Chance und Bedrohung – Politische und soziale Kontexte religiöser Optionen (1950-1990)

Chance und Bedrohung – Politische und soziale Kontexte religiöser Optionen (1950-1990)

Organisatoren
DFG-Forschungsgruppe 2973 „Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland. Semantiken, Praktiken, Emotionen in der westdeutschen Gesellschaft 1965-1989/90“ und der Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“
PLZ
97070
Ort
Würzburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
27.02.3023 - 01.03.2023
Von
Melissa Marquart / Carolin Hostert-Hack, Eberhard Karls Universität Tübingen

Was kommt nach dem „katholischen Milieu“, das die Moderne als Bedrohung eigener katholischer Ordnungsvorstellungen empfand? Inwieweit barg das „Katholischsein“ in der westdeutschen Gesellschaft seit den 1960er-Jahren das Potential, zusammen mit den ständigen Säkularisierungsängsten auch jene katholischen Barrikaden zu überwinden, die das Projekt der liberalen Gesellschaft blockiert hatten? Lassen sich „Kipppunkte“ ausmachen, an denen religiöse Optionen zugunsten von Synchronisierungen mit der Moderne gelangen, oder aber erneut als Bedrohung wahrgenommen und in eine neue Richtung zu lenken versucht wurden? Welche Wechselwirkungen mit sozialen und politischen Kontexten spielten dabei eine Rolle? Um diese Kernfragen drehten sich die lebhaften Diskussionen der gemeinsamen Würzburger Tagung der DFG-Forschungsgruppe 2973 „Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland“ und des Tübinger Sonderforschungsbereichs 923 „Bedrohte Ordnungen“.

Der ständige Perspektivwechsel zwischen „top-down“ und „bottom-up“ zog sich dabei wie ein roter Faden durch das methodisch breit aufgespannte Tagungssetting zeitgeschichtlicher und theologischer Forschungsdiskurse: „Globalisierung“, „Ost-West-Konflikt“, „Aufruhr“, „Wertewandel“, „Theologie und Geschichte“, „Rassismus“ und „Geschlecht“. Die Tagung bot mithin multiple Zugänge zu den für die 1960er- bis 1980er-Jahren bestimmenden, teilweise gegenläufigen Dynamiken des „Katholischseins“.

Die Subjektivierung von Glaubensüberzeugungen und moralischen Standards, der Wandel religiöser Autorität, die neue Weise handlungsorientierter religiöser und sozialer Sinnstiftung („doing catholicisms“) und daraus entstehender neuer Rollenbilder, schließlich die neuen Formen und Optionen politischer Partizipation ermöglichende Vernetzung mit der Gesellschaft: „Katholischsein“ in seinen lebensprägenden Erfahrungen wurde zusätzlich generationenbezogen aufgebrochen in einem von SWR-Redakteurin Magdalena Knöller moderierten Zeitzeugen-Gespräch sowie durch die von Ewald Frie (geb. 1961) präsentierte Nahoptik auf den erlebten familiären Wandel der bäuerlichen Lebenswelt im katholischen Münsterland.

Zum Abschluss zog dann CLAUDIA LEPP (München) ein Tagungsresümee aus Sicht der evangelischen kirchlichen Zeitgeschichtsforschung. Alles in allem boten die zehn ausgezeichnet besetzten Podien mit je zwei prägnanten Statements und einem Kurzkommentar hinreichend Stoff für ein eröffnendes Podiumsgespräch und die sich daran anschließende Plenumsdiskussion.

Welche Ergebnisse, Kontroversen und Thesen lassen sich festhalten?

