Das 18. Jahrhundert darf – nicht allein aufgrund des Erdbebens von Lissabon 1755 – als Wendepunkt in der Beschreibung und Deutung von Extremereignissen gelten. In den Ausläufern der kleinen Eiszeit legen vor allem durch das Wetter verursachte Unglücke und ihre Verschriftlichung Zeugnis von diesem Wandel ab. Der Workshop diente dazu, interdisziplinäre Konzepte und Methoden im Umgang mit Quellen des 18. Jahrhunderts am Beispiel der Kältewinter dieser Zeit (in außergewöhnlichem Maße in den Jahren 1709, 1740, 1783/84) zu erproben. Sind historische Klimaforschung und Umweltgeschichte mittlerweile fest institutionalisierte Teildisziplinen ihrer Fachkulturen, gilt anderes für die Literaturwissenschaften: Noch ist die mediale und schriftliche Tradierung von Katastrophenerinnerung weder in ihrer narrativen noch ideengeschichtlichen Verfasstheit hinreichend erforscht, ihr möglicher Beitrag für eine Unterstützung anderer Disziplinen bleibt schwach. Gerade aufgrund der weiträumigen Ausdehnung der Kältewinter über ganz Europa erscheint dieser Ansatz so ertragreich. Daher war auch der intereuropäische, grenzüberschreitende Wissenstransfer ein zentraler Gegenstand des Workshops.
Anlässlich der erstmaligen Vergabe des Förderpreises für junge Aufklärungsforschung an Anna Axtner-Borsutzky und Joana van de Löcht fand der Workshop im Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) in Halle statt. Ausgelobt wird der Förderpreis vom IZEA gemeinsam mit der Alexander von Humboldt-Professur für Neuzeitliche Schriftkultur und europäischen Wissenstransfer. Mit dem Förderpreis sollen gezielt jüngere Forscherinnen und Forscher angesprochen werden. Gefördert wird ein Workshop-Konzept, das von den Gewinner:innen des Preises organisiert wird.
Nach den Grußworten der Direktorin des IZEA, Elisabeth Décultot (Halle), ging es in der Einführung von ANNA AXTNER-BORSUTZKY (München) und JOANA VAN DE LÖCHT (Münster) um grundlegende Beobachtungen zur Beschreibung und Erfassung von Wetterphänomenen im 18. Jahrhundert. Die zunehmende instrumentelle Messbarkeit des Wetters ermöglichte im Laufe dieses Jahrhunderts vermehrt Zeugnisse zu Extremereignissen. Die Auswirkungen auf die Ökonomie (u.a. in Bezug auf Getreide, Steuern, Ressourcenkontrolle) standen im direkten Verhältnis zu den Wetterverhältnissen. Die Veranstalterinnen wiesen auf literarische Schriften hin, in denen die Ursachensuche für die außergewöhnliche Kälte betrieben wurde, u.a. in Form der Verarbeitung von persönlichen Erfahrungen in autobiographischen Texten. In diversen Medien wurde ein aktiver Austausch von meteorologischem Wissen forciert, wodurch eine Untersuchung von Zeitschriften eine gezielte politische Auswahl zeigen kann.
In der ersten Sektion begann MICHAEL KAHLE (Freiburg i. Br.) mit einem Vortrag über die Winterkälte im 18. Jahrhundert. Die vorgestellte, online zugängliche Datensammlung1 setzt sich aus den zeitgenössischen Schriften seit der frühen Neuzeit zusammen, die Extremwetterphänomene beschreiben – vor allem Chroniken und faktuale Texte werden dabei herangezogen. In der digitalen Datenbank werden die historischen Quellen auf meteorologische Informationen hin ausgewertet. Kahle zeigte anhand der ausgewerteten Daten auf, welche Wirkpfade durch die Extremwinter rekonstruierbar sind. Die längeren Winter verkürzten die Frühlingsphase, was direkte Auswirkungen auf die Landwirtschaft und den Ernteertrag nach sich zog. Die Wirkpfade der außergewöhnlich kalten Winter reichen folglich in die gesellschaftlichen Strukturen hinein. So lassen sich etwa die damaligen neu gegründeten Hilfsorganisationen auf die Wetterereignisse zurückführen.
