Interoperabilität

Organisatoren
Universität Siegen; SFB 1187 „Medien der Kooperation“
PLZ
57072
Ort
Siegen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
08.12.2022 - 09.12.2022
Von
Isabella Willeke, Universität Siegen

Der im Dezember 2022 im Rahmen des SFB „Medien der Kooperation“ veranstaltete Workshop ‚Interoperabilität‘ ging auf die Beobachtung zurück, dass in Disziplinen wie der Politik-, Medien- und Technikgeschichte, der Politikwissenschaft, den Medienwissenschaften und den Ingenieurswissenschaften zwar viel über „Interoperabilität“ gesprochen wird, aber die mit dem Begriff verbundenen Vorstellungen und Konzepte oftmals vage und uneinheitlich bleiben. Ziel der Konferenz war daher, sich „Interoperabilität(en)“ aus verschiedenen Perspektiven zu nähern, um Gemeinsamkeiten und Differenzen zu identifizieren.

In den vier Sektionen des Workshops standen Interoperabilität(en) sowie interoperable Infrastrukturen, historische Praktiken und medienwissenschaftliche Konzepte in den Bereichen der nationalen, öffentlichen und europäischen Verwaltung, des computergesteuerten Datenaustauschs und der Verkehrssteuerung im Mittelpunkt.

Den thematischen Einstieg in den Workshop vollzog GABRIELE SCHABACHER (Mainz), die sich in ihrer Keynote dem Thema Interoperabilität und Standardisierung: Zur Arbeit an Schnittstellen widmete. Hier griff sie das Beispiel des mit dem Begriff der „Industrie 4.0.“ verbundenen Konzepts der „Verwaltungsschalen“ auf, die als digitale Abbilder von physischen Gegenständen, etwa Maschinen, neue Möglichkeiten von Interoperabilität ermöglichen sollen, bei denen die Grenzen von physischen und virtuellen Welten an Bedeutung verlieren. Dabei, so Schabacher, habe das Sprechen über Interoperabilität den Begriff der Standardisierung weitgehend verdrängt. In der anschließenden Diskussion stand die provokante These im Mittelpunkt, inwiefern Interoperabilität als Gegenbegriff zu Kooperation verstanden werden kann.

In der anschließenden Sektion stand(en) die Begriffs- und Praxisgeschichte von Interoperabilität(en) mit vier Impulsvorträgen im Mittelpunkt. Die zentrale Frage war hier, mit welchen Perspektiven verschiedene Disziplinen auf Interoperabilität schauen und welche Differenzen und Gemeinsamkeiten hierbei auftreten. REINHILD KREIS (Siegen) blickte dabei mit einer emotionshistorischen Perspektive auf Technik und materielle Infrastruktur. Sie verwies auf die Unterscheidung zwischen strategischen und gefühlten Gefühlen in Bezug auf Interoperabilität, die sich durch bestimmte Gefühlswörter analysieren ließen, wobei Pfadabhängigkeiten, Nachhaltigkeitsfragen und Versorgungsmodelle eine zentrale Rolle spielen. Anschließend nahm TATJANA SEITZ (Siegen) eine dezidiert ökonomische Perspektive ein und verwies auf aktuelle Debatten um Plattformkonzerne, für die Interoperabilität zentral sei, da sie als Werkzeug für die Organisation von Macht diene und in diesem Fall Reziprozität und Gewinnmaximierung ermögliche. Interoperabilität bei IT und Software aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive thematisierte MARCUS BURKHARDT (Siegen). Er führte das Konzept von vertikalen, horizontalen und transversalen Gaps ein, die mittels Interoperabilität überbrückt oder gar aufgehoben werden können. Den Abschluss der Sektion bildete CHRISTIAN HENRICH-FRANKE (Siegen), der einen Blick auf die historischen Dimensionen von Interoperabilität in Recht und Politik warf. Dabei betonte er, dass die europäische Integration seit den 1970er-Jahren eng mit der Forderung nach Interoperabilität verbunden war. Durch interoperable Infrastrukturen, etwa im Verkehr oder der Telekommunikation, sollten in Europa nationale Differenzen überwunden sowie tarifäre und nichttarifäre Handelshemmnisse im Binnenmarkt abgebaut werden.

