Im historischen Runtingersaal des Stadtarchivs Regensburg fand die von Rudolf Keller und Luka Ilić organisierte Tagung „Flacius in Regensburg, 1562–1566“ statt. Die Tagung, die coronabedingt nicht wie ursprünglich geplant zum 500. Geburtstag des Matthias Flacius Illyricus stattfinden konnte, wurde durch Begrüßungsworte von Klaus Stiegler, Regionalbischof des Evang.-Luth. Kirchenkreises Regensburg, und Vladimir Duvnjak, Kroatiens Generalkonsul in Bayern, eröffnet. Beide brachten ihre Freude darüber zum Ausdruck, dass der in Regensburg erhaltene Schatz an originaler Überlieferung zur Zeit des Theologen im Rahmen dieser Tagung eine besondere Würdigung erhalten. Vladimir Duvnjak hob darüber hinaus hervor, dass die Bedeutung, die Flacius auch heute noch in der Region um Labin – seinem Geburtsort – hat, durch diese Tagung weitere Bestätigung finden wird.
Den öffentlichen Abendvortrag zur feierlichen Eröffnung der Tagung hielt IRENE DINGEL (Mainz). Sie schlug unter dem Thema „Flacius’ Regensburger Jahre – Bedeutung und Wirkung“ einen großen Bogen und beleuchtete die Impulse, die Flacius in seiner Zeit in Regensburg erhielt und die sein weiteres bewegtes Leben prägten. So hob sie die Pläne für die Einrichtung einer Akademie hervor, die zum Ziel haben sollte, Theologen aus Südosteuropa und aus den österreichischen Erbländern auszubilden und dadurch die Protestanten in der Region zu stärken.
Die erste Sektion beschäftigte sich mit den hermeneutischen Arbeiten des Flacius. WALTER SPARN (Erlangen-Nürnberg) setzte sich mit dem in seinem Vortrag „Die Hermeneutik des Flacius im Kontext der frühneuzeitlichen Entwicklung der Hermeneutik“ mit dem großen hermeneutischen Werk des Flacius, der Clavis Scripturae sacrae auseinander. Er betonte dabei, die Bedeutung dieses Werkes, das trotz der Verdammung der theologischen Lehren des Flacius großen wissenschaftlichen Respekt bis weit ins 18. Jahrhundert hinein genoss. Flacius‘ Clavis hatte die Entwicklungen der frühneuzeitlichen Hermeneutik bereits vollzogen, Fortschritte in der Philologie gemacht und das Verstehen als Aufgabe der Logik angesehen. Zudem war Flacius‘ Hermeneutik weit weniger antisemitisch angelegt, als es bei seinen Zeitgenossen durchaus üblich war.
RUDOLF KELLER (Regensburg) untersuchte in seinem Vortrag „Matthias Flacius, Clavis Scripturae Sacrae (Edition der Ausgabe von 1674)“ ebenfalls die Clavis, legte jedoch den Fokus auf die Rezeption und Übersetzungen des Werkes. Dabei stellte er fest, dass eine genauere inhaltliche Untersuchung der Differenzen der Auflagen nach Flacius‘ Tod ein Desiderat der Forschung ist. Keller nahm besonders die Auflage von 1674 in den Blick, die von Johannes Musaeus besorgt wurde. Gedruckt in Jena, der alten Wirkstatt des Flacius, nahm Museaus an seiner Ausgabe der Clavis einige grundlegende Änderungen vor. So wurden die verwendeten Bibelstellen bearbeitet und der Inhalt umgestellt. Besonders hervor hob Keller jedoch die Erörterung der „falschen“ Erbsündenlehre des Flacius in der Praefatio durch Musaeus, sowie die Kennzeichnung von Stellen mit eben dieser Lehre im Text. Als weiteres Desiderat der Forschung benannte Keller eine angemessene Übersetzung der Clavis.
Die zweite Sektion über Flacius im Altbayrischen Gebiet beleuchtete die von Flacius ausgehenden Einflüsse auf die regionalen Geschehnisse. Der Beitrag von BENEDIKT PILZ rekonstruierte die Ereignisse rund um die Reformation in der Reichsgrafschaft Ortenburg und untersuchte die Aktivitäten der beiden Regensburger Theologen Flacius und Nikolaus Gallus im Zusammenhang mit den Ortenburger Ereignissen. Er konstatierte, dass der Einfluss der beiden Reformatoren größer sei als bisher angenommen. Sie berieten und ermutigten den Grafen in Briefen, außerdem empfahlen sie Prediger, die die Reformation des Gebietes tragen sollten, und unterstützten die Errichtung einer protestantischen Kirchenordnung. Als der bayrische Herzog die Reformation Ortenbergs zu bekämpfen begann, gerieten auch die beiden Regensburger Theologen ins Visier der Untersuchungen, konnten jedoch durch den Rat der Stadt geschützt werden. Pilz führte aus, dass Flacius bis zuletzt habe verhindern wollen, dass der Graf Joachim von Ortenburg die reformatorischen Neuerungen zurücknahm.