DOMINIK COLLET (Oslo) ordnete die Extremwinter historisch ein. Neben Quellen, die explizit auf die historischen Umweltverhältnisse Bezug nehmen, werden auch indirekte Zeugnisse ausgewertet, die über den Verlauf von Klimaanomalien Auskunft geben. So sind u.a. die Kindersterblichkeit im Zusammenhang mit der Geburtenrate, die Getreideproduktion und der Holzhandel (Entwicklungen auf dem Finanzmarkt) von Interesse. Für den genannten Zeitraum zeichnete Collet nach, wie die Infrastruktur durch die Kälte beeinflusst wurde. Vor allem Versorgungssysteme müssten darauf ausgelegt werden, die Folgen der Kälte zu kompensieren oder zumindest abzufedern. Wie drastisch die Folgen der Winter waren, ließe sich an den horrenden Opferzahlen von geschätzt einer Million Toten in Mitteleuropa im 18. Jahrhundert ablesen. Die grassierende Not in der Bevölkerung stellte einerseits machtpolitische Herausforderungen an den Staat, habe jedoch andererseits die zeitgleich entstehende Diskussion über Humanität und Armenfürsorge befördert.
DORIS GRUBER (Wien) zeigte die vielfältigen Publikationsorgane auf, in denen der Kältewinter Aufnahme fand. Sie untersuchte, inwiefern sich die Darstellungsformen und die Bewertung des Winters in den Medien unterschieden. Schreibkalender richteten sich an eine diversifizierte Leserschaft und waren zu einem geringen Preis zu erstehen. Witterungsprognosen sowie astronomische und astrologische Angaben sind für die Schreibkalender gattungsspezifisch. Die teureren, jedoch auch deutlich häufiger erscheinenden Zeitungen sind eher am aktuellen Geschehen orientiert. Sie nehmen schwerwiegende Ereignisse und Sensationsmeldungen auf, berichten über die Obrigkeit und deren Maßnahmen, um die Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung zu verbessern. In Flugblättern und -schriften werden die Ereignisse des Kältewinters schließlich empirisch beschrieben. Neben Erklärungsversuchen und Spekulationen über die Gründe für die extreme Kälte wurden zudem Winterchroniken abgedruckt. Kuriositäten, die im Zusammenhang mit dem Kältewinter standen, verbreiteten sich in verschiedenen Sprachen über die Flugschriften in Europa.
ANNE PURSCHWITZ (Halle) verglich die Kältewinter und die hallesche Presse der Jahrgänge 1740 und 1783/84. Sie untersuchte, ob und wie sich die Beschreibung und Rezeption von Kältewintern in den halleschen Zeitungen veränderte. In den Zeitungen von 1740 erfolgt die Berichterstattung über den Kältewinter mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Appellen. Während die „Wöchentliche Hallesche Zeitung“ abergläubische, göttlich und naturwissenschaftliche Erklärungen lieferte und sich dabei auf lokale Ereignisse und Sensationen beschränkte, richtete die „Privilegierte Hallesche Zeitung“ den Blick auf Europa und setzte den Schwerpunkt auf die wirtschaftlichen Folgen. Die „Wöchentlichen Relationen“ enthielten nur wenige Wetterberichte und beschränkten sich auf vereinzelte Sensationsschilderungen. Der Kältewinter von 1783/84 hingegen war in den Zeitungen weniger präsent. Die „Halleschen Anzeigen“ beschrieben vor allem die Missstände unter der Bevölkerung, die durch die Kälte entstanden. Wetterbeobachtungen und eine Form von Witterungslehre lieferte die „Physikalische Zeitung“, die auf Katastrophenbeschreibungen verzichtete. Zusammenfassend nahm die Verwissenschaftlichung bei Wetterbeschreibungen über das 18. Jahrhundert zu, ebenso wie der Aufruf zum Mitleid mit der ärmeren Bevölkerung.
Mit den kulturellen Folgen der Kälte setzte sich die zweite Sektion auseinander. Über den Kältewinter in C. C. L. Hirschfelds Moralischer Wochenschrift „Der Winter“ referierte ANNA AXTNER-BORSUTZKY (München) und stellte damit eine literarische Form vor, die einen Fokus auf die positiven Aspekte des Winters legte. Zu Beginn stellte sie den Optimismus-Bruch im Jahr 1755 heraus, der aus dem verheerenden Erdbeben in Lissabon hervorging. Die skeptizistischen Deutungsmuster von Naturkatastrophen waren sich auch für Hirschfeld relevant, der vor allem für seine „Theorie der Gartenkunst“ bekannt wurde. In seiner Wochenschrift „Der Winter“ traf Hirschfeld Beobachtungen zur Ästhetik in der Natur, die vor allem im Winter ersichtlich seien. Seine physikotheologisch geprägte Argumentation stellte Thesen zum Zusammenhang von Geselligkeit und Armut im Winter auf. Hirschfeld bezeichnete den langen Winter als ein notwendiges Übel, das der Mensch zu ertragen habe. Besonders für Dichter sei diese Zeit jedoch hochzuschätzen, in der sie zur Produktion von Literatur angehalten und befähigt werden.
