Between Ulm and Jerusalem. Sound and Hearing Cultures in Mutual Perception (500–1500)

Between Ulm and Jerusalem. Sound and Hearing Cultures in Mutual Perception (500–1500)

Organisatoren
Judith I. Haug, Orient-Institut Istanbul; Julia Samp, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen; Margret Scharrer, Universität Bern; Richard Wittmann, Orient-Institut Istanbul
PLZ
34433
Ort
Istanbul
Land
Turkey
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
21.10.2022 - 23.10.2022
Von
Julia Samp, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Da die Auseinandersetzung mit sound und dessen Funktion im Kontext transkultureller Begegnung immer noch ein Desiderat der mittelalterbezogenen Forschung darstellt, rückte die von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagung die Spuren von Wahrnehmungs- und Deutungsprozessen klanglicher Kulturbegegnung im Zeitraum zwischen 500 und 1500 in transregionaler Perspektive in den Fokus. Die „Blickrichtung“ solcher Vorhaben sei – so die Organisatorinnen in ihrer Einführung – bisher meist einseitig vom „Eigenen“ auf das „Fremde“ sowie auf die religiösen Ursprünge kultureller Differenz gerichtet gewesen, sodass die vielschichtige Wechselseitigkeit des klanglichen Transfers in kulturübergreifender Betrachtung außer Acht bleibe. Dazu stelle sich die Frage nach der Angemessenheit gängiger methodischer wie theoretischer Instrumentarien für dessen Erfassung, interdisziplinäre wie multiperspektivische Zugänge seien dazu unumgänglich.

Interdisziplinarität forderte sodann auch NIKOLAS JASPERT (Heidelberg) in seiner Keynote ein. Indem er die für die Tagung zentralen Phänomene – Mobilität, otherness bzw. othering sowie das Auditive – am Beispiel der Begegnung von Christen, Juden und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel als eng verbundene Felder disziplinärer Überschneidung vorstellte, skizzierte er methodische Herausforderungen wie inhaltliche Potentiale der Untersuchung kulturübergreifender Klangbegegnung. Dabei machte er deutlich, dass Klänge nicht nur Differenz markierten oder als hierarchische Ordnungskategorie fungierten, sondern auch Hinweise auf klangliche – teils geduldete, teils sogar gewünschte – Durchmischung auszumachen seien.

Die Sektion zur lateineuropäischen Perspektive eröffnete JULIA SAMP (Aachen); sie verfolgte die im Evagatorium Felix Fabris beschriebenen Aushandlungsprozesse auditiver Ordnungen im Heiligen Land. Jene Kontaktzone sei bisher anders als die Iberische Halbinsel für klangbezogene Fragen kaum beachtet worden. Die „eigene“ Klangproduktion – etwa durch Messen und Gebete vor Ort – diene der (christlichen) Sakralisierung respektive Aneignung des Raumes, während die Deutung „fremder“ Klänge als unerwünscht, als „Lärm“ eine wahrnehmbare Grenze zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ und gleichzeitig die Rechtmäßigkeit religiöser wie territorialer Ansprüche in Zweifel ziehe.

DANIEL JÜTTE (New York) vermaß die bisher nicht systematisch aufgearbeitete Rolle jüdischer Musiker:innen in ihren Gemeinschaften in Italien am Übergang zur Frühen Neuzeit als „kulturelle Mittler:innen“ und ihr damit einhergehendes „kulturelles Kapital“. Im Rahmen der produktiven Interaktion und Kooperation mit Christen eröffneten sich ihnen Möglichkeiten der Grenzüberschreitung zwischen den Gemeinschaften, sie blieben jedoch zwischen den gesellschaftlichen Segmenten gefangen.

Gewissermaßen als „Zwischenspiel“ eröffnete die folgende Lecture Demonstration musikpraktische, -historische und instrumentenkundliche Perspektiven auf klangliche Transferprozesse, deren kulturübergreifende Wege zwischen Zentralasien, Byzanz, dem nordafrikanischen Raum und Europa THILO HIRSCH (Bern), MEHTAP DEMİR (mit TUĞBA GÜLYEŞİL, Istanbul) am Beispiel von Rabāb und Kemenche (kemençe) erläuterten. Während die Instrumente in der Lecture zunächst in ihren historischen und zeitgenössischen Kontexten verortet wurden – sie zählen bis heute zum Instrumentarium Nordafrikas, Zentralasiens und des Balkans –, wurden in der Demonstration Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bauweise, Spieltechniken und Klang erörtert. Während Hirsch auf dem von ihm rekonstruierten Prototyp eines mittelalterlichen Rabāb spielte, präsentierten Demir und Gülyeşil eine Kemenche, wie sie heute in der Türkei geläufig ist. Letztere führte auch die kulturelle Hybridität im Instrumentenbau vor Augen und Ohren, da sie einige Merkmale (wie Stahlsaiten, Feinstimmer) mit modernen „westlichen“ Violininstrumenten teilt.

