Mehr als Desinteresse und Abschottung? Zum Stellenwert des Militärs in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Mehr als Desinteresse und Abschottung? Zum Stellenwert des Militärs in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Organisatoren
Marcus Payk / Jan Stöckmann; Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
PLZ
20095
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
29.09.2022 - 30.09.2022
Von
Timo Walz, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Welche Bedeutung hat die Bundeswehr für die Geschichte der Bundesrepublik? Was können wir über die Entwicklung der bundesrepublikanischen Politik und Gesellschaft lernen, wenn wir uns mit ihrem Militär und ihrem Verhältnis zum Militärischen beschäftigen? Unter dieser übergeordneten Problemstellung brachte ein Workshop an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg Historiker:innen zusammen, die zu Berührungs- und Konfliktpunkten zwischen den Streitkräften und der zivilen Gesellschaft der Bundesrepublik arbeiten. Es sollte somit eine Perspektive eingenommen werden, die anderen Interessen folgt als eine konventionelle Militärgeschichte. Statt sich mit der Geschichte der Bundeswehr nur in einer Binnensicht zu beschäftigen, zielte der Workshop auf den Stellenwert ab, der militärischen Fragen für gesellschaftliche Wandlungsprozesse oder politische Debatten in historischer Sicht zugemessen werden kann. Die Beiträge behandelten hierbei Bereiche wie Bildungspolitik und Geschlechtergeschichte, äußere Sicherheitspolitik sowie die (extreme) Rechte.

MARCUS PAYK (Hamburg) und JAN STÖCKMANN (Hamburg/Berlin) stellten einleitend das zentrale Anliegen des Workshops heraus: Es gehe darum, die Geschichte des Militärischen als Teil einer allgemeinen Geschichte der Bundesrepublik zu betrachten. Sie interessiere, ob es Aspekte in der Geschichte der Bundesrepublik gebe, die sich besser oder nur erklären lassen, wenn das Militär berücksichtigt wird. Die allgemeine Geschichtsschreibung habe es sich einfach gemacht, indem vieles, was mit den Streitkräften zu tun habe, an spezifische Forschungsinstitutionen und an die Militärgeschichtsschreibung ausgelagert worden sei. Auch wegen der Distanz der allgemeinen Zeithistoriker:innen gegenüber dem Militär gebe es, so die Vermutung, nur wenig Forschung zum Militärischen in der bundesdeutschen Gesellschaft. Gleichwohl seien sie nicht die ersten, die nach der Schnittstelle von Gesellschaft und Militär in Bonner und Berliner Republik fragten. Payk und Stöckmann erinnerten beispielsweise an die Forschungen zu personellen Bezügen auf die Wehrmacht, verwiesen auf Beiträge zu den Selbstverständnissen der Bundeswehr sowie zu (spezifisch deutschen) Kriegerkulturen und nannten die Forschungen zu den verschiedenen Anti-Kriegs-Bewegungen und den Mentalitäten der Kriegsheimkehrer.

In seinem Beitrag diskutierte JAKOB SASS (Potsdam) das Verhältnis zwischen Bundeswehr und NPD zu deren Hochphase ab Mitte der 1960er-Jahre. Die NPD habe versucht, sich als „die ‚Soldatenpartei‘“ zu profilieren. Saß zeigte, dass sich zumindest einzelne Soldaten auf übergeordneter Ebene als Parteifunktionäre der Rechtspartei betätigten und laut einer zeitgenössischen Studie zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent der Bundeswehrsoldaten als potentielle NPD-Wähler gelten konnten. Auf öffentliche Kritik an (angeblicher) Nähe zwischen Soldaten und NPD habe die Bundeswehr abwehrend reagiert. Intern sei mit NPD-Aktivisten weitgehend tolerant umgegangen worden. Die NPD habe der Bundeswehr nicht als rechtsradikale Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung gegolten. Das NPD-Wehrprogramm sei für viele rechtskonservative Militärs attraktiv gewesen. Und Soldaten mit NPD-Parteibuch seien nicht als unzuverlässig erschienen, sondern als wehrwillige Kameraden – und das in einer Zeit sinkender Bereitschaft, zur Bundeswehr zu gehen. Das Scheitern der NPD bei der Bundestagswahl 1969 und ihr anschließender Niedergang, aber auch das Auftreten des neuen Bundesverteidigungsministers Helmut Schmidt gegenüber der Truppe und eine Pensionierungswelle trugen laut Saß dazu bei, dass sich die NPD später kaum noch als „Soldatenpartei“ profilieren konnte.

