokus der Tagung auch weniger auf die Präsentation von Vermittlungsformaten, sondern vielmehr auf die spannungsreiche Praxis kollaborativer Arbeitsformen und Interaktionen. Hier treffen unterschiedliche Perspektiven, Arbeitsweisen, Strukturen und Logiken aufeinander, weshalb Vermittlungsprozesse und Übersetzungsleistungen unerlässlich sind für das Gelingen von transdisziplinären, kollaborativen Projekten. Ziel war es, Einblick in die Praxis von Wissensgenerierung und Wissenstransfer zu geben sowie Methoden und Konzepte vorzustellen und zu reflektieren.
Nach einer Begrüßung der Teilnehmer:innen durch Katja Erfurth vom Verein Villa Wigman für Tanz e.V. und den Direktor des ISGV, Andreas Rutz, folgten einleitende Worte von Katharina Schuchardt und Ira Spieker. Ihre Einführung thematisierte neben der strukturellen Gliederung auch die der Tagung zu Grunde liegende Idee, die auf ein Experiment Victor Turners zur performance of ethnography rekurriert sowie erste Ansätze zur öffentlichkeitswirksamen Umsetzung in den 1980er-Jahren im angloamerikanischen Raum.
Die Beiträge des ersten Panels gaben insbesondere Einblick in die Dynamiken und Möglichkeitsräume, die im kollaborativen Aufeinandertreffen und im Verlauf der unterschiedlichen Projektphasen entstehen können. UTE HOLFELDER (Klagenfurt), die in den vergangenen zehn Jahren in unterschiedlichen Konstellationen an künstlerisch-ethnografischen Projekten beteiligt war, stellte ihr Konzept der Ko-Produktion vor, in dem sie davon spricht, dass in der gemeinsamen Arbeit von Forschenden und Kunstschaffenden das Potential liegt, andere Perspektiven auf einen Forschungsgegenstand zu eröffnen, die über ein rein additives Nebeneinander der eingebrachten Expertisen und Perspektiven hinausgehen.
Dass in kollaborativem Arbeiten auch das Potential für verschiedene Arten von Spannung liegt, zeigte der Vortrag von SIMON GRAF (Zürich), der zusammen mit dem Videokünstler FLORIAN WEGELIN (Zürich) zu Schweizer Panzersperren als vergessenen Artefakten (in) der Landschaft forscht. Anhand der semantischen Mehrdeutigkeit von „Spannung“ reflektierte Graf exemplarisch Situationen und Forschungsdaten, in denen die Beziehung der Forschenden z.B. von einer gemeinsam geteilten „erregten Erwartung und Spannung auf etwas Zukünftiges“ in „nervöse Unausgeglichenheit“ oder sogar in ein „angespanntes Verhältnis“ kippen konnte.
THERESA JACOBS (Bautzen) gab Einblick in drei Projekte, die jeweils explizite Bezugspunkte zur sorbischen/wendischen Minderheit aufmachten und sich im Grenzbereich zwischen (Volks-)Tanzkunst und Wissenschaft bewegten. Auch Jacobs betonte die Chancen für neue Perspektiven und Möglichkeitsräume, die sich durch kollaboratives Arbeiten eröffnen, und hob dabei die Provokation als ein mitunter geeignetes Mittel der Darstellung und Brechung hervor.
Im zweiten Panel lag der Schwerpunkt auf den Spezifika der Generierung und Vermittlung von Wissen. HANNA KANZ (Freiburg) sprach stellvertretend für das KULA Games Kollektiv, das es sich zum Ziel gesetzt hat, spielerische und ausdrücklich nicht-hierarchische Praktiken und Medien zur Vermittlung von kulturanthropologischen Wissensinhalten zu entwickeln. Anhand des Kartenspiels KULT, das in Koproduktion mit einer Grafikerin entstand, reflektierte Kanz verschiedene Ebenen der Übersetzungs- und Transferleistungen, die sowohl im Prozess der kollaborativen Projektentwicklung und Arbeitsweise als auch in und durch die Ludifizierung von kulturwissenschaftlichen Themen und Begriffen in Gang gesetzt werden.
Als Teil des kuratorischen Teams im Verbundvorhaben „Temporäre Permanenz“ stellten LISA VOIGT und ELLEN MARIE WAGNER (Frankfurt am Main) ein Projekt aus musealem Kontext vor, das Wissensgenerierung und -transfer mittels eines interaktiven Ausstellungsmoduls verbindet und mit künstlerischen Interventionen in der Dauerausstellung arbeitet. Ausstellungsmachen wird in diesem Projekt zum multidisziplinären Selbst-Experiment, in das die drei Perspektiven von Wissenschaft (Wissenschaftler:innen und Kurator:innen), Gesellschaft (Jugendbeirat und Publikum) und künstlerischer Intervention in Reaktion auf die museale Sammlung gleichberechtigt einfließen.