Nachdem ausführlich über den Begriff und die Praxisgeschichte von Interoperabilitäten diskutiert wurde, konzentrierte sich die zweite Sektion auf das Feld von interoperablen Infrastrukturen. VEIT DAMM (Siegen) schaute auf Interoperabilität und Kompatibilität als Vision und Ziel der Regulierung des Verkehrswesens in Europa. Als grundlegende Infrastruktur eines einheitlichen Europäischen Wirtschaftsraums sollten die Verkehrssysteme verschiedener Nationen auf Wunsch der Europäischen Gemeinschaft interoperabler werden („verschmelzen“), wie Damm am Beispiel des ab 1974 geplanten einheitlichen europäischen Verkehrsinformationssystems zeigte. Stauwarnungen und Unfallmeldungen sollten auch im grenzüberschreitenden Verkehr ohne Sprachbarrieren verfügbar werden. Trotz Entwicklung digitaler Kodierungsmethoden für den UKW-Rundfunk kam es allerdings, nicht zu einer „Verschmelzung“ der Systeme, sondern nationale und regionale Strukturen blieben, primär aus finanziellen Gründen, unangetastet. Daran anschließend vermittelte LARS BRUNE (Deutsche Bahn) in seinem Vortrag „Interoperabilität im Schienenverkehr: Von der Unmöglichkeit, die Zugbeeinflussung in Europa zu standardisieren (und warum wir es trotzdem versuchen sollten)“ einen praxisnahen Einblick in die alltäglichen Probleme, die Vision eines europaweit durchgängig interoperablen Schienennetzes durch das Europäische Zugsicherungs- und Zugsteuerungssystem (ETCS) zu verwirklichen. In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern europaweit einheitliche Standards für einen interoperablen Schienenverkehr überhaupt notwendig sind und ob dieses Ziel auch durch pragmatische Lösungen, die im jeweiligen lokalen Kontext funktionieren, erreicht werden kann.

Den Abschluss des ersten Tages bildete ein Abendvortrag von THOMAS HAIGH (Siegen/ Milwaukee). Unter dem Titel “Modularity and Interoperability as Building Blocks for Historical Narrative” wies er darauf hin, dass die Interoperabilität von Komponenten eine wesentliche Voraussetzung für den langfristigen Erfolg und die Innovationsfähigkeit des IBM-PCs war. Allerdings stieß die Interoperabilität ausgerechnet beim technisch simplen Gehäuse an seine Grenzen, die erst in den 1990er-Jahren mit neuen, branchenspezifischen Kooperationsmodellen überwunden werden konnten.

Am zweiten Tag lag der Fokus des Workshops auf Interoperable Verwaltungstechniken. Im ersten von drei Vorträgen befasste sich MIRJAM MAYER (Zürich) unter dem Titel Integrierte Systeme und der Wunsch nach Austauschbarkeit. Der Aufbau eines lokalen Netzes im Bundeshaus mit dem Aufbau eines lokalen Computernetzes in der schweizerischen Bundesverwaltung in den 1980er-Jahren. Hier war die Vorstellung von Interoperabilität mit Visionen eines „papierlosen Büros“ verbunden, in dem Computer und Peripheriegeräte verschiedenster Hersteller miteinander Daten austauschen. Im darauffolgenden Vortrag richtete RICKY WICHUM (Zürich) sein Hauptaugenmerk auf die Aushandlungszonen der Interoperabilität. Computerpolitik im Schweizer Föderalismus (ca. 1980). Der ausgeprägte Föderalismus der Schweiz stellte besondere Anforderungen an die Computerisierung und Interoperabilität von Verwaltungspraktiken. Am Beispiel des Austausches von Meldedaten konnte er zeigen, dass Heterogenität und Eigensinn vieler Kommunen sich bremsend auswirkten. Dieser staatsnahe Blick auf Interoperabilität wurde im dritten Vortrag „Automatisierung der Seelen“. Konzeption und Scheitern des „integrierten kirchlichen Informationssystems“ der EKD am Beispiel des Meldewesens von JOHANN MEYER (Leipzig) um eine kirchliche Perspektive erweitert. Im Zentrum dieses Vortrags stand die Computerisierung des Meldewesens der evangelischen Kirche seit den 1960er-Jahren, wobei Fragen des Datenschutzes – anders als im Schweizer Beispiel – von Beginn an eine Rolle gespielt haben. Da der Staat die Kirchensteuer einzog, war die Interoperabilität zwischen staatlicher und kirchlicher Datenverarbeitung zentral, zumal zu Beginn der 1970er-Jahre die Befürchtung im Raum stand, dass die Kirche diese Aufgabe bald selbst würde übernehmen müssen.

In einer anschließenden Abschlussdiskussion stand insbesondere die grundlegende Frage des Workshops im Raum, welche Gemeinsamkeiten und Differenzen von Interoperabilität sich aus den verschiedenen Perspektiven ableiten lassen und wie der Begriff für einen interdisziplinären Dialog fruchtbar gemacht werden kann.