Das Panel zu Wahrnehmungen und Praktiken von (möglichen) Auslandseinsätzen der Bundeswehr eröffnete PATRICK MERZIGER (Gießen) mit einem Vortrag zu den über zweihundert Einsätzen der Bundeswehr vor 1991 im Rahmen der humanitären Hilfe, die heute erstaunlicherweise in Vergessenheit geraten seien. Merziger zeichnete nach, wie die Bundeswehr in den um 1960 beginnenden Einsätzen vorging und wie die Engagements zeitgenössisch wahrgenommen wurden. Dass die Bundeswehr im Ausland agierte, sei einer breiten Öffentlichkeit kaum als fragwürdig erschienen. Die Soldaten hätten als humanitäre Helfer gegolten, die Presse habe Militärflugzeuge als „Engel der Lüfte“ und „Hungerbomber“ gezeichnet. Die Hilfseinsätze sorgten für einen Imagegewinn der Bundeswehr und für Anerkennung bis in militärskeptische politische Milieus. Merziger unterstrich, dass die Auslandseinsätze auch aus einer binnenmilitärischen Perspektive von Vorteil gewesen seien: Material und Soldaten seien für kriegsähnliche Situationen geprüft worden, und die Einsätze hätten wichtige Veränderungen in Bereichen wie Logistik, Weltwissen und Sprachfähigkeit angestoßen.

MARC CHAOUALI (Marburg) sprach in seinem Vortrag über bundesrepublikanische Debatten um Out-of-Area-Einsätze der Bundeswehr und den Wandel der bundesrepublikanischen Streitkräfte von einer Verteidigungsarmee zu einer Einsatzarmee. Chaouali argumentierte, in den Diskussionen um die Out-of-Area-Einsätze schlage sich ein gewandeltes Sicherheitsverständnis nieder, ferner hätten hier politische und mediale Akteure den Streitkräften eine neue Bedeutung zugeschrieben. Heute seien mit der Out-of-Area-Debatte vor allem die Auseinandersetzungen der frühen 1990er-Jahre verbunden. Ähnliche Diskussionen konnte Chaouali jedoch bereits für die 1970er- und 1980er-Jahre nachweisen. Nach dem Beitritt der Bundesrepublik zu den Vereinten Nationen 1973 hätten vorrangig die Fachöffentlichkeit und verschiedene Bundesministerien diskutiert, ob die Bundesrepublik mit eigenen Soldaten an Peacekeeping Operations der UN mitwirken dürfe und inwiefern dies vom Grundgesetz gedeckt wäre. 1980/81, mit dem Beginn des Ersten Golfkriegs, seien diese Debatten unter größerer öffentlicher Beteiligung wiederaufgekocht. Während die Bundesregierung unter Helmut Schmidt eine Beteiligung der Bundeswehr am Persischen Golf für verfassungswidrig gehalten habe, seien in der Öffentlichkeit indes gegenteilige Einschätzungen und Forderungen lautgeworden – Positionen, die ab dem Zweiten Golfkrieg 1990/91 kontinuierlich mehr Zuspruch gewonnen hätten.

CHRISTOPHER MUHLER (Obersulm) widmete seinen Vortrag dem Transformationsprozess der Bundeswehr und den Auslandseinsätzen ab 1989/90. Eine Kultur der Zurückhaltung sei unter der Regierung Kohl von einer „Salami-Taktik“ abgelöst worden, an deren Ende geradezu eine Kultur multilateraler Auslandseinsätze gestanden habe. Als Zäsuren auf dem Weg zur Einsatzarmee benannte Muhler das Streitkräfteurteil 1994, den Kosovo-Konflikt 1998/99 und die Anschläge vom 11. September 2001. Muhler spannte mit seinem Vortrag einen Bogen von zeithistorischen Perspektiven auf die Bundeswehr zu tagespolitischen Diskussionen um den heutigen Zustand der Truppe. Als einzige Kontinuität im Transformationsprozess machte er das Fehlen einer übergeordneten politischen Strategie aus, was zu den bekannten strukturellen Fehlentwicklungen in der Bundeswehr geführt habe.

