Lager eröffnen über die mit ihnen verbundenen Lebensgeschichten und Materialitäten Rückschlüsse auf erinnerungskulturelle Diskurse. Sie sind daher als polyvalente Orte zu verstehen, die die – in vielen Fällen verschränkte – Aneignung als historischer Ort, Gedenkort und Museum ermöglichen. Wie aber kann eine Musealisierung und Inszenierung den Orten gerecht werden, die stets Spuren tragischer Geschichte sind, und welcher Voraussetzungen bedarf es dafür? Die Tagung ging diesem Komplex anhand verschiedener Beispiele nach und verschränkte theoretische Zugänge mit der Analyse praktischer Umsetzungen in Initiativen und Museen.
TILMAN KASTEN (Freiburg) begrüßte die Referierenden und Gäste im Namen des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE) und regte dazu an, Lager als Orte zu verstehen, die fortwährend gesellschaftliche Fragen aufwerfen beziehungsweise Diskussionen auslösen – und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen Funktion oder dem zeit-räumlichen Abstand zu ihrem Bestehen. Dabei würden sie stets in Beziehungen zu anderen historischen oder gegenwärtigen Lagern wahrgenommen und so solle auch die Tagung eine gedankliche Brücke zwischen Lagern im Kontext des Endes des Zweiten Weltkrieges und jenen der (europäischen) Gegenwart schlagen. Als Kristallisationspunkte verwies er nicht nur auf das zur Chiffre für die Krise des europäischen Grenz- und Migrationsregimes gewordene Lager Moria, sondern auch auf die absurde Situation von Geflüchteten im belarussisch-polnischen Grenzraum sowie die russischen Filtrationslager, die im Zuge des Angriffs auf die Ukraine eingerichtet wurden.1
Auch der Auftaktvortrag von ANNA HAUT und PIRITTA KLEINER (Friedland) wies diese Orientierung an sich immer wieder neu aktualisierenden Grundfragen von (Zwangs-)Migration und Lager auf. Mit der im Museum Friedland geplanten Ausstellungserweiterung ab 2024 soll die Gegenwart noch deutlicher in den musealen Fokus rücken: Die Thematisierung von Migration bzw. des Versuchs ihrer Regulierung im/durch Lager ziehe automatisch die Musealisierung der Gegenwart nach sich. In ihrem Beitrag ordneten die Referentinnen das Grenzdurchgangslager Friedland zunächst als einen von mehreren sowohl administrativen als auch hilfeleistenden Orten (entlang der Besatzungszonengrenzen) ein und betonten dabei die besondere räumliche Lage Friedlands und seine herausragende Funktion als Heimkehrlager für Kriegsgefangene. Diese Besonderheit bestehe auf einer erinnerungskulturellen Ebene fort, da das Lager zugleich als „Tor zur Freiheit“ stilisiert und als nationaler Erinnerungsort kritisch befragt werde. Die ursprüngliche Funktion der Migrationsverwaltung hat sich erhalten, da das Lagergelände (ohne dass dies vorgesehen war) in immer wieder neuen Aufnahmesituationen genutzt wird – und sich damit einer Musealisierung, so sie als etwas Abgeschlossenes verstanden wird, verweigert. In dieser Reihe von Sonderstellungen wurde der Anlass der Tagung – die Frage nach Inszenierung und Musealisierung – bereits facettenreich greifbar: Die enge Bezogenheit von Museum und laufendem Verwaltungs- und Aufnahmebetrieb in einem Dorf. Zwar ist das Lager wichtiger Arbeitgeber, der Bürgermeister an der Erinnerungskultur interessiert, die Lagerleitung stets auf ein Image des Lagers als Ort humanitärer Hilfe bedacht, daneben existieren jedoch auch Distanz bzw. Skepsis zwischen den Dorfbewohner:innen und den temporären Lagerbewohner:innen. Die in der Zeit seit den späten 1940er-Jahren angesammelten Erinnerungszeichen im und um das Lagergelände seien für Besucher:innen und Bewohner:innen mal erklärungsbedürftige, mal unerkannte, jedenfalls nicht selbstverständliche Objekte. Vor diesem Hintergrund frage sich das Museum, wie weit es in das Lager und Dorf hineinwirken kann, darf und sollte.