Gemeinsam war vielen Vorträgen darin, dass sie mit dem Begriff der Interoperabilität kein exakt definierter Zustand beschrieben, sondern eine mehr oder weniger vage Zielvorstellung. Darin, so kann vermutet werden, liegt auch eine der Gründe für die Popularität dieses Begriffes. Unterschiedliche Akteure, etwa aus der Politik oder der Wirtschaft, können sich unter dem Schlagwort der Interoperabilität zusammenschließen, wobei die konkrete Umsetzung und Gestaltung von Interoperabilität in der Regel anderen überlassen wird. Anders als ältere, potenziell konkurrierende Begriffe wie Standardisierung, ließ und lässt Interoperabilität dabei (noch) Raum für verbindende, positive Zukunftsvorstellungen.

Die Flexibilität des Interoperabilitätsbegriffes hat auch zur Folge, dass verschiedene Disziplinen den Begriff an ihre jeweiligen Bedürfnisse anpassen, wobei der Begriff oft eine Kopplung von infrastrukturellen Netzen und Systemen und die gegenseitige Austauschbarkeit ihrer Bestandteile an technischen wie territorialen Schnittstellen beschreibt, die die jeweiligen Außengrenzen aufweichen. Interoperabilität ist dabei nicht einfach gegeben, sondern muss aktiv hervorgebracht und erhalten werden. Dies stellt ein andauerndes, komplexes, technisches wie rechtliches Gestaltungsproblem dar, durch das die Kooperation zwischen Netzen und ihren Elementen ermöglicht, erweitert oder auch reduziert werden kann.

Diese Eigenschaften macht die Frage nach Interoperabilität, respektive das Streben danach, auch für zeithistorische Forschungen fruchtbar, beispielsweise zur Geschichte der Computerisierung und der Europäischen Integration. Denn immer dort, wo (System-) Grenzen die historischen Akteure behinderten, wuchs der Wunsch, diese Grenzen zu überwinden, ohne sie notwendigerweise komplett aufzugeben. Dies war etwa im Verkehrs- und Infrastrukturwesen der Fall, in dem sich, mit zunehmender Integration, die existierenden Landesgrenzen als störend erwiesen. Auch in der Datenverarbeitung bremsten, hier mit steigender Computerisierung, die Vielzahl der unterschiedlichen Herstellenden und Systeme die versprochenen und erhofften Effizienzgewinne. Da diese Vielzahl, nicht zuletzt aus Gründen des Wettbewerbs, politisch gewollt war, wurde Interoperabilität zum Hoffnungsträger. Sowohl der Wunsch nach, aber auch die Umstände des Scheiterns von Interoperabilität verraten somit viel über bestehenden Strukturen und das Gefüge von Beharrungskräften und Veränderungswünschen.

Konferenzübersicht:

Keynote
Gabriele Schabacher (Mainz): „Interoperabilität und Standardisierung. Zur Arbeit an Schnittstellen“

Sektion 1: Begriffs- & Praxisgeschichte von Interoperabilität(en)
(Moderation: Matthias Röhr)

Impulsvorträge:
Reinhild Kreis (Siegen): Technik / Materielle Infrastruktur
Tatjana Seitz (Siegen): Ökonomie
Christian Henrich-Franke (Siegen): Recht/Politik
Marcus Burkhardt (Siegen): Software

Sektion 2: Interoperable Infrastrukturen
(Moderation: Christian Henrich-Franke)

Veit Damm (Siegen): Interoperabilität und Kompatibilität als Vision und Ziel der Regulierung des Verkehrswesens in Europa. Das Beispiel der technischen Spezifikationen für Verkehrsinformationssysteme 1975 bis 2000.

Lars Brune (Deutsche Bahn): Interoperabilität im Schienenverkehr. Von der Unmöglichkeit, die Zugbeeinflussung in Europa zu standardisieren (und warum wir es dennoch versuchen sollten).

Abendvortrag
(Moderation: Tatjana Seitz)

Thomas Haigh (Siegen/Milwaukee): Modularity and Interoperability as Building Blocks for Historical Narrative

Sektion 3: Interoperable Verwaltungspraktiken
(Moderation: Matthias Röhr)

Mirjam Mayer (Zürich): Integrierte Systeme und der Wunsch nach Austauschbarkeit. Der Aufbau eines lokalen Netzes im Bundeshaus.

Ricky Wichum (Zürich): Aushandlungszonen der Interoperabilität. Computerpolitik im Schweizer Föderalismus, ca. 1980.

Johann Meyer (Leipzig): „Automatisierung der Seelen“. Konzeption und Scheitern des „integrierten kirchlichen Informationssystems“ der EKD am Beispiel des Meldewesens.

Abschlussdiskussion