CHRISTOPH WEBER (North Texas) ging in seinem Vortrag zum „Höhenrauch“ in den Jahren 1783/84 der These nach, dass mit der zunehmend naturwissenschaftlichen Betrachtung der Welt (Wolff) – mit der auch die Entzauberung des Winters und anderer Naturereignisse einherging – kontingente Einzelereignisse in der Natur zu Kausalketten zusammengeführt wurden. Der Wunder- und Aberglaube wurde damit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend rationalisiert, wodurch ein metaphysisch-religiöses Naturverständnis weniger überzeugen konnte. Dadurch wurden verschiedene Extremwetterereignisse, die einer Erklärung bedurften, miteinander in Verbindung gebracht. Dies zeigte Weber am Beispiel des sogenannten Höhenrauchs auf, einem Naturphänomen, das bei einer vulkanischen Eruption bzw. einem Erdbeben entstehe. Dieser Nebel oder Rauch wurde als Indiz und Voraussage für den Kältegrad eines Winters herangezogen. Auch wurden Kältewinter in Verbindung mit nebligen heißen Sommern gebracht, die auf einen solchen Winter obligatorisch folgen müssten. Auffallend war, dass die Theorie über den Höhenrauch nicht flächendeckend gültig, sondern innerhalb Europas lokal beschränkt erscheint.
Den Tag beschloss ERIC ACHERMANN (Münster) mit seinen Überlegungen zum Holzfrevel und der Forstgerichtsbarkeit. Ausgehend von John Lockes’ „Second Theory“ (1690) und Thomas Abbts „Vom Tode für das Vaterland“ (1761) – Texten, die sich mit der Gewaltenteilung und deren Verhältnis zum Wald beschäftigten – folgte eine Analyse von August Ifflands „Die Jäger. Ein ländliches Sittengemälde in fünf Aufzügen“ (1785). Dabei ergab sich die Frage, wer der Verbrecher bei einem Holzfrevel sei und inwiefern kollektive und individuelle Eigentumsvorstellungen am Holzfrevel bzw. an der Forstgerichtbarkeit aufgezeigt werden können. Der von Iffland geschilderte Eingriff in die Natur zeige Unklarheiten bezüglich der Gerichtsbarkeit auf, so werde etwa das Privateigentum mit der Tat des Holzfrevels infrage gestellt.
Die dritte Sektion War winterlichen Künsten gewidmet. Winterdichtung und literarische Produktion rund um diese Gattung im 18. Jahrhundert wurden bisher wenig berücksichtigt.
JOANA VAN DE LÖCHT (Münster) fragte daher nach Entwicklungen in der lyrischen Winterdarstellung, wobei der Fokus auf der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lag. Im Gegensatz zu vielen faktualen Texten erfolgte die Reaktion auf Kältewinter hier nicht zwingend unmittelbar. Auffällig dabei ist die Rezeption von antiken Naturbeschreibungen in der Anakreontik, die in Form von antikisierenden Motiven etwa in Johann Peters Uz’ „Der Winter“ (1755) zu finden sind. Neben der Freude, die der Winter mit sich bringe, und sexualisierten Liebesbildern in Johann Christian Günthers „Lob des Winters“ (1717/18), stellt sich der Winter in Barthold Heinrich Brockes’ „Der Winter“ (1721) als ein Topos dar, der für den natürlichen Kreislauf stehe und gottgegeben sei. Eine neue Form der Winterschilderung wurde durch die Entwicklung von Schreibweisen der Erhabenheit möglich, die in Deutschland dank Übersetzungen der englischen Winter-Lehrdichtung, vor allem von James Thompsons „Winter. A Poem“ (1726), früh einsetzte.
Im Anschluss sprach URS BÜTTNER (Düsseldorf) über den Wandel der Meteopoetik und die Anfänge der Literarischen Meteorologie und Meteopoetologie im 18. Jahrhundert. Büttner stellte den Gegensatz zwischen der literarischen Meteorologie und der physikotheologischen Argumentation an den Anfang seiner Überlegungen, wozu er den Schriftsteller Barthold Heinrich Brockes als Beispiel wählte, der durch seinen Lebenskontext in Hamburg spezifische Naturbeobachtungen dokumentierte und lyrisch verarbeitete. Die Verzeitlichung der Natur eines sich im Laufe des 18. Jahrhunderts verändernden Klimakonzepts hatte Auswirkungen auf meteopoetologische Dichtungsweisen. Naturkundliche Erläuterungen zum Winter emanzipierten sich von den theologischen Erläuterungen, doch ließ sich noch keine endgültige Trennung der beiden Zugriffsweisen auf die Natur erkennen. Doch sei es im Laufe des 18. Jahrhunderts und der Entwicklung der empirischen Wissenschaften zunehmend schwierig, eine übergreifende Ordnung zu erkennen und literarisch umzusetzen.