1. Ohne die Wechselwirkungen mit der in den 1960er-Jahren einsetzenden zweite Phase der Globalisierung, das machten die ersten drei Panels (I-III) deutlich, ist das Katholischsein in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht zu verstehen. Unbeschadet der weltumspannenden Bedeutung des Katholizismus und seines römischen Zentrums (JOHN MCGREEVY, Notre Dame) erscheint dabei das Zweite Vatikanische Konzil weniger als globale Bischofsversammlung denn als Transformator transnationaler Öffnungsprozesse, die die ultramontane Homogenisierung der ersten Globalisierungsphase im 19. Jahrhundert aufbrachen (OLAF BLASCHKE, Münster). Die in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie geforderte „Option für die Armen“ und die von einem veränderten Missionsverständnis getragenen Hilfswerke „Misereor“ und „Adveniat“ reflektierten einen fundamentalen religiösen Wandel von der spendenbasierten, auf individuelles Seelenheil zielenden caritativen „Fernstenliebe“ zur Entwicklungshilfe, die auf soziale Gerechtigkeit in der „Dritten Welt“ und handlungsorientierte Änderung der hiesigen (amerikanisch dominierten) Konsumwelt gerichtet war (THOMAS GROßBÖLTING, Hamburg; WOLFGANG HEIN, Hamburg; JOHANNES STOLLHOF, Bad Saulgau) – einschließlich einer entsprechenden persönlichen, auch eine radikal andere Kirche einfordernde Lebensform, wie die international vernetzten Priestersolidaritätsgruppen deutlich machten (SANDRA FRÜHAUF, Hamburg). Die Tasche mit der Aufschrift „Jute statt Plastik“ symbolisierte in der lokalen Erfahrungswelt nicht nur innerkirchliches Protestpotential der neuen Jugendgeneration, sondern war auch die katholisch-ökologische und solidarische Antwort auf den industriellen Strukturbruch, samt der mit ihm einhergehenden, stark empfundenen sozialen Ungleichheiten (KLAUS GESTWA, Tübingen) – somit ein treffliches Beispiel für das, was man als „Kleinarbeiten“ (EWALD FRIE, Tübingen) globaler, politischer und sozialer Strukturveränderungen und der mit ihnen einhergehenden Vergesellschaftung von Religion bezeichnen könnte.

2. Katholiken und ihre sie moralisch zurüstende Kirche sind im 19./20. Jahrhundert nicht gerade als Barrikadenkämpfer bekannt geworden – vereinzelt als „Erstürmer“, eher noch als „Verteidiger“ bedrohter alter Ordnungen. Gleichwohl war ihr Katholischsein auch in den 1960er- bis 1980er-Jahren hineinverwoben in spannungsgeladene politisch-weltanschauliche und soziale Konfliktlagen (Panel VI-VIII). Die daraus erwachsenden Aushandlungsprozesse top-down und bottom-up waren von „Überlappungen“ und „Ungleichzeitigkeiten“ bestimmt, wie die Podien „Ost-West-Konflikt“, „Soziale Konflikte und Aufruhr“ sowie „Soziale Bewegungen – Wertewandel“ erkennen ließen. So greift es zu kurz, die Auflösung des kommunistischen Sowjetimperiums 1989/91 allein als westliche Sieger- und Freiheitsgeschichte einer „Heiligen Allianz“ des US-amerikanischen Präsidenten Reagan und des polnischen Papstes Johannes Paul II. zuzuschreiben (MARIANO BARBATO, Münster; KLAUS GESTWA, Tübingen; GEORG SCHILD, Tübingen). Der katholische Antikommunismus der Päpste bewegte sich – top-down – nach 1945 im Fahrwasser amerikanischer Containment-Politik, während des Konzilsjahrzehnts der langen 1960er-Jahre im Horizont weltweiter Entspannungspolitik und war dabei nie frei von Ambivalenzen und Verstrickungen, wie die Unterdrückung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie im Einklang mit einem ungehemmten Neokapitalismus südamerikanischer Militärdiktaturen erkennen lassen. Bottom-up partizipierten Katholikinnen und Katholiken „im Aufruhr“ an den sozialen Bewegungen und deren Kampf für gesellschaftlichen Wandel und agierten „in Aufruhr“ für oder gegen einen innerkirchlichen Wandel – allerdings nie gewaltsam, sondern in der Regel friedlich (JÖRG NEUHEISER, San Diego). „Ungleichzeitigkeiten“ entstanden, wenn – top-down – Bischöfe in den 1980er-Jahren dazu aufforderten, die vermeintlich in den 1960er-Jahren zerbrochenen Ordnungsvorstellungen kirchlicher Sexualmoral wiederherzustellen, während beispielsweise „vor Ort“ in der Aidshilfe bereits pastoral eigenständige Wege beschritten wurden (FLORIAN BOCK, Bochum; ALINA POTEMPA, Berlin).