Die folgende Sektion widmete sich der Wahrnehmung byzantinischer Klangräume. NINA-MARIA WANEK (Wien) stellte mit der Cheironomie einen spezifischen, aber bisher wenig untersuchten Aspekt byzantinisch-christlicher Gesangspraxis vor. Die einen oder mehrere Töne umfassenden Handzeichen und -bewegungen, die in Traktaten und bildlichen Darstellungen des späten Mittelalters vielfältig belegt sind, dienten der Führung und Koordination des Sängerchores, ebenso offenbarten sie ein mnemotechnisches Moment.

Auf Basis einer festzustellenden neuen Offenheit der Byzantinistik für sinnesgeschichtliche Fragen – vor allem nach den Verbindungen der Sinne zu Raum und Zeit, Emotion und Ritual – entwarf KORAY DURAK (Istanbul) ein Panorama arabischer Quellen samt ihrer Perspektive auf die byzantinische Klangwelt. Besonders gesprächig seien Reiseberichte: Zum einen vermerkte er für die Berichte Ibn Baṭṭūṭas (14. Jh.), Ibn al-Wardīs (15. Jh.) und anderer eine Konzentration der Darstellung auf Konstantinopel als ideale orchestrierte Stadt, zum anderen einen deutlichen Unterschied hinsichtlich der Quantität von Sinneseindrücken zwischen den Beschreibungen selbst und nicht selbst vor Ort gewesener Autoren.

Im Anschluss daran wandte sich FLORA KRITIKOU (Athen) einem frühen Beispiel transkonfessionellen musikalischen Synkretismus’ auf Zypern und Kreta zu. Lateinische communiones seien – einschließlich liturgischer Texte und Melodien, Kompositions- und Aufführungstechniken – während des 15. Jahrhunderts in das orthodox-griechische Repertoire übergegangen bzw. in die existierenden byzantinischen Kommunionen integriert worden und erklangen zu zahlreichen Gelegenheiten. Als kulturell-hybride Phänomene stellen jene Repertoires die herkömmlichen Dichotomien orthodox/katholisch und griechisch/lateinisch in Frage.

Einen weiteren Perspektivwechsel vollzog YEHOSHUA FRENKEL (Haifa), der den Klängen im Mamlukensultanat „nachhorchte“. Die zentrale Bedeutung von Klängen im religiösen wie säkularen Bereich verweise darauf, dass klangliche Aspekte die Selbstbilder von Eliten, Institutionen und allgemeiner Öffentlichkeit konstituierten bzw. diese überhaupt erst zum Ausdruck brachten. Dies habe zur Schaffung eines spezifischen urbanen islamischen (Klang-)Raums geführt, dessen sounds wiederum Elemente einer spezifischen islamischen Topographie gewesen seien. EYAD ABUALI (Berlin) verfolgte die Rolle des Auditiven als Teil mystischer Praktiken und meditativer Versenkung im Sufismus. Anhand zeitgenössischer Diskurse charakterisierte er jene Praktiken darüber hinaus als multisensorisch, der Körper insgesamt sei als „Wahrnehmungsorgan“ für sound zu verstehen. Gleichzeitig seien so Autoritätsstrukturen sowie Gruppenzugehörigkeiten – nach innen und außen – etabliert und markiert worden.

Schließlich wandte sich ULAŞ ÖZDEMİR (Istanbul) der anatolischen Tradition der Dichtersänger, speziell der Abdalān-ı Rūm genannten spirituellen Strömung zu und verwies auf deren bedeutsamen und langfristigen Einfluss auf Dichtung, Musik und Performance in dieser Region. Aufgrund ihrer Mobilität hätten die dichtenden Reisenden zur permanenten Neukonstituierung der regionalen Soundscapes beigetragen. Noch heute besitze der Abdalān-ı Rūm hohe Relevanz, wie Özdemir am Video-Beispiel des Musikers und Animationskünstlers Cemal Söyleyen demonstrierte, der Lieder von Kaygusuz Abdal (gest. 1444) zu multimedialen Kunstprojekten ausbaut.

Am Nachmittag hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, im Vespergottesdienst im Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel den byzantinischen Kirchengesang in seinem liturgischen Kontext live zu erleben und im Anschluss mit dem Archon Protopsaltis (erster Kantor des Patriarchats) PANAGIOTIS NEOCHORITIS über die psaltische Kunst, ihre Geschichte, Ausbildungstraditionen sowie ethische Grundsätze ins Gespräch zu kommen.

In der abschließenden Sektion rückten damalige wie heutige (Re-)Konstruktionen und Rezeptionen fremder Klangwelten in Dichtung, Ritual und Musik in den Fokus. MARGRET SCHARRER (Bern) stellte als zentrale Motivation jener Feste, die die Herzöge von Burgund während des 15. Jahrhunderts ausrichteten, die Erfindung einer „fremden“, gleichermaßen faszinierenden und „angsterregenden" Welt heraus. Die Inszenierungen kreierten sinnlich erlebbare Herrscherbilder. Ein zentrales Element dieser „Anderswelten“ war vor allem der Tanz der Moresca, dazu traten Sänger:innen und Instrumentalist:innen in „exotisch-fantastischen“ Kostümen auf; vereinzelt gebe es Hinweise auf „fremde“ Musiker:innen – etwa getaufte „ungläubige“ Perkussionisten –, deren Herkunft und Musik allerdings ungewiss bleibe.