Im dritten Panel präsentierte ALEXA FÄRBER (Wien) das wissensanthropologische Forschungsprojekt „Realfiktion Klimarechnungshof“, eine Zusammenarbeit des Wiener Instituts für Europäische Ethnologie mit dem Volkskundemuseum Wien. Die Beteiligten greifen die 2019 in Österreich gestellte, aber bisher noch nicht umgesetzte politische Forderung nach einem Kontrollorgan für die Einhaltung der Klimaziele auf und inszenieren diese als vorweggenommene Realfiktion. Sie nutzen Formate, die auch im politischen Raum verwendet werden würden, und wollen dadurch ein „gestaltendes Verstärken“ des Wissens über den Klimawandel erreichen.
Um den Transfer kulturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse in Literatur ging es MICHAEL J. GREGER (Salzburg), der den Sprachkünstler Bodo Hell und seine „konkrete Poesie“ vorstellte. Die Auseinandersetzung mit seinen Umgebungen (Wien und Dachstein) motiviert und inspiriert Hells Kunst, in Themen wie Natur/Berg/Gehen oder Religion/Ritual/Brauch transformiert er wissenschaftliches und eigenes ethnografisches Wissen. Texte, Hörspiele, Hörstücke mit Musik oder Filme bringt Hell mit expressivem Habitus in Live-Performances zur Aufführung, deren Wirkung intellektuelle und Emotionen und Sinne ansprechende Dimensionen aufweist, wie Greger zeigte.
Zwischen die Panels „Transfer“ und „Formate“ platziert und beides umfassend war der Auftritt der Künstlerin VERONIKA KYRIANOVÁ (Prag), die Ausschnitte aus der Dokumentation ihrer Arbeit zeigte und diese mit einer Live-Performance begleitete. Die Künstlerin arbeitete mit Katharina Schuchardt und Ira Spieker (Dresden) zusammen, um Interviewmaterial aus dem ISGV-Projekt „Kontaktzonen. Kulturelle Praktiken im deutsch-tschechisch-polnischen Grenzraum“ als Theaterinszenierung an ein breiteres Publikum zu vermitteln. Für die aus einzelnen Passagen montierte Performance „Zóna kontaktu//Kontaktzonen“ nutzte Kyrianová mehrere künstlerische Formate (Dokumentartheater, Audioinstallationen, Laser- und Videosequenzen u.a.), die sich im Laufe der Vorstellung ändern und wechselnde Perspektiven ermöglichen. Die Konferenzteilnehmer:innen erhielten nicht nur visuelle, klangliche und sprachliche Eindrücke von der Premiere (in tschechischer Sprache), sondern eine verlebendigte Präsentation, die sinnlich und emotional ihre eigene Wirkung entfaltete.
Als Wissenschaftlerinnen, die sich auf künstlerische Formate einließen, sprachen KATHARINA SCHUCHARDT und IRA SPIEKER (Dresden). Sie schilderten den Verlauf der Zusammenarbeit für „Zóna kontaktu//Kontaktzonen“ und die Herausforderungen, vom gegenseitigen Vertrauen und Kennenlernen der künstlerischen Intentionen, Arbeitsweisen und Logiken bis zum Durchhaltevermögen trotz Rückschritten (Stichwort Corona), vom Loslassen des Materials als Verlusterfahrung, von emotionalen Reibungen und Enttäuschungen, produktiv gemacht in neuer Energie, um weiterzuarbeiten. Die Kulturanthropologinnen lernten andere Wissens- und Denksysteme wertschätzen, die ihre Perspektiven auf die eigene wissenschaftliche Arbeit veränderten und sie ihre eigenen Rollen reflektieren ließen.
Die Kulturanthropologin ISABELLA KÖLZ entwickelte zusammen mit den Designerinnen LUISA HOCHREIN und LENA SCHWEIZER (alle Würzburg) das Format „StadtTagebücher“, um Ideen und Meinungen von Bürger:innen über ihre Stadt zu sammeln. Sie zeigten mit persönlichen Einblicken in ihren kollaborativen Arbeitsprozess, den sie als „experimentelle Wissensproduktion“ verstehen, welche Erkenntnisse aus der jeweils anderen Disziplin und aus dem intensiven Austausch das eigene Gestalten und Forschen beeinflussten. Als Ergebnis sehen sie nicht nur die Umsetzung der Projektidee, sondern vor allem ihren gemeinsamen Lernprozess und Erfahrungen, mit denen sie sich entfalten und für sich persönlich zukunftsweisende Erkenntnisse gewinnen konnten.
