Seit seiner Gründung hat sich das Kartengeschichtliche Kolloquium, das bereits zum elften Mal stattfand, zu einem wichtigen Forum für Nachwuchswissenschaftler:innen entwickelt, um laufende Projekte zur Kartographiegeschichte und ihrem Kontext vorzustellen und sich untereinander sowie mit etablierten Forscher:innen auszutauschen und zu vernetzen. Als von besonderem Wert hat sich dessen epochenübergreifender und interdisziplinärer Zuschnitt erwiesen, dem die diesjährigen Vorträge sowohl fachlich-methodologisch als auch mit Blick auf die Untersuchungszeiträume Rechnung trugen. Trotz der Vielfalt der thematisierten Quellen und der an sie herangetragenen Fragestellungen kristallisierten sich bei den Beiträgen zwei übergreifende Themenkomplexe heraus: So standen zum einen Praktiken der Kartenherstellung samt der begleitenden Prozesse, zum anderen die Rezeption und (Um-)Nutzung von Karten im Fokus der Referent:innen.
Zum Auftakt der Vortragsreihe stellte GERDA BRUNNLECHNER (Hagen) eine erste Skizze ihres Projektes zur Rezeption der lateinischen Übersetzungen der „Geographie“ des antiken Geographen und Astronomen Klaudios Ptolamaios (2. Jh. n. Chr.) vor. Die überlieferten Handschriften, Inkunabeln und frühen Drucke sind von einer sowohl den Text selbst als auch die zugehörigen Diagramme und Karten betreffenden Vielgestalt gekennzeichnet. Um diese Vielfalt erfassbar zu machen, schlug Brunnlechner vor, das Werk als flexibles „Medienpaket“ zu verstehen, dessen Anpassungen von seiner Rezeption zeugen. Sie konstatierte, dass die von renommierten Kartenhistoriker:innen betriebene Erforschung der „Geographie“ und ihrer Überlieferungsfülle bislang durch eine Selektion des Materials sei es hinsichtlich bevorzugter Prachthandschriften oder der Anzahl einbezogener Exemplare gekennzeichnet ist. Verschiedene Werkzeuge aus dem Bereich der Digital Humanities, etwa zur Recherche, zur Transkription, zum Codieren und zum Veröffentlichen, sollen künftig ermöglichen, eine deutlich größere Menge von Textzeugen zu analysieren. Ziel des Projekts ist es, einen solchen „Werkzeugkasten“ für die Erschließung großer Corpora zu erproben und die gewonnenen Daten zügig online zu stellen.
SIMON FRANZEN (Tromsø) nahm die kartographische Konstruktion und Imagination Nordeuropas am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit in den Blick. Ziel seines Dissertationsvorhabens ist es, eine „spatial story“ Nordskandinaviens als Wissensraum zu schreiben, wobei die Grundlage seiner Untersuchung ein ca. 200 Karten umfassender Sonderbestand der Bibliothek der Norwegischen Arktischen Universität Tromsø bildet. Forschungsleitend ist die Frage, welche Bedeutung den Karten im Kontext der Konzeption Skandinaviens als geographischem Raum zukam. Wie Franzen betonte, sind diese Kartierungen bis ins 17. Jahrhundert hinein in der Mehrzahl außerhalb Nordeuropas entstanden. Sie zeigen auf, in welch ambivalentem Verhältnis von Nähe und Distanz dieser geographische Raum zum west- und mitteleuropäischen Zentrum der Kartenproduktion stand. Ergänzend beabsichtigt Franzen, in Skandinavien entstandene textuelle Medien des Raumwissens heranzuziehen, um alle Verschränkungen im kartographischen Konstruktionsprozess zu untersuchen. Wie schon Brunnlechner warf Franzen die Frage nach der Nutzbarmachung digitaler Methoden und Forschungstechniken, insbesondere dem Einsatz von GIS, zur Visualisierung und Analyse mittelalterlicher und frühneuzeitlicher räumlicher Wissensbestände auf.
