Infrastrukturen für Sozialdaten in der Zeitgeschichte: Vorschläge für eine bessere Zukunft

Infrastrukturen für Sozialdaten in der Zeitgeschichte: Vorschläge für eine bessere Zukunft

Organisatoren
DFG-Projekt „Sozialdaten als Quellen der Zeitgeschichte“
PLZ
61348
Ort
Bad Homburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
21.11.2022 -
Von
Pascal Siegers, Datenarchiv für Sozialwissenschaften, GESIS Leibniz-Insitut für Sozialwissenschaften; Kerstin Brückweh, Berliner Hochschule für Technik

Daten aus sozialwissenschaftlichen Forschungsprozessen und amtlichen Statistiken vergangener Jahrzehnte gewinnen als Quellen der (zeit)geschichtlichen Forschung zunehmend an Bedeutung. Das von der DFG geförderte Projekt „Sozialdaten als Quellen der Zeitgeschichte“ hat seit Anfang 2020 untersucht, welche Unterstützungsbedarfe zeithistorisch Forschende für eine produktive Nutzung qualitativer (v.a. Transkripte, Audio- und Videoaufzeichnungen) oder quantitativer (v.a. Umfragen und Statistiken verschiedenster Herkunft) Sozialdaten benötigen. Im Projekt wurden zunächst eine Bedarfsanalyse publiziert, die begründet, welche Unterstützung den Forschungsprozess erleichtern würde.1 Parallel dazu wurde durch Workshops eruiert, wie die Arbeit mit Sozialdaten zu neuen inhaltlichen Erkenntnissen für die Zeitgeschichte führt.2 Schließlich wurden im Rahmen des DFG-Projektes Vorschläge für konkrete Strukturen zur Verbesserung der Forschung in einem zunächst unveröffentlichten Positionspapier der Projektgruppe formuliert.3

Ziel der Tagung war es, die Vorschläge dieses Positionspapiers mit Vertretern aus der Forschung und des entstehenden Konsortiums für die Geschichtswissenschaften in der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur NFDI4Memory4 zu diskutieren. Denn seit der Antragstellung für das DFG Projekt am 1. August 2018 hat sich das Umfeld für Forschungsdateninfrastrukturen stark verändert. Mit der Gründung der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur im Oktober 2020 wurde ein neuer Rahmen für die Entwicklung und Integration von Forschungsdateninfrastrukturen in Deutschland geschaffen. Die Weiterentwicklung der Vorschläge für eine Forschungsdateninfrastruktur für die zeitgeschichtliche Forschung muss deshalb mindestens auf die neuen NFDI Strukturen in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften Bezug nehmen oder im Optimalfall vollständig integriert sein.

Im Anschluss an eine freundliche Begrüßung durch LUTZ RAPHAEL (Trier, für den Arbeitskreis Sozialdaten und Zeitgeschichte) und ALBRECHT VON KALNEIN für die gastgebende Werner Reimers Stiftung startete die Tagung mit einer kurzen Vorstellung des Positionspapiers der Projektgruppe durch CHRISTINA VON HODENBERG (Deutsches Historisches Institut London) und PASCAL SIEGERS (GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften).

Die Projektgruppe leitet aus ihrer Analyse drei Säulen ab, auf die eine Unterstützungsstruktur ruhen sollte. Flankiert wird diese Struktur durch eine Weiterentwicklung der Regeln für den Umgang mit Sozialdaten – konkret geht es hier um die künftige Sicherung der Sozialdaten durch eine Anbietungspflicht durch Forschende an öffentliche Archive.