Eine kunsthistorische Einordnung leistete LENA MÄRZ (Konstanz). Sie untersuchte die Entwicklung und verschiedenen Inhalte der Wintermalerei, die vor allem ein holländisch-flämisches Phänomen war – obwohl die kleine Eiszeit ganz Europa betraf – und sich bis zum Ende des 16. Jahrhunderts bereits als eigene Gattung etabliert hatte. Während im 16. Jahrhundert überwiegend Alltagsbeschäftigungen im Winter sowie Winterlandschaften abgebildet wurden, wandelte sich der Winter im 17. Jahrhundert zu einem Schauplatz der Vergnügung. Diametral entwickelte sich die Verwendung von weißer und schwarzer Farbe, um den Winter darzustellen. So drängte Schwarz als die dominierende Farbe für den Winter das Weiß zurück. Dies zeigte sich etwa in den Winterlandschaften, die im 17. Jahrhundert raue bis trostlose Landschaften abbildeten. Mit Blick auf das 18. Jahrhundert hielt März fest, dass kaum noch Wintermalerei praktiziert wurde.
Zuletzt sprach die Musikwissenschaftlerin ESMA CERKOVNIK (Zürich). Die musikalische Repräsentation von natürlichen Ereignissen sei schon im frühen 18. Jahrhundert zu finden, etwa in personifizierten Winddarstellungen als Bestandteil von Arien. Musikalische Bezüge zum Winter sind allerdings seltener zu finden als zu anderen Wetterphänomenen. Besonders produktiv sei stattdessen die Intonation des Erdbebens als Naturkatastrophe gewesen: Die Erdbeben von 1703 in L’Aquila, die auch in Rom und im Vatikan zu Schäden führten, wurden als Stimme Gottes interpretiert, die auch in weiteren sinnlichen Dimensionen erfahrbar gemacht wurde.
Zum Abschluss der Tagung fand eine intensive Diskussion und Rekapitulation der Beiträge statt. Die interdisziplinäre Ausrichtung war in mehreren Hinsichten erkenntnisreich. Vor allem die über das 18. Jahrhundert zunehmende Auseinandersetzung mit der Bedürftigkeit der ärmeren Bevölkerungsschicht in Extremsituationen und der Aufruf zum Mitgefühl konnte als eine Verbindungslinie herausgearbeitet werden.
Konferenzübersicht:
Elisabeth Décultot (Halle): Grußwort
Joana van de Löcht (Münster) / Anna Axtner-Borsutzky (München): Begrüßung und Eröffnung
Sektion 1: Umweltwissenschaftliche und historische Perspektiven
Moderation: Alexander Kästner (Dresden)
Michael Kahle (Freiburg i. Br.): Winterkälte im 18. Jahrhundert: Verlauf, Extreme und Wirkpfade der Kälte – eine analoge und digitale Spurensuche
Dominik Collet (Oslo): Drei Jahre Winter. Klimakulturen in der Anomalie 1770–1772
Doris Gruber (Wien): Der Kältewinter von 1740 in der zeitgenössischen Druckpublizistik
Anne Purschwitz (Halle): Kältewinter und hallesche Presse (1740 und 1783/84)
Sektion 2: Kulturelle Folgen der Kälte
Moderation: Rebecca Thoss (München)
Anna Axtner-Borsutzky (München): Kältewinter im Journal: C. C. L. Hirschfelds Moralische Wochenschrift „Der Winter“
Christoph Weber (North Texas): „Höhenrauch” in den Jahren 1783/84
Urs Büttner (Düsseldorf): Der Wandel der Meteopoetik und die Anfänge der Literarischen Meteorologie und Meteopoetologie im 18. Jahrhundert
Eric Achermann (Münster): Holzfrevel und Forstgerichtsbarkeit. Kälte, Energieversorgung und Delinquenz
Sektion 3: Winterliche Künste
Moderation: Philipp Schad (Karlsruhe)
Joana van de Löcht (Münster): Zwischen Not und Gemütlichkeit. Zur Entwicklung der Winterdichtung im 18. Jahrhundert
Lena März (Konstanz): „… so weiß wie Schnee“ – Von Entstehung bis Verlust der Winterlandschaften des 17. Jahrhunderts
Esma Cerkovnik (Zürich): Der Klang der Katastrophen. Musikalische Spiegelungen der natürlichen Geschehnisse in Italien am Anfang des 18. Jahrhunderts
Anmerkung:
1 www.tambora.org.