VERENA BUNKUS (Erfurt) betonte in ihrem Vortrag zur deutsch-polnischen Kartographie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die divergierende Einsetzbarkeit von Karten in unterschiedlichen politischen Kontexten als Mittel verschiedener Akteur:innen. Am Beispiel der ab 1896 erschienenen Kartenreihe „Nationalitätenkarte der Provinzen Westpreußen und Posen“ des deutschen Kartographen Paul Langhans (1867–1952) verdeutlichte sie die Zirkulation von Wissen über den „deutschen Osten“ bzw. „den polnischen Westen“ zwischen verschiedenen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Gruppierungen in Deutschland und Polen. So wurden Karten wie der Nationalitätenkarte Argumente nationaler Einheitlichkeit eingeschrieben und im Diskurs über deutsches und polnisches Territorium verwendet. Langhans' Karte entstand ursprünglich unter dem Titel „Die Tätigkeit der Ansiedlungskommission für die Provinzen Westpreußen und Posen“ im Auftrag des Verlages Justus Perthes Gotha, „Karten des Deutschtums“ zu erstellen. Entsprechend wurde die Karte zunächst unter völkisch-nationalistischer Perspektive in Deutschland rezipiert. Nach dem Ersten Weltkrieg spielte sie dann keine Rolle mehr, weil sich die Argumentation bezüglich des deutschen Anspruchs auf westpolnische Gebiete verändert hatte. Eine zweite Karriere erfuhr sie in dieser Zeit, als sich polnische Geographen:innen und Kartographen:innen wie Eugeniusz Romer (1871–1954) mit ihr intensiv auseinandersetzten. Die Rezeption der Karte charakterisierte Bunkus folglich als asymmetrisch.
Die Bedeutung der einzelnen Schritte im kartographischen Herstellungsprozess für die Funktion und die sich ihnen einschreibende Nutzung thematisierte MARIKO JACOBY (Essen) mit ihrem Vortrag über japanische Augenscheinkarten der Edo-Zeit (1603–1868). Wie im frühneuzeitlichen Europa wurden auch in Japan Karten eingesetzt, um in Konflikten über natürliche Ressourcen wie Wälder zu vermitteln, wobei Jacobys Ausführungen Anlass zur weiteren Reflexion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich mit europäischen Augenscheinkarten boten. Wesentliches Charakteristikum der Bemühungen um eine Beilegung dieser Konflikte in Einigungs- und Gerichtsverfahren war in Japan der Kompromiss zwischen den Parteien. Dies spiegelt sich auch in den innerhalb dieser Kontexte angefertigten Karten wider, die zwei Funktionen haben konnten: Zum einen stellten die üblicherweise von den Parteien gemeinsam angefertigten Augenscheinkarten (tachiai-ezu) eine Verhandlungsgrundlage dar. Die Urteils- (saikyo-ezu) und Eignungskarten (sumikuchi-ezu) dienten zum anderen der langfristigen Festigung der getroffenen Vereinbarungen. Diese Funktionen konnten, wie Jacoby deutlich machte, nur durch einen stark reglementierten Herstellungsprozess der Karten garantiert werden. Als wesentlich stellte sie etwa die Herstellung von Neutralität durch die Auswahl des Kartographen und seines Wirkungsortes sowie die Möglichkeit der Überwachung seiner Arbeit heraus. Überklebungen und Stempelungen zeugen zudem von der Zustimmung der Parteien wie auch von der über Jahre weiter andauernden Bearbeitung der Karten, die den Vereinbarungen Bestand gaben.