Die Bedarfsanalyse des Projektes (vgl. FN 1) zeigte deutlich, dass fehlende Kompetenzen im Umgang mit Sozialdaten den Aufwand der Nutzung stark erhöhen. Gleichzeitig ist die Vermittlung praktischer Fähigkeiten im Datenmanagement und der Datenanalyse nur in Ausnahmefällen in den geschichtswissenschaftlichen Curricula verankert. Gebraucht werden deshalb neue Angebote der Wissens- und Kompetenzvermittlung, die auf die spezifischen historischen Auswertungsformen von Sozialdaten abheben. Die erste Säule sollte deshalb ein Lehr- und Weiterbildungszentrums für zeithistorische Sozialdatenanalyse darstellen, das Angebote zur Vermittlung datenanalytischer Kompetenzen für die Sekundäranalyse qualitativer oder quantitativer Sozialdaten in der Geschichtswissenschaft entwickelt und anbietet.

Ein Informationsportal „Historische Sozialdaten“ könnte die zweite Säule bilden. Ziel ist zeithistorisch Forschende bei der Suche nach geeigneten Daten zu unterstützen, indem Informationen aus der fragmentierten sozialwissenschaftlichen Forschungsdateninfrastruktur zusammengeführt und für die zeithistorische Forschung aufbereitet werden. Dazu gehören auch Informationen zu den Bedingungen des Datenzugangs, die den Vorgaben des Datenschutzes entsprechen müssen. Komplementiert wird das Informationsangebot durch ein Forum für den Austausch über innovative Auswertungsverfahren und problemorientierte Diskussion über Herausforderungen bei der Nutzung von historischen Sozialdaten.

Schließlich bezieht sich eine dritte Säule unter der Überschrift „Forum Ethik und Recht in der Zeitgeschichte“ auf eben diese Aspekte bei der Nachnutzung von Daten, die lange vor den derzeit geltenden rechtlichen Regelungen erhoben wurden. Die Bedarfsanalyse hat gezeigt, dass Forschende derzeit keine Anlaufstelle innerhalb der Geschichtswissenschaft haben, um ihre rechtlichen und ethischen Fragen zu diskutieren. Anders als in anderen Disziplinen fehlen in der Geschichtswissenschaft forschungsethische Leitlinien im Umgang mit Daten und Quellen. Diese dritte Säule soll deshalb die Bildung von Standards unterstützen, zum Beispiel indem ein Code of Conduct für den Umgang mit historischen Sozialdaten erarbeitet wird.

Ein Problem bei der Nutzung historischer Forschungsdaten ist weiterhin, dass viele Daten nicht langfristig bewahrt werden. Trotz eines gestiegenen Bewusstseins für den Wert von Daten gibt es in der Bundesrepublik noch immer keine Verpflichtung, Daten über ein Repositorium oder geeignetes Archiv zu sichern und zu publizieren. Lediglich eine Aufbewahrungspflicht von zehn Jahren lässt sich aus den Regeln für die gute Wissenschaftliche Praxis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ableiten.

Derzeit wird jedoch nicht berücksichtigt, dass Daten aus Forschungsprojekten an Universitäten, Fachhochschulen und außeruniversitären Forschungsinstituten den Archivgesetzen des Bundes und der Länder unterliegen. Archivwürdigkeit wird dort u.a. aus der Bedeutung für die „Erforschung und das Verständnis von Geschichte und Gegenwart“ abgeleitet. Sozialwissenschaftliche Daten sind ein wichtiges Mittel der Selbstbeobachtung der (deutschen) Gesellschaft und daher muss deren Archivwürdigkeit jeweils geprüft werden. Daraus sollte eine Anbietungspflicht für (sozialwissenschaftliche) Forschungsdaten bei Archiven oder Forschungsdatenrepositorien folgen, die den langfristigen Erhalt und die Lesbarkeit der Daten sicherstellen können.

Zum Schluss betonten von Hodenberg und Siegers die Notwendigkeit neue Infrastrukturen für die Zeitgeschichte mit den existierenden Strukturen in den Sozialwissenschaften zu vernetzen und in die zu entstehende NFDI4Memory zu integrieren. Infrastrukturen für die Verwendung von Sozialdaten als Quellen können als Brücke zwischen den Sozial- und Geschichtswissenschaften gedacht und letztendlich auch implementiert werden.