DINKO FABRIS (Matera) beschäftigte sich mit dem Zusammenspiel von Klang und Moral im Kommentar Andrea Matteo Acquavivas zur Schrift De musica des Pseudo-Plutarch (Neapel, 1526). Die Besonderheit des Kommentars zeige sich unter anderem in der Verbindung zeitgenössischer Auffassungen mit neoplatonischen Ideen, die wiederum zu breiten Auseinandersetzungen in der gelehrten Gesellschaft führten. Schließlich setzte sich JUDITH I. HAUG (Istanbul) exemplarisch (Jordi Savall/Hespérion XXI, Doulce Mémoire und La Camera delle Lacrime) mit der (Re-)Konstruktion historischer Soundscapes und interkultureller Klangbegegnungen im Bereich der historischen Aufführungspraxis auseinander. Anhand der Repertoirezusammenstellung, deren Erläuterung bzw. Rechtfertigung problematisierte sie die Mischung schriftlicher Quellen vor allem „westlicher“ Herkunft mit lebendigen, teils nichtschriftlichen Traditionen überwiegend aus dem „nahöstlichen“ und Mittelmeerraum. Notwendig seien weitere Untersuchungen, die sich der Frage nach den evozierten klanglichen Eindrücken von Historizität und Geschichtslosigkeit zuwenden.

Der Abschlusskommentar von JAN-FRIEDRICH MISSFELDER (Basel) war ein Plädoyer für eine gerechtere globale Klanggeschichte, die verschiedene Perspektiven, Sprachen, Methoden und Themen integrieren und miteinander ins Gespräch bringen sollte, um der in den Beiträgen immer wieder deutlich gewordenen Hybridität von (Klang-)Gesellschaften gerecht zu werden. Das Konzept der Tagung habe dies eingelöst und das Potenzial der Untersuchung von kulturübergreifender (Klang-)Begegnung aufgezeigt. Als einen wesentlichen Prozess in gegenseitigen Klangwahrnehmungen unterstrich er Formen des othering. Für zukünftige Forschungen regte er – entsprechend der an Provenienz respektive Sprache der Quellen orientierten Sektionsstruktur der Konferenz – an, die Ausgangspunkte einer Analyse von Klangwahrnehmungen zu überdenken. Deren Erfassung sei damit unmittelbar abhängig von Quellen, zeitgenössischer wie heutiger Übersetzungsleistung und politischen Machstrukturen, denen Klänge und Musik dienten und sich unterordneten.

Konferenzübersicht:

Einführung

Christoph K. Neumann, Richard Wittmann, Julia Samp, Margret Scharrer, Judith I. Haug

Keynote

Nikolas Jaspert (Heidelberg): Mobility – Alterity – Acoustics: The Challenges and Potentials of an Epistemological Area of Intersection

Sources From Latin Europe

Julia Samp (Aachen): I came, I saw, I touched, and I heard?! Felix Fabri’s Pilgrimage as an Auditory Experience

Daniel Jütte (New York): Jews and the Politics of Music in Late Medieval and Early Modern Italy

Focus on Performance

Thilo Hirsch (Bern) / Mehtap Demir (Istanbul): The Skin of the Others: Skin-covered bowed String Instruments between Central Asia and Europe

Byzantine Soundspaces

Nina-Maria Wanek (Vienna): When Gestures Become Music: The Practice of Cheironomy in Byzantine Chant

Koray Durak (Istanbul): Sights and Sounds from the Bilad al-Rum: Representation of the Byzantine World Through the Senses in Medieval Arabic Sources

Flora Kritikou (Athen): The Latin Communions of the Cretan Repertory as a First Evidence of Musical Syncretism in Venetian Crete and Cyprus During the 15th Century

Arabic and Anatolian Perceptions

Yehoshua Frenkel (Haifa): Sonic Expression and Community in Mamluk Cairo

Eyad Abuali (Berlin): Music and Meditation: Sound, Visions, and Belonging in Medieval Sufism

Ulaş Özdemir (Istanbul): Tracing the Sound of Singer-Poets: Reflections on Music, Poetry and Performance in Medieval Anatolia

Besuch des Vespergottesdienstes im Ökumenischen Patriarchat und anschließendes Gespräch mit Archon Protopsaltis Panagiotis Neochoritis

Imaginations of the Other: “Alien” Soundspaces and their Reception in Poetry, Ritual, and Music

Margret Scharrer (Bern): Singing “Hebrews” and “Saracen Giants”: Imaginations of the “Other” in 15th Century Burgundian Court Festivals

Dinko Fabris (Matera): The Renaissance Recovery of Ideas on Sound and Moral Importance of Music in the Pseudo-Plutarch De musica in the Commentary by Andrea Matteo Acquaviva (Naples, 1526)

Judith I. Haug (Istanbul): Travels Reimagined: Modern Reconstructions of Musical Encounters

Jan-Friedrich Missfelder (Basel): Schlusskommentar

Abschlussdiskussion

Redaktion
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Land Veranstaltung
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Englisch
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