Den im Rahmen von Konflikten und ihrer Beilegung entstandenen Karten und ihrem Entstehungsprozess widmete sich auch der Abendvortrag von CAMILLE SERCHUK (New Haven, CT). Den Ausgangspunkt ihrer Untersuchung bildete der Grenzkonflikt zwischen dem französischen König Franz II. (1559–1560) und dem spanischen König Philip II. (1556–1598), der sich an französischen Enklaven in der unter habsburgischer Kontrolle stehenden Provinz Artois entzündete. Zu dessen Lösung reisten im Frühjahr 1560 Vertreter der beiden Monarchen sowie zwei lokale Maler, Hugues LeFebvre von spanischer und Zacharie de Celers von französischer Seite engagiert, zu dessen Kartierung ins umstrittene Gebiet. Die daraus entstandenen Lokalkarten, von denen heute noch zwölf überliefert sind, sollten die Grundlage der Einigung zwischen den Konfliktparteien bilden. Im Zentrum des Vortrags stand der in die Materialität der Karten eingeschriebene Entstehungsprozess, an dem keineswegs nur die Maler selbst, sondern auch die Konfliktparteien beteiligt waren. So beeinflussten die Bedürfnisse der Kartenherstellung schon während der Reise die Wahl der lokal verfügbaren und transportablen Farben und somit das Erscheinungsbild dieser Quellen maßgeblich. Gleichzeitig spiegelt sich die Forderung nach der Dauerhaftigkeit der Konfliktlösung in der Wahl des Beschreibstoffes Pergament wider. Anhand der Karten selbst wie auch an ergänzenden Textquellen identifizierte Serchuk drei Entstehungsschritte: erstens das Sehen, bei dem Faktoren wie die Lenkung des Blickes und die Suche nach einem geeigneten Sichtpunkt, nicht aber Vermessungstechniken eine wichtige Rolle spielten, zweitens das Zeichnen, wobei sich die 1560 angefertigten Papierskizzen selbst leider nicht erhalten haben, und erst drittens die eigentliche Kartenproduktion, bei der die Skizzen mithilfe eines Rasters auf Pergament übertragen wurden. Die Maler bedienten sich, wie die Referentin aufzeigen konnte, verschiedener Strategien, um ihre Karten mit der eidlich eingeforderten Objektivität und mit Autorität auszustatten und die Zustimmung und Verifizierung durch die spanischen und französischen Vertreter zu erzielen.
Ein stärker mathematisch geprägter Zugang kennzeichnete KARL SOLCHENBACHs (Luxemburg) Vortrag zu den gedruckten Karten des Rhein-Maas-Moselraumes aus der Zeit vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des Ancien Régime. Ziel seines Promotionsprojektes ist es, einen transnationalen Corpus von etwa 150 Karten aufzubauen und die Beziehungen innerhalb des Corpus über eine genealogische Struktur zu erfassen. Die Grundlage des Vorhabens bildet eine dem Vergleich zugrundeliegende algorithmische Methodik, im Rahmen derer Solchenbach Phänomene der Abhängigkeit und der inhaltlichen Beeinflussung definitorisch zu erfassen und quantifizierbar zu machen beabsichtigt. Er schlug vor, die kartometrische Distanz wie die Anzahl und Schreibweise der Toponyme zu ermitteln, um anhand eines Vergleichs Ähnlichkeiten festzustellen. In der Diskussion kam zudem der Wunsch auf, auch die ästhetische Gestaltung der Karten als Kriterium einzubeziehen. Den analytischen Vergleich ergänzen soll schließlich der Einsatz geschichtswissenschaftlicher Methoden, mit dem die Relationen zwischen Kartograph:innen und Verlagen untersucht werden sollen.