Indes tritt innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft der 1960/70er-Jahre die konfliktive Aushandlung religiöser Ordnungsbedrohungen in ihrer Komplexität nirgends deutlicher zutage als in der Auseinandersetzung um die Liberalisierung des Strafrechtsparagraphen 218 (BIRGIT ASCHMANN, Berlin; MONIKA WIENFORT, Potsdam). Der grundlegende soziale Wandel in der Geschlechterzuordnung und der mit ihr verbundenen Rollenzuschreibungen (Hausfrau, berufstätige Mutter, Familie) wurden als Teil eines die tradierten katholischen Normvorstellungen bedrohenden „Wertewandels“ wahrgenommen (BERNHARD DIETZ, Mainz; CHRISTOPHER NEUMAIER, Berlin). Der daraus entstehende Konflikt wurde auf juristischer („Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ der Frau versus „Schutz“ des ungeborenen Lebens) und politischer Ebene („Grundwerte“-Debatte über das Selbstverständnis des säkularen Staates) mit harten Bandagen ausgefochten, moralphilosophisch reflektiert von einem sich ändernden Argumentationsrahmen (theonome versus teleologische Moral).

3. Soll künftig Religionsgeschichte als Zeitgeschichte betrieben werden, muss Theologie als soziale Praxis historisiert werden. Damit ist zugleich und in dynamischer Weise eine Anfrage an die Hermeneutik sowohl der Kirchengeschichtsschreibung als auch ihres dynamischen Verständnisses von „Kirche“ gestellt (Panel IX). Der Auffassung indes, im Licht der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (Art. 62) könne eine mit dem Lehramt korrespondierende Sicht der Theologie auf die jüngste Geschichte als Chance gesehen werden (CHRISTIAN SCHALLER, Regensburg), stehen begründete Zweifel entgegen: Anhand der Entstehungsgeschichte des katholischen Weltkatechismus in den 1980er-Jahren etwa lässt sich zeigen, dass der intendierten Restauration des Kirchenbildes und Stärkung lehramtlicher Autorität eine Bedrohungskommunikation zugrunde lag, die rückblickend die 1960er-Jahre als kirchlichen Traditionsbruch deutete (MICHAEL SEEWALD, Münster).

4. „Doing catholicisms“ zu erforschen bedarf stets der kritischen Reflexion systemischer „Race“-, „Class“- und „Gender“-Machtzusammenhänge von Religion und der Kirche als ordnungsbewahrender Akteurin (Panel X). Sie sind insbesondere in der katholischen Kirche durch die in langer Geschichte verankerten, hierarchischen Strukturen und eine männlich-codierte Geschlechterordnung tief verankert (ASTRID FRANKE, Tübingen). Irreversibel scheinen sie deshalb nicht, sofern sie keinen Traditionsbruch bedeuten. Immerhin ermöglicht die Anerkennung der Menschenrechte während (Enzyklika „Pacem in terris“, 1963) und durch das Zweite Vatikanische Konzil (Gaudium et spes 29: Gleichheit der Person und soziale Gerechtigkeit; Nostra aetate: Anerkennung der nicht-christlichen Religionen; Dignitatis humanae: Religionsfreiheit) eine selbstkritische Revision der eigenen, von schuldhaften Verstrickungen durchwobene Geschichte, z.B. in die Sklaverei (NICOLE PRIESCHING, Paderborn). Die kritische Erinnerung auch der jüngsten Geschichte ist von bleibender Aktualität, wie der den Hierarchien des Arbeitsmarktes folgende Umgang der Kirchen mit ausländischen Arbeitskräften („Gastarbeitern“), mit den gesellschaftlich lange diskriminierten Homosexuellen, insbesondere aber ein kirchengebundenes Frauenbild und katholische Frauenrollen bis in die jüngste Vergangenheit (CLAUDIA LEPP, München; KLAUS GROSSE KRACHT, Hamburg) zeigen.