KLAUS UNTERBURGER (München) untersuchte die Auseinandersetzung des protestantischen Theologen mit der Gegenreformation. Berührungspunkte ergaben sich dabei vor allem aus den katholischen Bestrebungen, die Kirchengeschichte, wie Flacius und seine Kollegen sie in den „Magdeburger Zenturien“ dargelegt hatten, zu widerlegen. Dabei war Petrus Canisius federführend, der ein Gemeinschaftswerk gegen die Zenturien forderte, womit er schließlich selbst beauftragt wurde. Zuvor jedoch verfassten die Ingolstädter Konrad Braun (1565) und Wilhelm Eisengrein (1564) Gegenschriften. Unterburger legte ausführlich die Grundzüge der katholischen Geschichtsschreibung dar und stellte sie denen der Protestanten gegenüber.
Mit Flacius‘ Aktivitäten als Kirchenhistoriker und Netzwerker setzte sich Sektion drei auseinander. HARALD BOLLBUCK (Göttingen) berichtete über die Apologetik und hohe Politik und betrachtete dafür Flacius’ historische Arbeiten in Regensburg. Insgesamt lassen sich die Arbeiten an fünf historischen Werken der Regensburger Zeit zuordnen. In dieser äußerst produktiven Phase entstanden mehrere Bände der Magdeburger Zenturien. Nach einem Streit mit seinen Coautoren, so konstatiert Bollbuck, sei jedoch ein Einfluss des Flacius bei der Quellenarbeit nicht mehr spürbar. Als besonders wichtiges Werk wurde De translatione Imperii (1566) vorgestellt, in dem Flacius tradierte Mythen dekonstruierte und die kuriale Translationstheorie widerlegte.
Besondere Bedeutung für Flacius – sowohl privat als auch wissenschaftlich und nicht nur während der Regenburger Zeit – hatte der Regensburger Superintendent Nikolaus Gallus. Mit der Verbindung der beiden Männer beschäftigte sich ASTRID SCHWEIGHOFER (Wien). Die beiden Theologen verband eine zweiundzwanzigjährige Freundschaft. Beide verband die Ablehnung des Interims, dennoch gelangte Gallus eigenständig zu seinem Bekenntnis über die Adiaphora, nicht von Flacius‘ Position ausgehend. Schweighofer stellte heraus, dass Gallus kompromissbereiter gewesen sei als Flacius und auf diesen mäßigend eingewirkt habe. Dennoch propagierte er Flacius‘ Pläne zur Errichtung einer Akademie in Regensburg, die als Ausbildungsstätte für Theologen aus den habsburgischen Erblanden dienen sollten. Auch nachdem Flacius Regensburg verlassen musste, blieb Gallus ihm verbunden und schickte seine Söhne zum Studium zu ihm nach Straßburg. Dennoch habe Flacius sich angeblich geweigert, eine Leichenpredigt für Gallus zu schreiben. Hierin, so Schweighofer, lasse sich erkennen, dass die Forschungen noch nicht abgeschlossen seien.
Unter der Überschrift „Kontroversen und Polemiken“ stand die Sektion vier. ROBERT KOLB (St. Louis) verfolgte in seinem Vortrag „Josua Opitz. Flacian Pastor“ eine Biographie, die vom Vorwurf des „Flacianismus“ geprägt war. Kolb untersuchte, welchen Einfluss Flacius, der nie als Pastor fungierte, auf die pastorale Praxis hatte. Er stellte dabei anhand der Analyse einiger Publikationen fest, dass Opitz in lutherischer Tradition stand und konstatierte, die Wittenberger theologische Landschaft sei breiter als es den Anschein habe.
Den letzten Tagungstag eröffnete LUKA ILIĆ (Balzheim/Württemberg) mit seinem Vortrag über „Flacius’ Engagement gegen die reformierten Theologen in Heidelberg und Genf während seiner Regensburger Zeit“. Er stellte vorweg, dass diese Jahre eine der produktivsten Phasen in Flacius‘ Schaffenszeit waren. Mit der „Widerlegung“, gedruckt in Regensburg 1563, wandte sich Flacius gegen das reformierte Verständnis der Sakramente im Heidelberger Katechismus und sah sich dabei als Bewahrer der lutherischen Lehre. Unter einer erweiterten Perspektive widmete sich der Vortrag dann dem Verhältnis zu den Genfer Theologen, das sich mit dem Tod Calvins 1564 wandelte. Mit Calvins Nachfolger Theodor Beza führte Flacius einen offenen Schlagabtausch. Die Regensburger Jahre erweisen sich also für Flacius‘ Beteiligungen an den Auseinandersetzungen mit den reformierten Theologen als grundlegend.