Auf die Vorstellung des Positionspapiers folgte eine kurze Darstellung des Konsortiums NFDI4Memory durch die maßgeblich Verantwortlichen JOHANNES PAULMANN und JOHN WOOD (beide Mainz). Sie erläuterten, dass die Handlungsfelder in NFDI4Memory darauf ausgelegt sind, die Entwicklung einer Datenkultur in den Geschichtswissenschaften voranzubringen, die Data literacy (im Sinne grundlegender Kompetenzen im Umfang mit Daten) zu stärken und Standards für Datenmanagement und Datendokumentationen zu entwickeln. Auch rechtliche und ethische Fragen sind Teil des geplanten Arbeitsprogramms. Das 4Memory Konsortium versteht sich als „Netzwerkinfrastruktur“, die Akteure aus allen Epochen der Geschichtswissenschaft verbindet. Aus den verfügbaren Mitteln können jedoch nicht in großem Umfang technische Dienste für die Erschließung, Bearbeitung und Speicherung von Daten bereitgestellt werden. Das Budget ist zu einem substanziellen Teil jedoch flexibel angelegt, so dass ab 2024 über Inkubatorprojekte in einem wettbewerblichen Verfahren in das Arbeitsprogramm der NFDI4Memory eingebracht werden können. Ein großer Unterschied zu den Konsortien der Sozial- und Sprachwissenschaften wird hier deutlich, weil in den Geschichtswissenschaften keine (Forschungs-)Datenzentren wie beim Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten oder bei CLARIN-DE etabliert sind, müssen die Strukturen für die Aufbereitung und Kuratierung der Daten in den historischen Instituten noch aufgebaut (und finanziert) werden. Obwohl der Rat für Informationsinfrastrukturen die Gründung der NFDI vor allem damit motiviert hatte, stabilere Finanzierungsinstrumente für Dateninfrastrukturen zu entwickeln, ist das in der aktuellen Struktur nicht der Fall. Die Finanzierung der gesamten NFDI-Konsortien ist bis 2028 befristet. Ergänzende Initiativen zur Komplementierung der NFDI Finanzierung sind deshalb notwendig.

Ein wichtiger Aspekt in der Diskussion war die naheliegende Frage, wo Anknüpfungspunkte zwischen den Vorschlägen aus dem DFG-Projekt und dem 4Memory Konsortium existieren. Das war vor allem in den Bereichen Recht und Ethik sowie im Kompetenzaufbau offensichtlich. Lehrformate, die für die Auswertung von Sozialdaten als historische Quellen entwickelt werden, passen gut in das Gesamtkonzept des NFDI Konsortiums.

Gleichzeitig wurde ein verstärkter Dialog mit den Vertretern und Gremien der staatlichen Archive bzw. der Gedächtnisinstitutionen angemahnt, die im Zuge der Digitalisierung ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen wie die Forschung. Gerade die Archive spielen eine große Rolle bei der Frage, wie Daten, die jetzt produziert werden, für die zukünftige Nutzung durch Historiker und Historikerinnen gesichert werden können. Diese Aufgabe geht über eine Anbietungspflicht für sozialwissenschaftliche Daten weit hinaus, weil die Archive ihre Arbeit auf neue Technologien und digitale Objekttypen hin ausrichten müssen.

In diesem Zusammenhang wurden durchaus kritische Stimmen am Positionspapier laut, weil nicht ausreichend thematisiert wird, wie zukünftige Nutzung von Daten im Kontext der Digital Humanities ermöglicht werden soll. Digitale Quellen eröffnen neue Verknüpfungs-, Extraktions-, und Aggregationsmöglichkeiten, die als Ziele der Infrastruktur für die Sozialdaten nicht klar benannt werden.

Dreh- und Angelpunkt aller Diskussionen über bessere Infrastrukturen für Forschungsdaten ist die Möglichkeit einer stabilen Finanzierung, weil die Initiativen eine gewisse Langfristigkeit brauchen, um eine Wirkung zu entfalten. Da die NFDI (zumindest in der ersten Phase) nicht auf Dauer gestellt wird, bleiben die Perspektiven begrenzt.