Gewissermaßen mit dem Gegenereignis zum erinnerungskulturellen Stellenwert und der staatlich geförderten Musealisierung Friedlands befasste sich KLAUS NEUMANN (Hamburg). Anhand seiner laufenden Forschungen zu Aufnahmeeinrichtungen in Hamburg-Altona und dem (heutigen) Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge seit den frühen 1990er-Jahren konnte er zeigen, dass die Erinnerung an Lager eher eine Ausnahme ist. Im Modus eines Gedankenexperiments stellte er die Frage, von welchen Objekten und mit welchen Perspektiven so eine Musealisierung getragen sein könnte. Darüber machte er die Auseinandersetzung mit solchen Gemeinschaftseinrichtungen als einen produktiven Zugriff auf den gesellschaftlichen Umgang mit Flucht/Asyl nach der deutschen Vereinigung stark, denn nicht zuletzt habe hier eine deutsche Identitätsaushandlung stattgefunden.2 Davon ließe sich beispielsweise mittels Lebensmittelverpackungen aus der lange üblichen Paketverpflegung erzählen. Auch könne gezeigt werden, dass bestimmte Äußerungen wie etwa „Lüge“-Rufe, die man meist mit den ostdeutschen Anti-Asyl-Protesten der 2010er-Jahre verbinde, bereits deutlich früher, z.B. 1998 in Hamburg, hörbar gewesen seien. Damals ging es um die Weiternutzung einer Unterkunftssiedlung für Aussiedler; nicht allein die Verstetigung einer zeitweilig vorgesehen Unterkunft, sondern auch die Aufnahme von Schutzsuchenden, die für ihren Anspruch gerade nicht auf „deutsche Volkszugehörigkeit“ zurückgreifen konnten, war Anlass des Protests.
Die Vielschichtigkeit eines als Wehrmachtskaserne errichteten und zunächst ab Sommer 1940 als Kriegsgefangenenlager für v. a. belgische und französische Offiziere dienenden Lagers in Soest präsentierten SUSANNE ABECK (Essen) und ANKE ASFUR (Aachen). Ihr Werkstattbericht zum Stand einer Gedenkstättenkonzeption ging der Frage nach, welche Akteursgruppen Erinnerung initiieren und wie ältere Gedenkpraktiken mit aktuellen Bedarfen in Spannung geraten können. Die Geschichte des im Zuge der Besetzung 1945 als Displaced Persons-Lager fungierenden und von 1946 bis 1951 als O-Lager im Kontext von Flucht- und Vertreibung genutzten Ortes sei ebenso vielschichtig wie konfliktträchtig. Konkret geht es im Soester Fall vor allem auch um die (französische) Lagerkapelle, die für die ehemals Inhaftierten und ihre Nachkommen einen geschützten Ort darstelle, für Besucher:innen und Ausstellungsmacher:innen aber der hauptsächliche Zugang zum historischen Ort und seinen Themen und für die Stadt nicht zuletzt Teil des Stadtmarketings sei. Darüber hinaus wurden Leerstellen wie die weitgehend unbekannte Unterbringung sowjetischer Kriegsgefangener oder die didaktische Herausforderung einer von der Stadt abgegrenzten Lager-Erzählung thematisiert.
SARAH GRANDKE (Hamburg) widmete sich in ihrem Vortrag der Erinnerungskultur von Displaced Persons unmittelbar nach Kriegsende. Die Quellenlage ist, so die Referentin, bis heute schwierig, da Displaced Persons weiter migrierten und ihre Selbstzeugnisse mitnahmen sowie die Lager zu großen Teilen heute nicht mehr existieren. Anhand der Beispiele Flossenbürg und Ebensee zeigte sie auf, inwiefern polnische, baltische und litauische Displaced Persons zu treibenden Akteur:innen von Gedenkorten wie Mahnmalen oder dem „Tal des Todes“ in Flossenbürg wurden. Vor allem Mitglieder des 2. polnischen Korps beteiligten sich an Denkmalprojekten und brachten einen Kanon polnischer Erinnerungskultur ein, der sich den Leiden und Entbehrungen sowie der Verfolgungsgeschichtete während der NS-Diktatur widmete. Das Engagement war oftmals Ausdruck der erzwungenen Warteposition in den Lagern und eine Möglichkeit, die eigene Geschichte in die Gedenkanlagen einzuschreiben – und nicht zuletzt einen nationalen Anspruch in der sich formierenden Nachkriegsordnung zu markieren. Zwar waren die einzelnen polnischen Akteursgruppen untereinander heterogen und verfolgten unterschiedliche Zielsetzungen, fanden aber über einen solchen Kanon gemeinsame Anknüpfungspunkte. Bis 1955 traf sich die „Displaced Persons Zufallsgemeinschaft“, so Grandke, jährlich in Flossenbürg.