Die Beiträge des nächsten Panels interessierten sich stärker für kulturgeschichtliche Fragen. FRIEDERIKE BRÜHÖFENER (Rio Grande Valley) entwickelte in ihrem Vortrag geschlechterhistorische Perspektiven auf die Debatten um Soldaten der Bundeswehr im Kalten Krieg. Am Beispiel der Diskussionen um die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und um die Zulassung von Frauen zum Wehrdienst verdeutlichte Brühöfener, dass und wie die Bundeswehr ein Spiegelbild und Resonanzraum gesamtgesellschaftlicher Debatten war. Die Wehrpflicht sei nicht nur aus militär- und sicherheitspolitischen Perspektiven bedeutsam gewesen, sondern gleichfalls für nationale Selbstbilder und insbesondere Männlichkeitsvorstellungen. Dafür spreche die damals weitverbreitete Annahme, der Wehrdienst wirke sich positiv auf die Entwicklung junger Männer aus. Zugleich habe es Zweifel gegeben, ob die jungen Männer der „vaterlosen Gesellschaft“ (Mitscherlich) überhaupt wehrfähig seien. Diese Debatten um die Soldaten seien Teil eines breiten gesellschaftlichen Diskurses um eine „remasculinization“ gewesen. Gegen die Öffnung des Wehrdienstes für Frauen sei auf deren vermeintliche Natur verwiesen worden sowie auf abschreckende Beispiele, namentlich auf Wehrmachthelferinnen im Zweiten Weltkrieg oder „‚Flintenweiber östlicher Prägung‘“. Auch Frauenbewegung und Friedensbewegung hätten die Öffnung des Militärdienstes für Frauen kontrovers diskutiert: Während beispielsweise Alice Schwarzer gefordert habe, für Frauen müssten selbst diese Hürden eingerissen werden, befürchteten andere, die Zulassung von Frauen zu den Streitkräften würde nicht Geschlechtergerechtigkeit befördern, sondern Gewalt gegen Frauen nach sich ziehen.

Der nachfolgende Vortrag betrachtete den Tagungsort des Workshops. Warum es die Universitäten der Bundeswehr gibt, zeigten NIKLAS LENHARD-SCHRAMM (Hamburg) und JAN STÖCKMANN (Hamburg/Berlin) am Beispiel der 1973 als Hochschule der Bundeswehr Hamburg gegründeten Helmut-Schmidt-Universität. Sie diskutierten, welche Bedeutung beim Gründungsprozess einerseits militärisch-praktischen und andererseits stärker gesellschaftlich argumentierenden Überlegungen zukam. Seit Anfang der 1960er-Jahre hätten Akteure aus der Bundeswehr alte Ideen einer akademischen Ausbildung für Offiziere aufgegriffen. Anfangs allein aus einer militärischen Binnenlogik: Das Offiziersstudium sollte die militärisch-technischen Fähigkeiten verbessern. Neben dieses „Effektivitätsargument“ sei zunehmend das „Attraktivitätsargument“ getreten. Demnach habe ein Studienangebot helfen sollen, besseres Personal für die Bundeswehr zu gewinnen. Ab den späten 1960er-Jahren sei ein weiteres Argument hinzugetreten: Verteidigungsminister Helmut Schmidt habe vor allem in der Öffentlichkeit betont, die Soldaten könnten durch ein Hochschulstudium besser in die Gesellschaft integriert werden. Lenhard-Schramm und Stöckmann stellten die These auf, dieses „Integrationsargument“ sei nicht aus rein inhaltlicher Überzeugung geführt worden, sondern auch mit dem Kalkül, Widerstände anderer Ministerien, der Wissenschaftslandschaft und in der politischen Öffentlichkeit zu überwinden. Ab 1970 seien dann die verschiedenen Argumente konvergiert und hätten eine bemerkenswert rasche Gründung bundeswehreigener Hochschulen ermöglicht. Bereits am 1. Oktober 1973 konnten die ersten Offizieranwärter ihr Studium aufnehmen. Dabei sei in Hamburg besonderer Wert auf die Integration in den lokalen Stadt- und Wissenschaftsraum gelegt worden.