Unter dem Begriff „Setting“ stellte INGA REIMERS (Hamburg) das Format einer ethnografischen Forschungssituation vor, in dem sie exemplarisch für Alltagspraktiken Mahlzeiten inszenierte, bei denen die Teilnehmer:innen sich über vorgegebene Themen (z.B. Nachbarschaft, Erinnerung) austauschen oder Anforderungen an Interaktionen (z.B. nicht sprechen, mit Händen essen) erfüllen sollten. Damit schuf Reimers Räume für ein partizipatives Forschen mit experimentellem Charakter, das sie als „künstlerisch gerahmte Ethnografie“ versteht. Es geht ihr theoretisch um Möglichkeiten des Forschens in kreierten Settings, und sie untersucht mit der teilnehmenden Beobachtung zugleich Mechanismen des Zusammenkommens und Prozesse kollektiver Wissensproduktion.
Die vier die Tagung strukturierenden Panels fokussierten zwar unterschiedlich auf das Gesamtthema, zudem aus verschiedenen disziplinären Kontexten, doch die Beiträge selbst zeigten, wie Wissen in Kollaborationen erarbeitet und transferiert und in (außer-)wissenschaftlichen Formaten präsentiert wird. Die Ansätze sind multiperspektivisch mit sinnlich-emotionalen Dimensionen und nehmen Rücksicht auf andere Zeit- und Arbeitslogiken. Die Zusammenarbeit fordert dazu heraus, sich fachlich und persönlich auf Neues einzulassen, Unsicherheiten und Reibungen produktiv zu machen und die eigene Rolle zu reflektieren. Ein schönes Ergebnis der Tagung sollte unbedingt noch gesagt werden: Kollaborativ Erkenntnisse zu gewinnen und zu vermitteln kann auch viel Spaß machen.
Konferenzübersicht:
Begrüßung: Katja Erfurth (Villa Wigman für TANZ e.V.), Andreas Rutz / Katharina Schuchardt / Ira Spieker (Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden)
Kollaboration
Moderation: Sabine Zinn-Thomas (Stuttgart)
Ute Holfelder (Klagenfurt): Kollaborationen im Spannungsfeld von Ethnografie und Kunst
Simon Graf (Zürich): Spannung im Feld. Ein Zwischenbericht zum Miteinander einer künstlerisch-ethnografischen Kollaboration
Theresa Jacobs (Bautzen): Herausforderungen und Chancen kollaborativen Arbeitens in Minderheitenkontexten am Beispiel des Sorbischen/Wendischen
Wissen
Moderation: Susanne Illmer (Dresden)
Hanna Kanz (Freiburg): Das KULT – Anthropology in Action. Werkstattbericht des KULA Games Kollektivs zur kollaborativen Wissensvermittlung
Lisa Voigt / Ellen Maria Wagner (Frankfurt am Main): Forschendes Kuratieren im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt
Transfer
Moderation: Johannes Müske (Freiburg)
Alexa Färber (Wien): Das Preenactment als ko-laborative Methodologie
Michael J. Greger (Salzburg): „Ich bin sozusagen das Dazwischen“. Die Performanzen
des Bodo Hell. Ein jahrzehntelanger künstlerisch-kulturanthropologischer Erkundungs- und Transformationsgang
Performance
Veronika Kyrianová für GOGLMOGLproduktion, z. s. (Bohatice): „Wir sind halt Kunstbauer“ – Formen der künstlerischen Montage von wissenschaftlich-dokumentarischem Material in der Performance „Kontaktzone“
Formate
Moderation: Ute Holfelder (Klagenfurt)
Katharina Schuchardt / Ira Spieker (Dresden): „Zóna kontaktu//Kontaktzonen“. Wissenschaftlich-künstlerische Zusammenarbeit zwischen Kreativität und Konflikt
Luisa Hochrein / Isabella Kölz / Lena Schweizer (Würzburg): StadtTagebücher Würzburg. Einblicke in eine design-anthropologische Kollaboration
Inga Reimers (Hamburg): Räume schaffen für Kollaborationen. Zum Forschen in und mit Settings zwischen Ethnographie, Kunst und Gesellschaft