Der Überformung des unweit von München gelegenen Kriegsgefangenenlagers Moosburg vom Lager zu einem Erinnerungsort mit wechselvoller Geschichte widmete sich JULIA DEVLIN (München). Ab September 1939 sollten 10.000 Insassen, zunächst Pol:innen und später auch andere Nationalitäten, untergebracht werden. Nach 1945 wandelte sich die Nutzung zu einem Aufnahmelager für Flüchtlinge und Heimatvertriebene und ab 1954 konnten die Baracken käuflich erworben werden. Einige wurden in diesem Zuge zu Wohnhäusern umgewidmet. Heute sind nur noch vier Gebäude erhalten, die bis 2017 in unterschiedlichen gewerblichen oder kommunalen Kontexten genutzt wurden. Seit etwa 15 Jahren und unter dem Eindruck des Verlusts von Zeitzeug:innen und dem Verschwinden der baulichen Überlieferung hält eine Gruppe engagierter Bürger:innen die Erinnerung an die Nutzung des Geländes und der Gebäude während des Nationalsozialismus wach. So versuche sie, auf das größte Kriegsgefangenenlager Bayerns aufmerksam zu machen, in dem bei seiner Befreiung bis zu 80.000 Menschen lebten. Zur Einrichtung eines Gedenk-, Begegnungs- und Lernortes gelte es, den Abriss weiterer Einheiten wie der ehemaligen Baracken zu verhindern. Da kein politisches Interesse an der Förderung einer Erinnerungskultur über das Lager bestehe, nähert sich Devlin über Gespräche mit Kindern und Enkeln von ehemaligen Insass:innen den Erinnerungen an.
Bei BERNHARD BREMBERGER (Berlin) stand das Berliner Krankensammellager Blankenfelde-Nord im Zentrum des Vortrags. Dieses Lager war als Sammellager für schwerstkranke Zwangsarbeiter:innen aus den Ostgebieten konzipiert und von 1941-1945 genutzt worden. Bereits die Lage außerhalb des Stadtgebiet Berlins gebe einen Hinweis darauf, dass Lager als Orte räumlicher Trennung zu verstehen sind. Die Auslagerung der als Zwangsarbeiter und Kranke mehrfach von NS-Vernichtungspolitik betroffenen Menschen sei jedoch ein Spezifikum. Nach Kriegsende wurde das Lager, nachdem es für kurze Zeit Geflüchteten Unterkunft bot, als Materialsteinbruch verwendet. Seit dem Mauerbau lag das Gelände innerhalb der Grenzsicherungsanlagen, was ein „gründliches Vergessen“, so Bremberger, noch verstärkte. Die Vergessenheit blieb, bis sich ab 2007 eine Gruppe engagierter Bürger:innen als „Runder Tisch Lager Blankenfelde“ ehrenamtlich für die Erinnerung an den Ort einzusetzen begann. Vor allem erfolgt eine Zusammenarbeit mit Schulen auf unterschiedlichen Ebenen und mit verschiedenen Zugängen. Aufgrund der schwierigen gesundheitlichen Situation der Insass:innen existieren heute keine Selbstzeugnisse, die Aufschluss über das Lager geben können. Das Einsetzen für eine dauerhafte erinnerungskulturelle Markierung führte jedoch 2012 zur Aufstellung einer Gedenktafel und es folgte eine Eintragung als Bodendenkmal.