Mit Claudia Lepp wird man resümieren dürfen, dass die christlichen Kirchen zu den wesentlichen Akteuren gesellschaftlicher Bedrohungskommunikationen und Krisensemantiken zählten: Ihre tradierte religiöse Ordnung sahen sie durch Entwicklungen der Moderne als gefährdet an und suchten die eigenen Reihen – vergeblich – zu schließen. Gegenwarts- und Zukunftsdeutungen nahmen sie unter den Vorzeichen der religiösen Krise wahr – und damit unter anderen als die neuen sozialen Bewegungen. Künftiger kirchlicher Zeitgeschichtsforschung bleibt es aufgegeben, das Katholischsein in seinen verschiedenen Räumen zu untersuchen: auf der Mikro- wie auf der Markroebene und deren wechselseitigen Verschränkungen. Es gilt, den Rückwirkungen gesellschaftlicher Großkonflikte auf diesen Ebenen nachzugehen, und zu beobachten, wann und wie sich Konflikte gesellschaftlichen „Werte“wandels zu kirchlichen Autoritätskonflikten transformierten. Nicht zuletzt ist die Frage zu beantworten, worin sich die konservative „Zeitenwende“ der 1980er-Jahre von der Moderne und der Postmoderne der 1960er- und 1970er-Jahre unterschied. Dabei ist – wie EWALD FRIE (Tübingen) abschließend anmerkte – zu beachten, dass Widersprüche zwischen Entwicklungen der kirchlichen Lehre und den gesellschaftlichen Wirklichkeiten stets der Normalfall waren (und bis heute sind). Interessant sei daher vor allem die Frage, wann welche Widersprüche von den Akteuren als nicht mehr aushaltbar empfunden würden.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Andreas Holzem (Tübingen)

I. Catholicism – A Global History from the French Revolution to Pope Francis
Moderation: Andreas Holzem (Tübingen)

Referent: John McGreevy (Notre Dame)

II. Weltreligion im Umbruch. Transnationale Perspektiven auf das Christentum in der Globalisierung
Moderation: Alexander Buerstedde (Hamburg)

Eingangsstatement: Olaf Blaschke (Münster)

Podium: Olaf Blaschke (Münster), Ewald Frie (Tübingen), Sandra Frühauf (Hamburg)

III. Globalisierung sozial
Moderation: Alexander Buerstedde (Hamburg)

Eingangsstatement: Thomas Großbölting (Hamburg), Wolfgang Hein (Hamburg)

Podium: Thomas Großbölting (Hamburg), Wolfgang Hein (Hamburg), Johannes Stollhof (Bad Saulgau/Sießen)

IV. Keynote Vortrag: Elf Geschwister, die Muttergottes und der Kirchturm, 1950–1980
Moderation: Andreas Holzem (Tübingen)

Referent: Ewald Frie (Tübingen)

V. Podium der Zeitzeugen

Moderation: Magdalena Knöller

Podium: Wilhelm Damberg (Bochum), Christa Nickels (Geilenkirchen), Wolfgang Thierse (Berlin), Bernhard Vogel (Speyer), Agnes Wuckelt (Paderborn)

VI. Ost-West-Konflikt
Moderation: Frank Kleinehagenbrock (Bonn)

Eingangsstatement: Mariano Barbato (Münster), Klaus Gestwa (Tübingen)

Podium: Klaus Gestwa (Tübingen), Georg Schild (Tübingen)

VII. Soziale Konflikte und Aufruhr
Moderation: Joachim Bürkle (Würzburg)

Eingangsstatement: Florian Bock (Bochum), Jörg Neuheiser (San Diego)

Podium: Florian Bock (Bochum), Jörg Neuheiser (San Diego), Alina Potempa (Berlin), Maria Schubert (Bochum)

VIII. Soziale Bewegungen – Wertewandel
Moderation: Benedict Dahm (Münster)

Eingangsstatement: Birgit Aschmann (Berlin), Monika Wienfort (Potsdam)

Podium: Birgit Aschmann (Berlin), Bernhard Dietz (Mainz), Christopher Neumaier (Potsdam), Monika Wienfort (Potsdam)

IX. Theologie und Kirche
Moderation: Michael Pfister (Münster)

Eingangsstatement: Christian Schaller (Regensburg), Michael Seewald (Münster)

Podium: Dominik Burkard (Würzburg), Christian Schaller (Regensburg), Michael Seewald (Münster)

X. Rassismus, Geschlecht und Sexualität
Moderation: Pia Nordblom (Mainz)

Eingangsstatement: Astrid Franke (Tübingen), Nicole Priesching (Paderborn)

Podium: Astrid Franke (Tübingen), Klaus Große Kracht (Hamburg), Claudia Lepp (München), Nicole Priesching (Paderborn)

XI. Abschlussdiskussion – Ausblick

Referentin: Claudia Lepp (München)

Redaktion
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