DOMINIK KEYSSNER (Erfurt) beschloss die Tagung mit einem Vortrag, der wiederum die Entstehungsprozesse hinter einem kartographischen Werk, in diesem Fall dem „Großen Weltatlas“ (1968) des VEB Hermann Haack, in den Fokus nahm. Geleitet waren seine Ausführungen von der Frage, inwieweit der Atlas dem Anspruch als Grundlagenwerk, mit dem auch international neue Maßstäbe gesetzt werden sollten, gerecht werden konnte. Die Neugründung des kartographischen Verlages Justus Perthes Gotha 1953 als volkseigenem Betrieb führte zu einer Neuverortung seines Schaffens unter veränderten politischen Gegebenheiten. Der „Große Weltatlas“ stellt in diesem Kontext das Ergebnis langjähriger Bemühungen dar, einen Weltatlas für eine breite Rezipientengruppe zu schaffen. Er sollte der Vermittlung spezifischer Weltbilder dienen und als Beispiel für einen sozialistischen Internationalismus von imperialistischen und revisionistischen Narrativen bereinigt sein. Um dieses Ziel zu erreichen, erarbeitete eine Vielzahl von Akteur:innen unter Bezugnahme auf Referenzwerke und im internationalen Austausch Richtlinien für die verwendeten Zeichen und Toponyme. Als determinierender Faktor ist aber, wie anschließend erörtert wurde, neben den fachlichen und ideologischen Ansprüchen auch der Aspekt der Ressourcenknappheit zu berücksichtigen. Als Ergebnis wurde mit dem „Großen Weltatlas“, wie Keyßner schlussfolgerte, tatsächlich das Fundament für die weitere kartographische Produktion der DDR gelegt.
Die in unterschiedlichen Disziplinen und Epochen verorteten Beiträge boten somit wechselseitige Anknüpfungspunkte und übergreifende Themen, die vom Wert des Veranstaltungskonzeptes zeugten. Intensiv diskutiert wurden beispielsweise die Potenziale und Grenzen der Digital Humanities. Vergleichsmöglichkeiten ergaben sich zudem bei den Strategien der Kartenproduzent:innen, die sicherstellen sollten, dass die Darstellung – etwa im Falle der japanischen wie europäischen Augenscheinkarten – zur Funktionserfüllung als objektiv und neutral wahrgenommen wurde. Auch die Arbeiten am „Großen Weltatlas“ zeugen vom Ringen der an seiner Genese Beteiligten, den Karten eine politische Wahrheit einzuschreiben und zugleich international Beachtung und Akzeptanz zu erzielen, während das zugrundeliegende Datenmaterials in Paul Langhans' „Nationalitätenkarte“ offensichtlich bewusst manipuliert wurde. Gegen Ende des Workshops war man sich darüber einig, dass das Format, laufende kartographiegeschichtliche Projekte und Qualifikationsarbeiten vorzustellen, wieder einmal zu einem regen Austausch an Ideen und Diskussionen geführt hatte. Vielversprechend war auch die Zusammenschau mit den aktuellen Forschungen einer etablierten Forscherin zur Kartenproduktion. So soll das 12. Kartengeschichtliche Kolloquium in nur leicht verändertem Zuschnitt unbedingt im Mai 2024 stattfinden.
Konferenzübersicht:
Sektion I
Moderation: Ingrid Baumgärtner (Kassel)
Gerda Brunnlechner (Hagen): Die lateinische Geographie des Ptolemaios – Flexibilität eines festen Medienpakets. Erste Projektskizze
Mariko Jacoby (Essen): In Farbe festgehaltene Kompromisse? Augenscheinkarten von Waldgrenzstreitigkeiten im Japan der Edo-Zeit (1603–1868)
Sektion II
Moderation: Christoph Mauntel (München)
Simon Franzen (Tromsø): Karten als Medium der Konstruktion und Imagination Nordeuropas während des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit [digital]
Camille Serchuk (New Haven, CT): Late Medieval and Early Modern Local Maps: Theory and Practice. Mapping French Enclaves in Artois, 1560
Sektion III.1
Moderation: Martina Stercken (Zürich)
Karl Solchenbach (Luxemburg): Analyse historischer Altkarten des Rhein-Maas-Moselraums vom frühen 16. Jhd. bis zum Ende des Ancien Regimes
Verena Bunkus (Erfurt): Deutscher Osten, polnischer Westen. Deutschpolnische Kartographie und geographisches Wissen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Sektion III.2
Moderation: Nils Bennemann (Essen)
Dominic Keyßner (Erfurt): Ein Grundlagenwerk der DDR-Kartographie? Der „Große Weltatlas“ (1968) des VEB Hermann Haack