In seinem Schlusskommentar „Bewegung und Überlagerung“ verwies JOACHIM BAUR (Dortmund) über raumbasierte Begriffe auf neue Anknüpfungsmöglichkeiten an das Tagungsthema. Vor allem die unterschiedlichen historischen Erfahrungen werden in Lagern, in Anlehnung an Reinhart Kosellecks Zeitschichten-Metapher, diachron und synchron zusammengeflochten und brechen lineare Zeitvorstellungen auf. Es bedürfe einer flexiblen Möglichkeit der Erinnerung, auch in ihrer musealisierten Form, die verschiedene Erinnerungsmodi nicht gegeneinander ausspiele und die Wiedergabe von einer einzig gegebenen Faktizität vermeide. In Bezug auf die in den Tagungsbeiträgen vielfach artikulierten Bemühungen der Musealisierung brachte Baur die Begriffe Contact Zone nach Mary Luise Pratt und Perspektivwechsel ein.3 Contact Zone stellte er als einen Begriff zur Debatte, der musealisierte Modi der Präsentation durchbrechen kann, indem er Museen nicht als Zentren denke. Diese sollten als ein Raum begriffen werden, in dem viele Dinge und Positionen Platz haben und unterschiedlich stark gemacht werden können. Der Perspektivenwechsel hingegen regte an, den Blick vom Lager aus zu denken. Die Geschichte der Lager, so wie sie für Migrationsgeschichte aus Sicht der Postmigration eingefordert wird, könne dabei nicht das Thema selbst sein, sondern müsse zu einer Perspektive überleiten, die im Sinne einer engaged anthropology einen Ausgangspunkt für breitere Debatten bilden kann. Zudem verdeutlichte Baur, dass Musealisierungen auch immer Beziehungsarbeit bedeuteten und genau geschaut werden müsse, ob die Anstöße für Musealisierungen von Bürger:innen von unten oder durch politische Setzungen von oben erfolgen. Gleichzeitig hieße das, auch gezielter in politische Prozesse hineinwirken zu wollen – oder zu müssen, wenn top-down-Konzepte vermieden werden sollen, die schließlich häufig auf lokales Forschen und bestandssichernde Vorarbeiten zurückgreifen.
Am Folgetag verdeutlichte eine Führung im Museum und im Grenzdurchgangslager Friedland selbst die in den Tagen zuvor gewonnenen Erkenntnisse – und erweiterte diese um eine räumlich-sinnliche Komponente. Das in den zwei Tagen zuvor diskutierte Spannungsfeld der Musealisierung und Inszenierung, deren Verklammerung sich, wie am Beispiel Friedland wahrnehmbar, nicht lösen lässt, wurde noch einmal sichtbar.4
Konferenzübersicht:
Einführung
Tilman Kasten
Anna Haut (Friedland) / Piritta Kleiner (Friedland): Fluchtpunkt Friedland. Das Grenzdurchgangslager Friedland als Erinnerungsort und als Ort aktueller Migrationen
Klaus Neumann (Hamburg): „Da gibt’s nichts mehr“: Die Nicht-Musealisierung und Nicht-Historisierung lagerähnlicher Unterkünfte für Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge
Susanne Abeck (Essen) / Anke Asfur (Aachen): Vom Mannschafts-Stammlager zum O-Lager. Ein vielschichtiger Lagerort in Soest
Sarah Grandke (Hamburg): Moving memories – memory on the move? Erinnerungsinitiativen von Displaced Persons 1946/47 in Oberösterreich und Bayern. Die Beispiele Ebensee und Flossenbürg
Julia Devlin (München): STALAG VII A, Moosburg – Auf dem Weg zu einem Dokumentationszentrum?
Bernhard Bremberger (Berlin): Bürgerschaftliches Engagement statt etablierter Gedenkstätte. Das Erinnern an das Berliner Krankensammellager Blankenfelde-Nord
Joachim Baur (Dortmund): Bewegung und Überlagerung: Schlusskommentar
Anmerkungen:
1 Agnieszka Halemba, Ethnographic Snapshot: “Europe in the Woods: Reflections on the Situation at the Polish-Belarusian Border”, in: Ethnologia Europaea 52 (2022), Nr. 1, S. 1-13, doi: https://doi.org/10.16995/ee.8525 (09.12.2022).
2 So auch Maren Möhring, Mobilität und Migration in und zwischen Ost und West, in: Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970-2000, Göttingen 2015, S. 369–410, hier S. 372; oder Patrice G. Poutrus, Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart, Berlin 2019, S. 13.
3 Siehe auch das Vorwort von Mary Louise Pratt in: Sarah Kleinmann / Arnika Peselmann / Ira Spieker (Hrsg.), Kontaktzonen und Grenzregionen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Leipzig 2019, S. 7-11.
4 Yvonne Kalinna, Rezension zu: Fluchtpunkt Friedland. Über das Grenzdurchgangslager, 1945 – heute / In: H-Soz-Kult, 12.11.2016, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-130760 (09.12.2022).