Beschlossen wurde die Sektion durch den Vortrag von DANIEL GEHRT (Erfurt/Gotha) über Bartholomäus Rosinus und die Strategien zu Beilegung des flacianischen Erbsündenstreits in Regensburg. Er widmete sich in seinem Vortrag zunächst der theologischen Ausrichtung des Rosinus, der als strenger Gnesiolutheraner auch Prediger verteidigt hatte, die im Verdacht des Flacianismus standen. Für den Regensburger Rat, der nach Gehrt in diesen Jahren eine Politik vertrat, die als Flacianer Entlassene in Regensburg sammelte, sah Rosinus als ideale Besetzung der vakanten Superintendentur. Dies bestätigte sich in seiner zwölfjährigen Wirkungszeit durch sein diplomatisches aber dennoch standhaftes Vorgehen während des Erbsündenstreits.
Die letzte Sektion widmete sich den Flacius-Beständen in Bibliotheken und Archiven. BERNHARD LÜBBERS (Regensburg) blickte dabei über die Zeit des Flacius hinaus und gab unter der Überschrift „Nach Flacius. Buchbesitz und Lektüren im Regensburg des ausgehenden 16. Jahrhundert“ Einblicke in die Literalität in der Reichsstadt anhand der Bestände der Städtischen Bibliothek, die Ende des 16. Jahrhunderts über einen Bestand von über 1.100 Bänden verfügte, darunter wohl zahlreiche Werke des Flacius. Lübbers verwies aber auch am Beispiel der Bibliothek des Dionysius Schild auf eine rege private Buchkultur.
Zum Abschluss der Tagung und gleichsam als Anknüpfungspunkt für weitere Forschungen stellten IRENE DINGEL (Mainz) und ARMIN KOHNLE (Leipzig) das von der DFG für zunächst drei Jahre bewilligte Projekt „Flacius‘ Briefwechsel. Digital (FBW)“ vor. In dem auf 12 Jahre angelegten Projekt wird die Korrespondenz des Flacius, der ein weitgefasster Begriff von Brief zugrunde liegt, systematisch aufgearbeitet. Die Texte werden editorisch bearbeitet und online zugänglich gemacht werden.
Konferenzübersicht:
Abendvortrag
Irene Dingel (Mainz): Flacius’ Regensburger Jahre – Bedeutung und Wirkung
Sektion I: Die hermeneutischen Arbeiten von Flacius
Walter Sparn (Erlangen-Nürnberg): Der hermeneutische Ansatz von Matthias Flacius im Kontext der Entwicklung moderner Texthermeneutik
Rudolf Keller (Regensburg): Matthias Flacius, Clavis Scripturae Sacrae (Edition der Ausgabe von 1674)
Sektion II: Flacius im Altbayrischen Gebiet
Benedikt Pilz: Matthias Flacius Illyricus und die Reformation in der Reichsgrafschaft Ortenburg
Klaus Unterburger (München): Flacius und die katholische Kontroverstheologie in seiner Regensburger Zeit
Sektion III: Flacius als Kirchenhistoriker und Netzwerker
Harald Bollbuck (Göttingen): Apologetik und hohe Politik. Flacius’ historische Arbeiten in Regensburg
Astrid Schweighofer (Wien): Weggefährten und Freunde: Matthias Flacius Illyricus und Nikolaus Gallus
Sektion IV: Kontroversen und Polemiken
Robert Kolb (St. Louis): Josua Opitz, Flacian Pastor
Luka Ilic (Balzheim/Württemberg): Flacius’ Engagement gegen die reformierten Theologen in Heidelberg und Genf während seiner Regensburger Zeit
Daniel Gehrt (Erfurt/Gotha): Bartholomäus Rosinus und die Nachwirkungen des flacianischen Erbsündenstreits in Regensburg
Sektion V: Flacius-Bestände in Bibliotheken und Archiven
Bernhard Lübbers (Regensburg): Nach Flacius. Buchbesitz und Lektüren im Regensburg des ausgehenden 16. Jahrhunderts
Irene Dingel (Mainz) / Armin Kohnle (Leipzig): Flaciusbriefwechsel. Digital (FBW). Vorstellung des DFG-Projekts