In einer abschließenden Stellungnahme rekurrierte JÖRG ECHTERNKAMP (Halle/Potsdam) auf die einleitenden Worte von Stöckmann und Payk, die Geschichte des Militärs stärker mit allgemeingeschichtlichen Forschungen zu verzahnen und die beim Workshop eingenommenen Perspektiven weiterzuverfolgen. Es sei erstens fruchtbar, bei militärgeschichtlichen Themen allgemeingeschichtliche Perspektiven stärker zu berücksichtigen; zweitens könne das Militär als Exemplum für allgemeingeschichtliche Debatten nutzbar gemacht werden. Auch Marcus Payk sah noch einiges historisches Erkenntnispotential in der Frage, welche Bereiche der bundesrepublikanischen Geschichte sich nur unter Einbeziehung der Bundeswehr hinreichend erklären lassen würden. Dies betreffe beispielsweise die Geschichte des rechtskonservativen Milieus oder der äußeren Sicherheitspolitik. Die weitere Diskussion wandte sich ferner der Frage zu, wie sinnvoll eine Trennung zwischen Militärgeschichte und allgemeiner Zeitgeschichte sei und ob es sie überhaupt gebe. Zugunsten der Militärgeschichte wurde auf das nötige Expert:innenwissen verwiesen, welches eine gewisse Hürde darstelle. Gleichwohl wurden auch Einwände dagegen erhoben, die Militärgeschichte zu stark als abweichende und andersgeartete Teildisziplin zu zeichnen. Vielmehr sei sie vielschichtig: Die (gar nicht mehr so) neue Militärgeschichte oder der War-and-Society-Approach interessierten sich im Kern für ganz ähnliche Phänomene wie die allgemeine Geschichte, seien methodisch reflektiert und jedenfalls nicht mit einer Operations- oder Schlachtengeschichte alter Prägung zu vergleichen.

Der Workshop konnte anhand einiger Schlaglichter beispielhaft zeigen, dass historische Forschungen, die die Bundeswehr in den Blick nehmen, auch dazu beitragen können, die bundesrepublikanische Gesellschaft besser zu verstehen. Besonders die übergreifenden Diskussionen und Fragen erwiesen sich als fruchtbar. Unterschied sich die Bundeswehr von anderen Bereichen der Gesellschaft, etwa hinsichtlich hier verbreiteter Geschlechterbilder, der Nähe oder Distanz zu rechten Parteien oder der Einrichtung höherer Bildungseinrichtungen im Jahrzehnt der bundesrepublikanischen Bildungsreform? Kann die Bundeswehr exemplarisch für die gesamte Gesellschaft betrachtet werden, vielleicht sogar als deren Spiegelbild? Welche Bedeutung hatte die nationalsozialistische Vergangenheit, etwa für Auslandseinsätze oder das Bild des idealen Soldaten? Was wären mögliche Erträge eines Vergleichs zu anderen Streitkräften? Auch die These, Debatten in und um die Bundeswehr seien Impulsgeber für allgemeine gesellschaftliche Vorstellungen und insbesondere Geschlechterbilder gewesen, ist für eine breiter interessierte Zeitgeschichte anregend.

Konferenzübersicht:

Marcus Payk (Hamburg)/Jan Stöckmann (Hamburg/Berlin): Begrüßung und Einführung in das Thema

Panel 1: Politische Akteure in einer unpolitischen Institution?

Jakob Saß (Potsdam): Skandale in Uniform: Radikale Rechte und die Bundeswehr (1955–1998)

Panel 2: Nicht nur Landesverteidigung? Entwicklungen in der äußeren Sicherheitspolitik der Bundesrepublik

Patrick Merziger (Gießen): „Engel der Lüfte“? Die Auslandseinsätze der Bundeswehr im Rahmen der humanitären Hilfe 1960–1990

Marc Chaouali (Marburg): „Runter von der Zuschauertribüne“. Die Debatte um Auslandseinsätze vor und nach 1990 zwischen Selbstbeschränkung und neuem außenpolitischen Selbstbewusstsein

Christopher Muhler (Obersulm): Transformation des Scheiterns? Die Auslandseinsatzpolitik der Bundesregierung und der Stellenwert des Militärischen seit der Wiedervereinigung im Spiegel des Streitkräfteurteils 1994

Panel 3: Das Militär als Impulsgeber und Resonanzraum von Wirtschaft und Gesellschaft

Friederike Brühöfener (Rio Grande Valley): Ein Spiegelbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft? Die Bundeswehr im Zeitalter des Kalten Kriegs – Geschlechterhistorische Perspektiven

Niklas Lenhard-Schramm (Hamburg)/Jan Stöckmann (Hamburg/Berlin): Kämpfer oder Denker: Zur Geschichte der Universität der Bundeswehr Hamburg

Jörg Echternkamp (Halle/Potsdam): Bilanz: Debatten und Desiderate einer Zeitgeschichte des Militärischen in der Bundesrepublik

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