Das einzige verfügbare langfristige Finanzierungsinstrument für Infrastrukturen in Deutschland sind die strategischen Sondertatbestände, die von den Instituten der Leibniz-Gemeinschaft in einem wettbewerblichen Verfahren beantragt werden können. Voraussetzung dafür ist eine hervorragende strategische Passung zu den Zielen der Institute und deren Bereitschaft einen erheblichen Eigenanteil zu finanzieren. Dieser Weg bedarf einer mittelfristigen Vorbereitung, um Initiativen aus der universitären Forschung aufzugreifen. Deshalb wird die Umsetzung der im Positionspapier vorgeschlagenen Säulen einer Infrastruktur für die Forschung mit historischen Sozialdaten auf projektförmige Anschubfinanzierungen nicht auskommen. Dieser Weg über Stückwerke scheint vor den aktuellen Finanzierungsbedingungen die einzige Möglichkeit.

Verständigen konnten sich die Teilnehmenden darauf, dass die Säulen der Infrastruktur unabhängig voneinander implementiert werden können. Gerade die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Kompetenzbildung und Wissensvermittlung sind dabei besonders wichtig, um die Forschenden in die Lage zu versetzen, Sozialdaten als Quelle im historischen Sinne angemessen zu verwenden.

Im Moment zeigt sich die Situation so, dass die Bedarfe für die Sozialdaten in der zeithistorischen Forschung formuliert sind und zugleich die weitere Entwicklung der Großprojekte (allen voran NFDI4Memory) abgewartet werden muss. In der Zwischenzeit wollen die für das DFG-Projekt Verantwortlichen nicht untätig bleiben, stattdessen setzen sie wie in den vergangenen Jahren im Rahmen des bei der Reimers-Stiftung angesiedelten Arbeitskreises „Sozialdaten in der Zeitgeschichte“ auf das Community Building. Das heißt, auch in der nächsten Zeit soll vor allem die Analyse von Themen zeigen, welche Bedeutung die Sozialdaten für die zeithistorische Forschung haben. Den Anfang wird im Herbst 2023 eine Tagung zur sozialen Ungleichheit machen – auch dann werden in der schon etablierten Form insbesondere Vertreter und Vertreterinnen unterschiedlicher Institutionen und Fachrichtungen zusammentreffen, um die Potentiale der Sozialdaten und ihrer Analyse bestmöglich zu erörtern und zu sichern.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Albrecht von Kalnein (Bad Homburg) / Christina von Hodenberg (London) / Lutz Raphael (Trier)

Christina von Hodenberg / Pascal Siegers (Mannheim): Kurzpräsentation des Positionspapiers „Infrastrukturen für Sozialdaten in der Zeitgeschichte“

Lutz Raphael (Trier) / Johannes Paulmann (Mainz) / John Wood (Mainz): Der Kontext: NFDI4Memory und der Ausbau digitaler Forschungsinfrastrukturen in der Geschichtswissenschaft

Moderation: Christina von Hodenberg
Lutz Raphael: So oder ganz anders? Resümee der Diskussion

Auswertung des Vortages

Nächste Schritte des AK in Sachen Forschungsdateninfrastruktur

Planung der nächsten Workshops: Themen und Methodenfragen

Anmerkungen:
1 Kathrin Zöller u.a., Sozialwissenschaftliche Forschungsdaten als historische Quellen: Welche Infrastrukturbedarfe hat die zeitgeschichtliche Forschung? RatSWD Working Paper 277/2022, Berlin 2022, https://doi.org/10.17620/02671.66.
2 U.a. Themenheft Geschichte und Gesellschaft 48,1 (2022) Sozialdaten als Quellen der Zeitgeschichte.
3 Kerstin Brückweh u.a., Positionspapier zu Infrastrukturen für historische Sozialdaten in der Zeitgeschichte, in: Zenodo, https://doi.org/10.5281/zenodo.7781159 (31.3.2023).
4https://4memory.de/

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts